Reisende, Reisen und Reiseliteratur im europäischen Vergleich (18.-20. Jahrhundert)

Reisende, Reisen und Reiseliteratur im europäischen Vergleich (18.-20. Jahrhundert)

Organisatoren
Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE) / Frankreichzentrum, TU Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.06.2002 - 08.06.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Berkemeier, Paderborn

Der Workshop wurde geleitet von Bernhard Struck und Arnd Bauerkämper (Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas). Er gliederte sich in einen Eröffnungsvortrag mit anschließender Diskussion, 6 thematische Sektionen mit Kommentar und Diskussion sowie einen abschließenden Round Table, welcher die Tagungsergebnisse kurz kontextualisierte und einen Ausblick auf weitere mögliche Forschungsgegenstände und -richtungen formulierte.

Den Anstoß zu der Veranstaltung gaben der Forschungsschwerpunkt Kulturtransfer sowie die methodischen Diskussionen zum historischen Vergleich am Berliner ZVGE. Beide Aspekte sollten auf eine in den vergangenen zwei Jahrzehnten einerseits intensive, andererseits aber sehr heterogene und nicht zuletzt oft im nationalen Rahmen verbleibende Forschung angewendet werden. Verschiedene Aspekte der bisher geleisteten historischen Reiseforschung sollten durch komparative und transfergeschichtliche Fragestellungen ergänzt werden, um so neue Forschungsperspektiven zu eröffnen. Neben den Fragen zur Sozialgeschichte des Reisens und zur Rezeption der Reiseliteratur standen vor allem kulturhistorische Fragen zur Wahrnehmung und Repräsentation von Raum, Grenzen, Zeit in Reiseberichten und der Transfer von Ideen, Bildern und Gütern im Vordergrund.

Marie-Noëlle Bourguet (Paris) eröffnete die Tagung mit einem Vortrag über Struktur und Inhalt des Italienischen Tagebuchs Alexander von Humboldts. Statt subjektivierender Beschreibung der Reise dominieren Einträge über magnetische, mineralogische und meteorologische Untersuchungen sowie historische Bemerkungen. An die Stelle der Linearität des Berichts tritt ein Netzwerk, welches dem Benutzer später durch zahlreiche Zahlen, Fußnoten und Zeichen Querverweise zu weit über das Buch verstreuten Bemerkungen ermöglichen sollten. Örtlicher Besonderheiten treten hinter der Universalität der Natur zurück und Reise und Messung erscheinen als ein und dieselbe, untrennbare Handlung. Der Reisende selbst tritt nicht als Entdecker auf, sondern als ein der Präzision und Messgenauigkeit verpflichteter, nüchterner Wissenschaftler. Die Abbildung dieser Messgenauigkeit im Text hinterlässt das Bild eines abstrakten Raumes. Das Bild Italiens wird reduziert auf die Namensabfolge des Itinerariums, die Singularität einzelner Orte wird aufgelöst, um in Kombination mit der jeweiligen Messung universelle Gesetzmäßigkeiten der Natur hervortreten zu lassen.

Die erste Sektion beschäftigte sich mit Methoden und Konzepten unterschiedlicher Disziplinen in der Reiseforschung. Antoni Maczak (Warschau) stellte sein Forschungsprojekt zu englischen Reiseführern und ihrem Europabild 1836 -1900 dar. Zunächst stellen Reisehandbücher die zentralen Information zu den Reisebedingungen im Ausland zusammen. Gleichzeitig reflektieren sie die Situation des Reisenden im europäischen Ausland. Die Abbildung des Auslandes ist laut Maczak gekennzeichnet von dem Bestreben der Autoren, zwar den Gegebenheiten der fremden Umgebung gerecht zu werden, dabei aber den Interessen ihrer Leser- und Käuferschaft gerecht zu werden und deren Erwartungen zu bestätigen. Maczak entwickelte einen Vergleich unterschiedlicher Materialien, welche das Bild der Reiseführer konturieren, indem er Korrespondenz der Handbuchleser, individuelle Reisebeschreibungen und andere Reisehandbücher mit den Ausführungen der Murrays in Beziehung setzte. Insbesondere soziale Unterscheidungen der Leserschaft und das Bildungsideal des English Gentleman erscheinen prägend für die jeweilige Ausgestaltung des Reisehandbuchs.

