Wachsende und schrumpfende Städte - Geschichte - Gegenwart - Zukunft. Growing and Shrinking Cities - Lessons from the Past for the Future

Wachsende und schrumpfende Städte - Geschichte - Gegenwart - Zukunft. Growing and Shrinking Cities - Lessons from the Past for the Future

Organisatoren
TU Hamburg-Harburg, Städtebau und Quartiersplanung; Gesellschaft für Stadt- und Urbanisierungsforschung (GSU), Arbeitskreis Planungsgeschichte; Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH)
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.09.2005 - 17.09.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Lars Amenda, Hamburg; Sandra Schürmann, Hamburg

Derzeit zeichnet sich weltweit eine Polarisierung von wachsenden und schrumpfenden Regionen und Städten ab. Die drei veranstaltenden Institutionen nahmen dies zum Anlass, auf einer Tagung historische Beispiele und aktuelle räumliche und soziale Manifestationen solcher Schrumpfungs- und Wachstumsprozesse gegenüberzustellen und zu diskutieren. Im Eröffnungsvortrag nahm Axel Schildt (Hamburg) das Motto "Wachsende Stadt" des gegenwärtigen Hamburger Senats zum Ausgangspunkt eines historischen Überblicks über die Entwicklung Hamburgs und (häufig überzogener) Wachstumsprognosen. Die ungefähr konstante Einwohnerzahl von 1,7 Millionen seit 50 Jahren überdecke zudem einschneidende Veränderungen durch Bombenkrieg und Suburbanisierung. Der "Achsenplan" von Fritz Schumacher aus den frühen 1920er Jahren war der Beginn der Planungen für den Großraum Hamburg und beeinflusste in der Folgezeit die städtebaulichen Konzepte. Schildt schloss seine Ausführungen mit einem Plädoyer für eine Historisierung, die in der aktuellen Debatte weitgehend fehle.

Die erste von vier Themengruppen behandelte "Ungleichzeitigkeiten von Wachstum und Schrumpfung". Carsten Behnke (Berlin/Erkner) zeigte anhand der Fallbeispiele Wusterhausen, Perleberg, Wittenberge an der Elbe, Wilsnack und Zehdenick die Bedeutung eines erfolgten oder verhinderten Eisenbahnanschlusses als Faktor städtischer Entwicklung im späten 19. Jahrhundert. Er betonte zum einen die begrenzten und nicht eindeutig vorhersagbaren Auswirkungen des Faktors Eisenbahnanschluss, zum anderen die erheblichen Handlungsspielräume der lokalen Eliten. Ursula von Petz (Dortmund) beschrieb verschiedene Phasen der städtebaulichen Entwicklung und planerischen Strategien im Ruhrgebiet vom industriellen Wachstum im späten 19. Jahrhundert bis zu aktuellen Reaktionen auf Umstrukturierungen. Der Glaube an Kohle und Stahl als "Religion" und politischer Machtfaktor habe lange die Auseinandersetzung mit dem Strukturwandel verhindert. Das Ruhrgebiet sei nicht als eine Einheit anzusehen, da die Städte im Kern schrumpften und der "Saum" von den Umstrukturierungen profitiere. Christian Heppner (Isernhagen) stellte am Beispiel der Stadt Garbsen eine Stadtentwicklung von der Suburbanisierung zur formalen Urbanisierung vor. Entstanden aus einer von hannoverschen Planern angelegten Großsiedlung auf der Grenze zwischen zwei nahe gelegenen Dörfern im Umland Hannovers, hatte Garbsen sich bei der Gebiets- und Verwaltungsreform 1974 erfolgreich gegen die Eingemeindungsabsichten der Stadt Hannover gewehrt und war dem drohenden Verlust der administrativen Autonomie insbesondere durch umfassende kulturelle Initiativen entgegengetreten. So habe die "Bedrohung" von außen die Identitätsstiftung nach innen unterstützt. Allerdings sei der Konsens nach 1974 zerbrochen und Garbsen heute nicht das Zentrum der neuen Stadt, sondern Teil einer polyzentrischen Stadtregion.

