Besonderes Wissen. Zum Umgang mit Sonderwissen an den Höfen des 14. Jahrhunderts

Besonderes Wissen. Zum Umgang mit Sonderwissen an den Höfen des 14. Jahrhunderts

Organisatoren
Jan-Hendryk de Boer / Gion Wallmeyer, Universität Duisburg-Essen, Historisches Institut
Ort
digital (Essen)
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.03.2021 - 11.03.2021
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Von
Jan-Hendryk de Boer / Gion Wallmeyer, Universität Duisburg-Essen, Historisches Institut

Das 14. Jahrhundert spielt in den großen Erzählungen vom Aufstieg des Wissens seit dem Hochmittelalter allenfalls eine Nebenrolle. Während das 12. Jahrhundert als Phase des Aufbruchs mit der Entstehung des scholastischen Wissens und dem dynamischen Schulenmilieu und das 13. Jahrhundert mit der Herausbildung der Universitäten als Phase der Institutionalisierung, Differenzierung und Stabilisierung gilt, wird das 15. Jahrhundert häufig einerseits mit Erstarrung, andererseits mit der Entstehung der neuen Wissensordnung der Renaissance assoziiert. Und das 14. Jahrhundert? Dieses wissensgeschichtlich aus verschiedenen Perspektiven zu untersuchen, nahm sich der zweitägige Workshop vor, der eigentlich in Essen hätte stattfinden sollen, pandemiebedingt aber digital durchgeführt wurde.

Der dem Workshop zugrunde gelegten und in der Einführung von den Veranstaltern noch einmal erläuterten These zufolge ist das 14. Jahrhundert gekennzeichnet durch die zunehmende Bedeutung von Sonderwissen in verschiedenen Gesellschaftsbereichen. Zugleich ist festzustellen, dass die Zeitgenossen Grenzen und Möglichkeiten dieses Sonderwissens sowie das Verhältnis der Wissensbestände zueinander reflektieren. Sonderwissen meint dabei jene Wissensbestände, die als spezifisch für einzelne Disziplinen, Tätigkeiten oder Felder beobachtet werden und die bestimmten Trägergruppen zugeordnet werden. Diese können nun in der Rolle von Experten auftreten mit der Verheißung, Probleme wissensbasiert zu lösen. Der Hof, so zeigte das Beispiel des Avignoneser Papsthofes, wurde zu einem Ort, an den Experten gezogen wurden und der zu einem Umschlagplatz für verschiedene Formen des Sonderwissens wurde. Den derart skizzierten Rahmen füllten die sich anschließenden Vorträge und Diskussionen aus.

Anhand der Unterscheidung von Experten und Intellektuellen zeigte MARCEL BUBERT (Münster), dass sich Trägerinnen und Trägern von Sonderwissen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten boten. Sie konnten als Experten passgenaues Wissen für bestimmte Problemlagen bereitstellen oder umgekehrt als Intellektuelle aus der professionellen Rolle fallen und sich somit konkreten Nützlichkeitserwägungen entziehen. Während der Experte tendenziell erwünschtes Wissen lieferte, erteilten Intellektuelle – darunter auch prophetisch sprechende Frauen wie Katharina von Siena – zunächst unerbetene Ratschläge, die mal auf Ablehnung und Desinteresse stießen, mal jedoch auch von den Adressaten in ihrem Sinne verwendet wurden. Dem korrespondierten unterschiedliche Beobachtungen des Wissens und des Agierens von Gelehrten und Trägern von Sonderwissen, die sich im aktiven Suchen gelehrter Expertise ebenso manifestierten wie in Gelehrtenskepsis und -kritik.

Mit dem Secretum secretorum stellte MICHELE CAMPOPIANO (York) einen Bestseller mittelalterlicher Wissensliteratur vor. Nicht nur wird im Secretum secretorum selbst darauf reflektiert, welchen Bedarf an Wissen insbesondere Adlige haben und wie dieses zu verbreiten und einzusetzen sei. Zudem zeigte die Übersetzung des Werkes in die Volkssprachen neben einem Interesse an dem gebotenen Wissen gezielte Adaptionsleistungen in Bezug auf die jeweiligen intendierten Verwendungskontexte und das jeweilige avisierte Publikum.

VANINA KOPP (Erfurt) untersuchte eine Bandbreite von im höfischen Kontext entstandenen Handbüchern und Ratgeberliteratur. Derartige Einführungen in Fechten und Tanzen oder Anleitungen zu Konversationsspielen wiesen für das 14. Jahrhundert eine bemerkenswerte Offenheit nicht nur hinsichtlich der intendierten Rezipienten auf. Vielfach blieb zudem unbestimmt, ob sich die Anleitungen an Frauen oder Männer richteten. Wo dies näher zu erhellen war, ließ sich häufig feststellen, dass Frauen ebenso gemeint waren oder zumindest ebenso gemeint sein konnten wie Männer.

Besonderes Wissen im Sinne des Titels des Workshops behandelte auch AARON JOCHIM (Heidelberg), der untersuchte, wie Wissen über mamlukische Wappen in der Heraldik des 14. Jahrhunderts generiert wurde. Auch wenn derartige Wappen tatsächlich nicht existierten, bestand im lateinischen Europa offenbar die Erwartungshaltung, dass es solche geben müsse. Diese wurden nicht einfach willkürlich konstruiert, sondern etwa anhand von auf mamlukischen Münzen verwendeten Symbolen imaginiert, um eine Wissenslücke zu füllen.