Gilles Bertrand (Grenoble) beschäftigte sich mit einer vergleichenden Untersuchung von Stereotypen im Europa des 18. Jahrhunderts. Seiner Auffassung nach müssen Überlegungen hierzu sowohl deren Definition, Entstehungsbedingungen, Fragen der Übertragung als auch inhaltliche Entwicklungen umfassen. Die Diversität nationaler und kultureller Gegebenheiten lässt kaum allgemeine Aussagen über nationale Stereotype der Epoche zu, und so biete sich letztlich ein Bild weiterer Fragestellung und Differenzierung - etwa nach Nation, Region oder sozialer Schicht.

Joachim Rees (Potsdam) beschäftigte sich in seinem Beitrag mit der Reiseaktivität sozialer Eliten im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts. Auf der Basis eines neu erstellten Korpus von Primärquellen stellt er ein Fortbestehen der Kavalierstour bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus fest. In seiner Studie sieht Rees einen Funktionswandel der Kavalierstour im Zusammenhang sozialer, ökonomischer und administrativer Praktiken. Während die Tour weiterhin eine zentrale Rolle in der psychologischen und mentalen Entwicklung des Erbprinzen zugesprochen wird, entwickelt sich die Reiseaktivität insgesamt auch über die Adoleszenz hinaus und beinhaltet Elemente der Erholung, der Vergnügung und manchmal der Flucht.

In seinem Beitrag zu Raumauffassung und Reisedarstellung des britischen fin de siècle erläuterte Christian Berkemeier (Paderborn) Reisefiguren und -muster der Dekadenz und wertete diese als Teil einer Reaktion auf progressivistische ökonomische, technologische und soziale Diskurse. So stilisieren sich Reisende jenseits der sozialen Normen als Dandies, Adelige oder auch Vagabunden, Pilger oder Gralsritter. Die literarische Produktion der Epoche erscheint für England gekennzeichnet durch die Unsicherheit zwischen kolonialer Expansion und insularer Regression.

Die zweite Sektion fragte nach Publikation, Rezeption und Öffentlichkeit. Mathis Leibetseder (Berlin) befasste sich mit dem Verhältnis von Herausgeber, Beiträgern und Lesern in Johann Bernoullis Reisesammlung, um ihren Wirkungszusammenhang in der zeitgenössischen Öffentlichkeit zu ergründen. Leibetseder erläuterte die Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Publikationsbedingungen wie etwa die Bezifferung des Erlöses oder der verkauften Exemplare.

Ángel Gurría Quintana (Cambridge) diskutierte die generischen Ursprünge des Reiseberichts im England und Deutschland des 19. Jahrhunderts. Er akzentuierte die Konstruktion des Fremden vor dem Hintergrund des Selbstbildes britischer Reisender gegenüber Franzosen, Italienern und Deutschen. Als Autostereotype der Engländer identifizierte er aufgrund deren insularer Situation eine unruhige Aufbruchsstimmung und das Selbstbild einer einzigartigen "Reisekultur".

Françoise Knopper (Toulouse) skizzierte das Entstehen einer konservativen Geisteshaltung anhand von Gegenschriften zu Reisebeschreibungen im 18. Jahrhundert. Knopper betrachtete die Gegenschriften als eine Stufe zwischen Rezension und Parodie. Obwohl es erklärtes Ziel dieser Schriften war, einer möglichen sozialen, politischen und religiösen Destabilisierung entgegenzuwirken, spricht allein ihre Existenz dafür, dass den Reiseberichten ein subversives Potential zuerkannt wurde.

Sozialgeschichtliche Fragen nach Geschlechterrollen, Klassenstrukturen und Professionen bildeten den Rahmen der dritten Sektion. Dietlind Hüchtker (Halle) zeigte in ihrem Beitrag zu Männer- und Frauenreisen des 20. Jahrhunderts nach Galizien, wie sich Selbstbilder der Reisenden zwischen Emanzipation und Norm in der Konfrontation mit dem "Mythos Galizien" konstituieren. Hüchtkers vergleichende Untersuchung der Berichte Bertha Pappenheims und Saul Raphael Landaus stellte fest, dass zwar beide Galizien im Kontext der sozialreformerischen und sozialistischen Interpretationen positionieren, die politischen Ziele dieser Reform jedoch geschlechtsspezifisch unterschiedlich artikulieren.

