Naturwissenschaftliche Raum- und Zeitbegriffe im 17. und 18. Jahrhundert

Naturwissenschaftliche Raum- und Zeitbegriffe im 17. und 18. Jahrhundert

Organisatoren
Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit; Institut für Geschichte der Naturwissenschaften (J.W.Goethe-Universität); Physikalischer Verein, Frankfurt am Main; gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.09.2005 - 28.09.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Frank Linhard, Frankfurt am Main; Peter Eisenhardt, Frankfurt am Main; Rainer Zimmermann, München/Kassel/Cambridge

Am 27. und 28. September 2005 tagten Historiker und Philosophen der Mathematik und Naturwissenschaften in Frankfurt a.M. im Gebäude des Physikalischen Vereins. Eine Besonderheit des Internationalen Symposiums war der Dialog mit Vertretern der aktuellen Grundlagendebatte der Basiswissenschaft Physik. In zwölf Vorträgen wurden an zwei Tagen Raum- und Zeitkonzeptionen bedeutender Naturphilosophen der letzten 400 Jahre vorgestellt. Naturwissenschaftshistoriker rekonstruierten die Entwürfe von Giordano Bruno, Marin Mersenne, René Descartes, Otto von Guericke, Baruch Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz, Isaac Newton und Leonhard Euler, während Grundlagentheoretiker der Physik einen Überblick über eigene Konzeptionen mit einem systematischen Anschluss an die Denktraditionen vorführten. Die Tagung wurde von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert sowie vom Förderverein des Frankfurter Institutes für Geschichte der Naturwissenschaften "Arbor Scientiarum" und dem Physikalischen Verein finanziell unterstützt.

Der Direktor des Zentrums zur Erforschung der Frühen Neuzeit der Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe-Universität Klaus Reichert wies in seiner Eröffnungsansprache bereits darauf hin, aus welch vielfältigen Quellen die Raum- und Zeitkonzepte des 17. Jahrhunderts gespeist wurden, insbesondere hob er hierbei die christliche Kabbalah hervor. Einflüsse des von Reichert erwähnten Cambridger Platonisten Henry More auf die Konzeption des absoluten Raumes bei Isaac Newton kamen in den Vorträgen zu Newton und Leibniz erneut zur Sprache. Während Newton Raum und Zeit als absolute, von den Dingen unabhängige Größen einführte, lieferte Gottfried Wilhelm Leibniz einen Gegenentwurf, der genau diese Größen als relational begreift. Raum und Zeit sind dann akzidentielle Größen oder bloße Phänomene des wirklich Seienden. Newtons Auffassung war philosophiegeschichtlich vor allem für Kant von Bedeutung, in der Naturphilosophie und Physik durchlief sie einen Bedeutungswandel, der schließlich zum Ende des 19. Jahrhunderts die Absolutheit gänzlich in Frage stellte und über Entwürfe von Ernst Mach und Albert Einstein schließlich zu einem Relationalismus im Leibnizschen Sinne führte, wie die Übersichtsvorträge der Grundlagentheoretiker zeigten. Entsprechend gehen moderne Theorien davon aus, dass Raum und Zeit phänomenal sind, ihnen also keine wirkliche Existenz zukommt.

Das veranstaltende Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit, dass es sich zum Ziel gesetzt hat, die Relevanz frühneuzeitlicher Konzeptionen für aktuelle Diskussionen aufzuzeigen, hat einen solchen langfristigen ideengeschichtlichen Entwicklungsverlauf hier erstmals im Bereich exakter Naturwissenschaft vorgeführt.