Die zweite Themengruppe beschäftigte sich mit der Planungsgeschichte des Umgangs mit Schrumpfung. Thomas Bohn (Jena) referierte über das starke Bevölkerungswachstum von Minsk in Weißrussland, das wegen seiner großen Dynamik als "Minsker Phänomen" bezeichnet werde. Im frühen 20. Jahrhundert sei die Stadt noch agrarisch geprägt gewesen und habe eine vornehmlich jüdische Bevölkerung gehabt. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es in Minsk einerseits eine "nachholende Modernisierung" in städtebaulicher Hinsicht gegeben, andererseits eine starke Zuwanderung aus dem weißrussischen Umland, was zu einer "Verbäuerlichung" der Stadt geführt habe. Das Minsk der Nachkriegszeit sei ein "Paradebeispiel" für eine sozialistische Stadtplanung, die staatliche Repräsentation umsetzte, aber auch zu Mängeln für die Wohnbevölkerung führte. Celina Kress (Berlin) erläuterte die Abfolge von Wachstum und Schrumpfung am Beispiel der Stadt Leuna in der Region Merseburg: Das schnelle industrielle Wachstum begann im frühen 20. Jahrhundert und setzte sich bis nach dem Zweiten Weltkrieg fort, es regte Stadterweiterungen und modernen Wohnungsbau an. Mit Beginn der Deindustrialisierung ab etwa 1965 ging dieses Wachstum in eine ebenso schnelle Schrumpfung über; Leuna und seine Nachbarstädte entwickeln derzeit Konzepte, um mit dieser Entwicklung umzugehen. Kress stellte fest, dass strukturelle Veränderungen und Wahrnehmungen nicht übereinstimmten: Das Wachstum der Stadt sei vor allem in seiner ersten Phase zu Beginn des 20. Jahrhunderts wahrgenommen worden, die Schrumpfung hingegen erst in ihrer letzten Phase nach dem Zusammenbruch der DDR, nicht aber bei ihren Beginn in den 1970er Jahren. Frank Betker (Aachen) stellte am Beispiel von Rostock und Halle die Frage nach Paradoxien von Wachstum und Schrumpfung in der DDR. Er führte aus, auch in der DDR habe es - entgegen der offiziellen Wachstums- und Fortschrittsorientierung - wachsende und schrumpfende Städte gegeben. Betker betonte die besondere Bedeutung langer Entwicklungslinien und die Eigengesetzlichkeit von Wahrnehmungen: Quantitatives Wachstum könne durchaus als Schrumpfung wahrgenommen werden, wachsende Städte könnten urbane Qualitäten einbüßen oder angesichts ihrer schnellen Entwicklung nicht entwickeln. Eine neue Großsiedlung am Stadtrand erhöhe zwar die Einwohnerzahlen, aber nicht unbedingt die Lebensqualität. Die Wahrnehmung einer Stadt könne, wie die Beispiele zeigten, ihrer demographischen Entwicklung (Rostock: Wachstum; Halle: Schrumpfung) entgegenstehen. Auch sei in Halle im Gegensatz zu Rostock eine schnelle Umorientierung auf die neue Situation gelungen. Einen theoretischen Zugriff auf das Tagungsthema wählte Manfred Kühn (Berlin/Erkner), indem er das wirtschaftswissenschaftliche Konzept der Pfadabhängigkeit (path dependance) vorstellte, demzufolge historische Vorstrukturen entwicklungshemmend sind, wenn lokale Institutionen eine Umstrukturierung blockieren. Am Beispiel der Entwicklung der märkischen Mittelstädte Neuruppin und Brandenburg stellte Kühn die These auf, dass im Falle Brandenburgs eine strukturkonservative Dominanz der städtischen Eliten den Niedergang vertieft habe. Er erklärte die unterschiedliche Entwicklung der beiden strukturell ähnlichen Städte nach dem Zusammenbruch der DDR - Neuruppin ist stabilisiert, während Brandenburg schrumpft - mit den unterschiedlichen Reaktionen der lokalen Eliten auf den Niedergang der Industrie. In Brandenburg hätten diese den Wandel zur nachindustriellen Stadt blockiert und zunächst auf eine Reindustrialisierung gesetzt. Neuruppin hingegen habe als "Fontanestadt" fortdauernd auf seine Tradition als historische Stadt gesetzt und Elemente der lokalen Identität (Wasser, Bildung, Kultur) auch nach der Wende einsetzen können. Im abschließenden Vortrag der Themengruppe erläuterte Brigitta Ziegenbein (Weimar) den Umgang der Stadt Halle mit dem Niedergang in Zeiten der Deindustrialisierung: Die traditionsreiche Universität werde zunehmend in die Stadt reintegriert und diene so als Entwicklungsmotor. Der Diskussionsleiter Christoph Bernhardt (Erkner/Berlin) fasste zusammen, die Vorträge zeigten widersprüchliche und paradoxe Prozesse der Schrumpfung und machten zudem deutlich, wo noch ein Bedarf an klar definierten Parametern und Kategorien bestehe.