Thomas Müller (Berlin) sprach über den Transfer medizinischen Wissens im 19. Jahrhundert. Im Rahmen der fortschreitenden Spezialisierung innerhalb der Medizin entstand mit Ende des 18. Jahrhunderts eine von Frankreich ausgehende Entkriminalisierung und Humanisierung psychisch Kranker. Vor diesem Hintergrund galt das Interesse Müllers der Reise europäischer Psychiater ins flämische Gheel und der jeweiligen Repräsentation, Funktionalisierung und Rezeption der Reise.

Alexandra Bekasova (Moskau) diskutierte die Reise und berufliche Bildung russischer Doktoren, Professoren und Staatsmänner im späten 18. Jahrhundert. Bildungsreisen nach Westeuropa stellten einen zentralen Teil der sozialen Initiation dar. Die Reise wurde in zeitgenössischen Berichten funktionalisiert als Relativierung der eigenen Erfahrungswelt und Erweiterung der eigenen Kenntnisse. Schwerpunkte der Reiseaktivitäten lagen in Nordeuropa, was einerseits auf logistische Gegebenheiten zurückzuführen sei und anderseits eine gewisse Nähe zu protestantischen Ländern und ihren Bildungsinstitutionen ausdrücke.

Die vierte Sektion beschäftigte sich vergleichend mit Raum- und Zeitkonzepten als Grundlage europäischer Identitäten. Bernhard Struck (Berlin) untersuchte die Entstehung von Grenzvorstellungen deutscher Reiseliteratur zwischen Frankreich und Polen um 1800. Struck skizzierte den Wandel einer Wahrnehmung von Grenzräumen zu einer differenzierten Auffassung der Grenze und ihrer spezifischen Bedeutung in Ost und West. Während die deutsch-französische Grenze zunehmend als lineare und stabile Trennung zweier Nationen verstanden wurde, dominierte für die deutsch-polnische Grenze die Vorstellung einer kulturellen und zivilisatorischen Abgrenzung, welche geographisch eher instabil blieb.

Hagen Schulz-Forberg (Florenz) untersuchte urbane Raum- und Zeitkonzepte in französischer und deutscher Reiseliteratur zwischen 1851 und 1939. Ausgehend von der ästhetisierten Rekonstruktion des urbanen Raums erläuterte er teils interagierende, teils divergierende Muster in der fiktionalen Evokation der Stadt. Skizziert wurde die Koexistenz von zeitlichen Mustern unterschiedlicher Stabilität, Kohärenz und Funktion in Zuordnung verschiedener Räume innerhalb der Stadt, beispielsweise den von kosmopolitischer Hektik geprägten Rhythmus von Handel, Verkehr und Kommunikation.

Gabor Gelleri (Budapest/Paris) sprach über französische und schweizerische Reisende in England und untersuchte Charakteristika einer bestimmten Vorstellung schweizerischer und französischer Nationalität. Gelleri skizzierte ein vergleichendes Modell der Reisedarstellung, in dem nationale und kulturelle Stereotype in ihrer jeweiligen Ausformung mit den eigentlichen Formen, Zwecken, Zielen, Mitteln und Wegen der Reise in Relation zu setzen wären. Die Rolle der Schweiz als "dritter Raum" sei vorformuliert in schweizerischen Auto- und Heterostereotypen von "Gemeinsinn" und "Parteilosigkeit".

Die fünfte Sektion konzentrierte sich auf Fremdheitskonzepte, Strategien der Repräsentation und Formen des Wissenstransfers. Paul Michael Lützeler (St. Louis/Berlin) erläuterte postkoloniale Aspekte anhand der Reisen deutscher Schriftstellern in Entwicklungsländer. Lützeler sah in der literarischen Beschäftigung mit Problemen und Fragestellungen der so genannten "Dritten Welt" Vorgehensweisen, welche sich von journalistischen Diskursen in ihren Repräsentationsstrategien absetzen. Gegenstand seiner Untersuchung war weiterhin das Genre der Reisebeschreibung zwischen Essay, Erzählung und Roman und die unterschiedlich artikulierte Identifikation mit der postkolonialen Situation in ihrer Auswirkung auf Ästhetik und narrative Merkmale der Reisedarstellungen.