Die Eröffnungssektion beleuchtete im Vortrag von Daniele Cozzoli (Barcelona) die optische Theorie Marin Mersennes. Diese ist ein Versuch, die Auffassung des Aristoteles, nach der Licht die Eigenschaft eines Mediums ist und es keine Bewegung ausführt, vielmehr instantan propagiert, mit der neuen Auffassung, wie sie beispielsweise von Kepler vertreten wurde, zusammen zu bringen, nach der ein Lichtstrahl nichts anderes als die Bewegung des Lichtes ist. Mersenne akzeptierte Descartes' Brechungsgesetz, erklärte es aber im Rahmen der Theorie von Hobbes. Nach Mersenne propagiert Licht instantan von einer Quelle aus, aber die Bewegung nimmt proportional zum durchmessenen Raum ab. In Vortrag und Diskussion wurde deutlich, dass eine Theorie des Lichtes oder eine Optik immer auch Annahmen über den Raum impliziert. Die Frage nach instantaner oder zeitlicher Ausbreitung hängt wiederum eng mit der Auffassung zur Beschaffenheit des Lichtes zusammen, nämlich mit dem korpuskularen oder nicht-korpuskularen Charakter.

Helen Hattab (Houston) ging in ihrem Vortrag auf die Details der Descarteschen Zeitauffassung ein. Bezüglich dieser Frage haben sich in der Descartesforschung zwei Lesarten etabliert. Die eine geht davon aus, daß die Descartesschen Zeitmomente unteilbare, aber kontiguente Augenblicke sind, während die andere von einem Kontinuum der Descarteschen Zeit ausgeht, so dass er, wenn er von Augenblicken oder Momenten in der Zeit spricht, Abschnitte meint und keine unteilbaren Teile. Helen Hattab zeigte, dass Descartes offenbar von spätscholastischen Kommentaren und Lehrbüchern beeinflusst war, in denen theologische Fragestellungen die Argumentationsrichtung bestimmten. Insbesondere die fortgesetzte Existenz der Substanz durch Gottes Willen diese zu erhalten, findet hier ihren Ursprung.

Eberhard Knobloch (Berlin) zeigte in seinem Vortrag über Raum, Gott und Kräfte bei Otto von Guericke, dass der Magdeburger Bürgermeister durchaus in eine naturphilosophische Tradition eingebunden war, deren Raumbegriff eine Identifikation mit Gott vorsieht. Der Atheismusverdacht gegen Anhänger des Vakuums - im Sinne eines gottlosen Raumes - ist eine im 17. Jahrhundert häufig vorgebrachte Anschuldigung. Knobloch erhellte, dass von Guericke in der Tradition von Cusanus und Athanasius Kirchner stand, seine Naturphilosophie somit durchaus in einen inhaltlichen Kontext eingebunden ist und nicht die eines autodidaktischen Ingenieurs war.

Im Vortrag von Frank Linhard (Frankfurt a.M.) wurde sowohl auf Aspekte des Newtonschen als auch des Leibnizschen Raumbegriffes eingegangen. Im ersten Teil wies er darauf hin, dass das im Briefwechsel mit DesBosses auftretende "vinculum substantiale" möglicherweise als separat neben den Leibnizschen individuellen Substanzen figurierendes substanzielles Relatum für den Leibnizschen Raumbegriff zu verstehen ist. Damit wäre der Leibnizsche Raum durch mehr Klassen von substanziellen Entitäten geprägt, als bisher angenommen. Der zweite Teil thematisierte den gegen Newton bereits 1714 erhobenen Vorwurf, seine Raumauffassung wäre durch das hylarchische Prinzip Henry Mores geprägt. Dieser Vorwurf schließt sich an die Diskussion der "occult qualities" im Newtonschen Weltbild an, die Frage nach dem Status der Kräfte im absoluten Raum seines Entwurfes. Es wurde darauf hingewiesen, dass Newton hier auch zusätzliche nicht-mechanisch erklärte Entitäten annahm.