Die Beobachtung des Wissenserwerbs nahm wiederum MATTHIAS BÜTTNER (Göttingen) am Beispiel der englischen Trailbaston-Kommissionen in den Blick. Diese 1305 durch Eduard I. begründeten Justizkommissionen sollten im Namen des Königs gegen schwere Formen des Verbrechens ermitteln und über sie richten, standen jedoch von Beginn an in der Kritik, weil die Zeitgenossen sowohl das Rechtswissen als auch die Ermittlungsverfahren der Kommission als unzureichend erachteten.

MAXIMILIAN SCHUH (Berlin) widmete sich mit dem englischen Pfarrer William Merle einem Akteur, der als Mediator zwischen verschiedenen Wissenskulturen agierte. Seine astro-meteorologischen Wetterbeobachtungen fußten nicht allein auf dem Wissen antiker Autoritäten, sondern auch auf dem praktischen Wissen, das englische Seeleute, Hirten und Bauern über das Wetter gesammelt hatten. Entgegen bisheriger Einschätzungen blieb Merle damit keineswegs ein Außenseiter in der gelehrten Welt, sondern fand über die Summa astrologiae des Johannes von Ashenden Eingang in den astro-meteorologischen Diskurs des 14. Jahrhunderts.

Mit den Motiven und Tendenzen wissensethischer Vorstellungen an den Höfen des 14. Jahrhunderts beschäftigte sich SILVIA NEGRI (Zürich). Vor allem die Unterweisung von Herrschern bildete einen Anlass für die Zeitgenossen, über die Möglichkeit epistemischer Tugenden und deren Relevanz für das herrscherliche Handeln nachzudenken.

DANIEL PACHURKA (Bochum) analysierte volkssprachliche Literatur als Medium der Wissensvermittlung im 14. Jahrhundert. Volkssprachliche Texte wie Der meide kranz des Dichters von Heinrich von Mügeln gaben oft nicht allein Wissen wieder, sondern reflektierten zugleich gelehrte Wissensdiskurse und schufen auf diese Weise einen neuen höfischen Kommunikationsraum.

CHRISTIAN NEUMANN (Rom) erörterte am Beispiel von Päpsten, englischen Königen und venezianischen Dogen, inwiefern das Alter als Bedingung der Möglichkeit des Wissenserwerbs in zeitgenössischen Diskursen reflektiert wurde. Seit dem 14. Jahrhundert lässt sich dabei eine stärkere Systematisierung altersmedizinischen Wissens beobachten, die jedoch erst in der Frühen Neuzeit mit den Gerokomien eine spezialisierte Textgattung hervorbrachte.

Im letzten Beitrag des Workshops fragte BENJAMIN MÜSEGADES (Heidelberg) nach dem Nutzen von Urbaren für die Wissensgeschichte. Wie das Beispiel des ältesten Urbars der Pfalzgrafschaft bei Rhein aus den Jahren 1337/38 zeigt, fungierte die pfalzgräfliche Kanzlei als Institution für die Akquise und Übersetzung des Wissens lokaler Akteure über die zuvor oft nur mündlich fixierten Abgabeverpflichtungen. Die Nachtragungen und Streichungen im Urbar illustrieren überdies, dass diese Wissensakquise von den verantwortlichen Akteuren beständig reflektiert und gegebenenfalls korrigiert wurde.

Insgesamt haben die Beiträge und Diskussionen des Workshops gezeigt, dass Wissen im 14. Jahrhundert aufgrund der vorangegangenen Differenzierungsprozesse reflexiver geworden war. Herauszuheben ist dabei vor allem die Zunahme von Reflexionen über das Sonderwissen in der Form von Beobachtungen zweiter Ordnung, welche die Bedingungen der Möglichkeit des Beobachtens von Sonderwissen, seiner Träger sowie der Praktiken und Routinen des Wissenserwerbs in den Blick nahmen. Den Mitteln, Institutionen und Rollen der Wissensbeobachtung soll in einem gemeinsamen Artikelprojekt aller Workshopteilnehmerinnen und -teilnehmer weiter nachgegangen werden.

Konferenzübersicht:

Jan-Hendryk de Boer / Gion Wallmeyer (beide Essen): Einführung

Marcel Bubert (Münster): (Un)erbetene Ratschläge? Experten, Intellektuelle und Gelehrtenskepsis im 14. Jahrhundert

Michele Campopiano (York): Denken über Fürsten und Gelehrte: Reflexionen über das Secretum secretorum im 14. Jahrhundert

Vanina Kopp (Erfurt): Frauen stets mitgemeint? Der Platz von besonderem Wissen in Ratgeberliteratur und Handbüchern aus Genderperspektive

Aaron Jochim (Heidelberg): Die Zeichen der anderen: Wissen von mamlukischen Emblemen in der christlich-lateinischen Heraldik des 14. Jahrhunderts

Matthias Büttner (Göttingen): Maveis jurours? Die Trailbaston-Kommissionen unter Edward I. und Edward II.

Maximilian Schuh (Berlin): Vielfältiges Wissen vom Wetter. William Merle im astro-meteorologischen Diskurs des 14. Jahrhunderts

Silvia Negri (Zürich): Intellektuelle Tugenden an den Höfen. Wissensethische Vorstellungen im 14. Jahrhundert

Daniel Pachurka (Bochum): Volkssprachige Literatur am Hof. Dichtung, Wissen und Vermittlung

Christian Neumann (Rom): Alter(n) und Wissen: ein Überblick

Benjamin Müsegades (Heidelberg): Was weiß der Fürst von den Bauern? Wissen und Konflikte um Abgaben und Steuern in der Pfalzgrafschaft bei Rhein im 14. Jahrhundert


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