Der Vortrag von Gabriele Dürbeck (Rostock) untersuchte Repräsentationsmuster des Fremden für Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts über Ozeanien. Darin unterschied sie vier verschiedene Funktionen und Verwendungen von Stereotypen: eine kognitive, eine soziale, eine psychologische und eine politische. Dürbeck stellte dar, dass in postkolonialer Perspektive die funktionalen Unterschiede zwischen Stereotypen verwischt und der Kritik einer umfassenden westlichen Hegemonie untergeordnet werden. Demgegenüber sieht sie die verwendeten Stereotype vielmehr in unterschiedlichen Kontexten, so etwa als Zivilisationskritik, als Moment der Unterhaltung und der ethnographischen Bildung und als Möglichkeit, die allgemeine Bekanntheit und Beliebtheit neuer, attraktiver kolonialer Errungenschaften auch in touristischer Hinsicht zu erhöhen und weiterhin zu nutzen. Stereotype erweisen sich somit als instabil, historischem Wandel unterworfen und in zentrale Diskurse ihrer Zeit einbezogen.

Julia Lederle (Florenz) erläuterte ihre Untersuchungen zu Reiseberichten der Jesuiten im Zusammenhang des Güter- und Wissenstransfers zwischen Indien und Europa. Dabei wurden insbesondere Formen der Wissensaneignung und Strategien sozialer Assimilation erläutert. Laut Lederle war es nicht nur die fremdsprachliche Kompetenz der Jesuiten, die ihnen Zugang zu fremdem Wissen und erstrebenswerten Gütern verschaffte, sondern auch ihre Fähigkeiten in Wissenschaften, Künsten, Musik und Architektur. Dabei konnte der Transfer von Wissen durchaus reversibel sein.

Die abschließende Sektion beschäftigte sich mit Auffassungen von Zentrum und Peripherie. Hana Sobotková (Paris/Prag) beschrieb die Konstruktion des Balkanbildes anhand französischer und tschechischer Reiseberichte. Diese verortete sie einerseits in der Schaffung eigener nationaler und kultureller Identität und andererseits an der Schnittstelle von Konzepten der Modernität und Rückschrittlichkeit, Zivilisation und Wildnis, Orient und Okzident. Sobotková gelangte zu der Unterscheidung einer politisch motivierten Wahrnehmung des Balkans in französischen Berichten und einer primär kulturell informierten Auffassung der Region in tschechischen Darstellungen.

Ulrike Plath (Greifswald) untersuchte Reisedarstellungen der russischen Ostseeprovinzen zwischen 1750-1850. Dabei erläuterte sie zunächst die komplexe politische und kulturelle Situation des Baltikums in Auseinandersetzungen um russische Vormachtstellung oder Autonomie deutscher Siedler, welche die unfreien litauischen und estnischen Bauern gänzlich unberücksichtigt ließ. Viele der in den baltischen Provinzen ansässigen deutschen Haus- und Hofmeister kehrten mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nach Deutschland zurück und berichteten über die dort vorgefundenen Bedingungen der Leibeigenen. Auch nach Abschaffung der Leibeigenschaft setzten liberale Vertreter ihre Kritik der bestehenden Verhältnisse fort.

Ausgehend von der Konstruktion von Alterität als zentraler Komponente der Reiseliteratur erläuterte Dimitri Roboly (Athen/Paris) das Problemfeld von Romantik und Islam, Literatur und Religion im soziokulturellen Kontext der Epoche. Eine Islamauffassung die von Beginn an vor allem in der Auswahl der Gegenstände bereits von Stereotypen gekennzeichnet war, erfuhr mit der Romantik einen weiteren Impuls. Die Tendenz zur Normüberschreitung führte laut Roboly zu einer Wahrnehmung des Islam als Religion des Exzesses, so etwa zum Bild einer Übersteigerung im Glauben, in der Toleranz oder in der Sinnlichkeit.

Die abschließende Diskussionsrunde, geleitet von Bernhard Struck, versuchte mit Paul Michael Lützeler, Antoni Maczak, Gilles Bertrand und Hans-Erich Bödeker die Ergebnisse und Perspektiven des Workshops aus unterschiedlicher nationaler wie fachlicher Perspektive zu resümieren. Dabei wurde der komparative Ansatz für eine künftige Reiseforschung grundsätzlich begrüßt. Sowohl für sozialhistorische Vergleiche wie bsp. zur Reisepraxis von Bürgertum und Adel, als auch für den Vergleich von Diskursen, Stereotypen und Bildern, die durch Reisen und Reiseliteratur transportiert und gesellschaftlich vermittelt werden, bislang aber kaum komparativ untersucht worden sind, wurde die Notwendigkeit vergleichender Untersuchungen unterstrichen.

Kontakt

Bernhard Struck
bstruck@zedat.fu-berlin.de

http://www.fu-berlin.de/zvge/