Rainer Zimmermann (München / Kassel / Cambridge) schloss den ersten Tag mit einem Vortrag ab, der die Frage nach einer konkreten Beziehung zwischen der physikalischen Welt, wie wir sie beobachten, und ihrer Grundlegung, wie sie erstmals in der Philosophie Spinozas diskutiert wurde, thematisierte. Zimmermann ging auf Spin-Netzwerke ein, die als anscheinend fundamentale Konzepte beispielsweise in der Loop-Quantengravitation im Sinne von Smolin und Rovelli verwendet werden. Er untersuchte die Frage, ob sie etwas über die Quantisierung von Raum und Zeit mitteilen können, insofern sie selbst mehr zur Welt gehören als zu ihrer Grundlegung (oder Substanz). Tatsächlich können sie als die Begrenzung von beidem visualisiert werden. Dies kann für die Entscheidung über die Fundamentalität von Konzepten wie Raum, Zeit und Kausalität von heuristischem Wert sein. Damit wären die letzteren bloße Artefakte des menschlichen Denkens und gehörten nicht zur Realität der Welt.

Der zweite Tag begann mit einer Sektion zu den Grundlagen der Physik. Eine aktuelle Problematik in der Grundlagendebatte ist die Hintergrundunabhängigkeit fundamentaler Theorien. So sind alle Stringtheorien hintergrundabhängig, während die Loop-Theorien der Quantengravitation unabhängig formulierbar sind. Strukturell ist das die Frage nach einem absoluten Raum im Newtonschen oder einem relationalen Raum im Leibnizschen Sinne. Entsprechend gibt es hier eine unmittelbare Verbindung zwischen moderner systematischer Debatte und der historischen Fragestellung des Symposiums.

Im ersten Vortrag der Sektion zeigte Thomas Görnitz (Frankfurt am Main), dass die Dreidimensionalität des physikalischen Raumes kombinatorisch aus Ja-Nein-Alternativen ableitbar ist. Diese Alternativen werden in der Theorie Carl Friedrich von Weizsäckers als "Ure" und in der Quanteninformationstheorie als "Qubits" bezeichnet. Görnitz verdeutlichte in seinem Vortrag, dass diese "Qubits" die formale Grundlage für ein "Auffalten" des dreidimensionalen physikalischen Erfahrungsraumes darstellen können. Eine solche Konstitution aus binären Alternativen ist rein relational und damit hintergrundunabhängig.

Auch Julian Barbour (Oxford) sprach sich klar für ein relationales Raumkonzept aus, dass die Hintergrundunabhängigkeit seines Ansatzes gewährleistet. Basierend auf der Philosophie von Leibniz und am Zugang Ernst Machs orientiert, werden Raum und Zeit als physikalische Größen verstanden, die im wesentlichen aus einer statisch zeitlosen Grundlegung der Welt abgeleitet werden, die in der Terminologie des Hilbertraumes angesiedelt ist. Diesen Entwurf visualisiert Barbour auf der Basis einer explizit relationalen Konzeption.

Claus Kiefer (Köln) ging unmittelbar auf Barbours Konzeption ein und untersuchte die systematischen Probleme des Zeitbegriffs, mit denen die Physik bei der Erstellung einer Quantengravitationstheorie zu kämpfen hat. Dabei ging er auch auf die historischen Wurzeln dieser Probleme ein. Die Quantentheorie setzt eine Art "absolute" klassische externe Zeit voraus, während die allgemeine Relativitätstheorie einen eher relationalen inhärent dynamischen Zeitbegriff beinhaltet, der mit Einschränkungen hintergrundunabhängig ist. Kiefer zeigte, wie die kanonische Quantisierung diese Problematik zu lösen versucht, indem sie eine neue hintergrundunabhängige eindeutige Zeit aus einer zentralen Gleichung ohne Zeitparameter durch Approximationsmethoden ableitet. Er machte darauf aufmerksam, dass die Stringtheorie immer noch im wesentlichen hintergrundabhängig formuliert ist.

Die vierte und letzte Sektion war wieder stärker historisch-philosophisch geprägt und spannte den Bogen von Giordano Bruno über Isaac Newton und Leonhard Euler in die Moderne.