Die dritte Themengruppe umfasste Fallbeispiele für den Umgang mit Wachstum und Planung außerhalb Deutschlands und Europas. Axel Priebs (Hannover/Kiel) beschrieb den "Fingerplan" für Kopenhagen aus dem Jahr 1947, der die nach Westen gehenden Verkehrsachsen der dänischen Hauptstadt symbolisierte. Das planerische Leitbild gab die Richtungen des städtischen Wachstums vor und sah Suburbanisierung als "natürlichen" Prozess an. Priebs betonte den Konsens der Planung in Kopenhagen, der auf Pragmatismus und gesellschaftliche Dispositionen zurückzuführen sei. Wegen seiner klaren Botschaft sei das Grundkonzept des Fingerplans bis in die Gegenwart beibehalten worden und könne deshalb als "Erfolg eines bewussten Planungskonzeptes" angesehen werden. Dirk Schubert (Hamburg) referierte über Planungen und ihre Probleme in London. Oberstes Ziel in der britischen Metropole sei seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine "Entdichtung" der Stadt gewesen, mittels derer die Lebensverhältnisse verbessert werden sollten ("improvement"). Das Wachstum sei eng an die Entwicklung des Nahverkehrs gebunden gewesen und endete wegen der Deindustrialisierung in den 1960er Jahren; eine Reihe von Planungen habe zunächst das Wachstum ordnen und später der Schrumpfung entgegensteuern sollen. Seit den 1990ern hätte zudem eine Renaissance der Kernstadt eingesetzt, verbunden mit dem Neubau von Wohnhäusern. Gerd Kuhn (Stuttgart) untersuchte in seinem Vortrag "Changing Shanghai" Wachstumsprozesse im Spannungsfeld von Modernisierung und chinesischen Traditionen. Politische Krisen und starke Flüchtlingsbewegungen waren entscheidende historische Faktoren des Stadtwachstums in Shanghai, das sich in den 1920er Jahren zur "World City" entwickelte. Neuere Großplanungen westlicher Architekten geschähen meist ohne Kenntnisse der chinesischen Kultur. In jüngster Zeit sei aber eine neue Sensibilität für Fragen der eigenen Identität Shanghais aufgekommen, zudem würden ausländische Innovationen zwar äußerlich übernommen, aber häufig im Inneren modifiziert bzw. "chinesisch" interpretiert. Barbara Schönig (Berlin) beschrieb am Beispiel Chicagos den Zusammenhang von Zivilgesellschaft und Regionalplanung. Sie untersuchte angesichts einer fehlenden übergeordneten Landesplanung die Rolle eines einzelnen Akteurs, des Commercial Clubs, bei der Planung der Stadt. 1909 legte der Club einen ersten Plan vor, dessen Ziel es war die Rahmenbedingungen kapitalistischer Wirtschaft zu verbessern und Probleme wie im Verkehr abzuschwächen. Ein neuer Plan aus dem Jahr 1998 solle urbanes Wachstum um regionale Zentren gruppieren ("new regionalism"). Zivilgesellschaftliche Organisationen könnten Schönig zufolge Planungen gut ergänzen, ohne dass damit allerdings automatisch eine Demokratisierung einher gehe. Der Vortrag von Andreas Eckert (Hamburg) über Wachstum, Chaos und Planung in der afrikanischen "Boommetropole" Lagos musste aus Krankheitsgründen leider ausfallen.

In der vierten Themengruppe "Zur Relevanz planungshistorische Leitbilder - Kontinuitäten und Brüche" stellte Jürgen Pietsch (Hamburg-Harburg) fest, dass die Stadtvorstellungen jener, die sich wissenschaftlich damit befassten, im Wesentlichen in der Industriegesellschaft entstanden und durch diese geprägt seien. Eine Dekonstruktion der industriegesellschaftlichen Phasen, ihrer Stadtentwicklungen und ihrer Akteure mache hohe Ideologieanteile deutlich, die den Blick auf Realitäten verstellten. So seien neben der lange vorherrschende Stadtfeindschaft auch Tendenzen zur Verteufelung von Suburbanisierung und zur Verklärung der industriellen Stadt festzuhalten. Noch fehlten geeignete Typologien und Kategorien für die Begriffe "Stadt - Nicht-Stadt", "Schrumpfung - Wachstum".

In den Diskussionen waren im wesentlichen drei Schwerpunkte auszumachen: Wiederholt wurden die Begriffe "Schrumpfung" und "Wachstum" angesprochen - ihre normative Aufladung klang in verschiedenen Vorträgen an, wurde aber nicht durchgehend reflektiert und hätte vielleicht am Beginn der Tagung deutlicher herausgestellt werden können. In diesem Zusammenhang wurde des Öfteren auf die Gleichzeitigkeit von Schrumpfungs- und Wachstumsprozessen hingewiesen. Kritisch angemerkt wurde weiterhin die zu geringe Thematisierung der Akteure von Planung und städtischer Politik. Schließlich wurden an manchen Stellen unterschiedliche Herangehensweisen von Planer/innen und Historiker/innen deutlich. So wurde bisweilen ein spezifische planerische Perspektive erkannt und eine größere analytische Distanz zum Gegenstand gefordert. In diesen Zusammenhang entstand auch ein lebhafter Austausch über die Rolle der Planer/innen und die Funktion klarer Bilder wie beispielsweise des Kopenhagener Fingermodells. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass eine Unterscheidung zwischen raumplanerischen und politischen Leitbildern wichtig sei. Wiederholt wurde in der Diskussion zudem auf den englischen Untertitel der Tagung verwiesen ("Lessons from the Past to the Future") und die Frage gestellt, was sich aus der Planungsgeschichte für die Gegenwart und Zukunft lernen lasse.

In der Abschlussdiskussion benannte Axel Schildt Defizite der Tagung bei den Themenbereichen Öffentlichkeit und Medien. Er hob als zentrale Untersuchungsfelder Quantität vs. Qualität, analytische Modelle, die Rolle der Planung und Akteure hervor. Der teilweise angeklungene Wunsch, aus der Geschichte für zukünftige Planungen lernen zu können, sei aus der Sicht eines Historikers nicht erfüllbar, vielmehr sei das Ziel einer historischen Analyse eine Sensibilisierung für Brüche und Kontinuitäten zu bewirken. Clemens Zimmermann ging ebenfalls auf die Unterschiede in den Herangehensweisen von Planer/innen und Historiker/innen ein und betonte weiterhin die Bedeutung medialer Vermittlung und von Bildern für den Untersuchungsgegenstand. Er merkte an, insgesamt seien Ungleichzeitigkeiten städtischer Entwicklungen zu wenig berücksichtigt worden und kulturgeschichtliche Ansätze wenig vertreten gewesen. Christoph Bernhardt warf die Frage nach historischen Referenzfällen für städtisches Wachstum und Schrumpfung auf - es habe auch in anderen Epochen immer schon schrumpfende Städte in Deutschland gegeben. Er betonte weiterhin die Bedeutung einer Kontextualisierung und verwies noch einmal auf die normative Aufladung der Begriffe Schrumpfung und Wachstum. Dirk Schubert konstatierte einen Paradigmenwechsel in der Planungswissenschaft, die sich bislang ausschließlich mit urbanem Wachstum beschäftigt habe und auf das Thema Schrumpfung schlecht vorbereitet sei. Harald Bodenschatz betonte, Stadtforschung und Planungswissenschaften müssten sich zukünftig am Phänomen schrumpfender Städte orientieren und plädierte für einen Fokus auf deren Zukunftsfähigkeit, der in Deutschland bislang fehle.

Insgesamt zeigte die Tagung das große Potential interdisziplinärer Zugänge an stadtgeschichtliche Phänomene. Gerade aufgrund teilweise unterschiedlicher Schwerpunkte und Herangehensweisen boten die Vorträge zahlreiche Anregungen für Planer/innen und Historiker/innen.


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