Anne Eusterschulte (Berlin) führte aus, dass Giordano Bruno durch seine Konzeption einer konkreten Unendlichkeit koexistierender Welten, auf Welten im Rahmen von Raum und Zeit wie wir sie heute kennen, verweist. Damit unterscheidet er sich von dem was Spinoza im Rahmen seines Viele-Welten-Modells beschreibt, das auf der Unendlichkeit der Attribute von Substanzen basiert. Darüberhinaus zeigte Eusterschulte, dass explizite Konzepte eines holistischen Weltbildes und einer intrinsischen Harmonie die Spezifika des Brunoschen Zuganges charakterisieren.

Helmut Pulte (Bochum) wies in seinem Vortrag darauf hin, dass Leonhard Euler ein wichtiger zwischen Newton und Kant vermittelnder Naturphilosoph war. Eulers Leistung bestand nicht nur in der technischen Weiterentwicklung der Mechanik einerseits und in populärphilosophischen Reflexionen andererseits. Euler setzte einen Begründungswandel der mathematischen Physik im Sinne einer Modernisierung des Wissenschaftsprozesses in Gang, der insbesondere die zentralen Begriffe von Raum und Zeit aus metaphysischen Bindungen und Begründungen - wie sie etwa bei Newton vorlagen - löste und damit der rationalen Mechanik eine Autonomie verschaffte, welche überhaupt erst eine fruchtbare philosophische Debatte über den Status ihrer Axiome ermöglichte. Pulte legte genau dar, welche Rolle die Eulersche Raum- und Zeittheorie für die Kantische Auffassung von Raum und Zeit als "empirisch real und transzendental ideal" spielte und auf welche Weise sie einen begrifflichen Rahmen aufspannte, in dem der ontologische oder erkenntnistheoretische Aspekt von Raum und Zeit erst analysiert werden konnte.

Dana Jalobeanu (Arad, Rumänien) thematisierte die Motivation für einen absoluten Raum in Newtons Weltkonzeption. Es wurde die These vertreten, dass das Raumkonzept für die Definition physikalischer Körper in Newtons System erforderlich ist. Auf der Basis von Newtons frühen Schriften zeichnete Jalobeanu die Konstruktion der Newtonschen physikalischen Welt aus Objekten reiner Form, die durch die Wechselwirkung mit Widerstandsfähigkeit, respektive Trägheit, versehen werden, nach. Damit entsteht eine "physikalische Geometrie", deren Objekte reale Formen in einem absoluten Raum sind. Aus einer solchen Welt kann der absolute Raum nicht mehr als "metaphysischer Overhead" weggedacht werden.

Peter Eisenhardt (Frankfurt am Main) stellte dar, wie die Quantenkosmologie und in einem gewissen Sinn auch eine Quantengravitationstheorie den Begriff einer "zeitlosen Bewegung" voraussetzen muß. Hier liegen zwei Annahmen zugrunde: Die Raum-Zeit ist nicht grundlegend, aber Bewegung ist fundamental. Er bettete diese These in einen historischen Zusammenhang ein, indem er auf Platon, Leibniz, Peirce und J. Volkelt einging, der den Begriff einer zeitlosen Bewegung als erster explizit einführte und analysierte.

Am Ende des zweiten Tages wurde spätestens in der Abschlussdiskussion deutlich, dass der intendierte Anspruch einer gegenseitigen Befruchtung der systematischen und der historischen Sichtweisen auf die Konzeptionen von Raum und Zeit eingelöst werden konnte. Insbesondere zeigte sich, dass die Themata Relationalität und Substanzialität, Kontinuität und Diskontinuität, sowie Individuation und Ununterscheidbarkeit nicht nur eine durchgehende Rolle in der Frühen Neuzeit spielten, sondern auch für die systematische Debatte von grundlegender Bedeutung sind. Die angesprochenen Thematiken sollen nicht nur in einem Sammelband publiziert, sondern auch durch die Kooperation einzelner Teilnehmer weiterentwickelt und vertieft werden.


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts