Auf dem Weg zu einer Biographie Gerhard Kittels (1888–1948) – Towards a Biography of Gerhard Kittel (1888–1948)

Auf dem Weg zu einer Biographie Gerhard Kittels (1888–1948) – Towards a Biography of Gerhard Kittel (1888–1948)

Organisatoren
Lukas Bormann, Fachbereich Evangelische Theologie, Philipps-Universität Marburg
Ort
Marburg und Online
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.11.2020 - 06.11.2020
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Von
Lukas Bormann, Fachbereich Ev. Theologie, Philipps-Universität Marburg

Die von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderte internationale Tagung hatte sich die Aufgabe gestellt, internationale Forschungsperspektiven aus der Geschichtswissenschaft, der Evangelischen Theologie, der Religionswissenschaft und der postkolonialen Perspektive so aufeinander zu beziehen, dass die verschiedenen Facetten eines schlüssigen und nuancierten Gesamtbildes des Ev. Theologen und Judentumsforschers Gerhard Kittel (1888–1948) aufgezeigt und thematisiert werden. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Frage nach der internationalen Vernetzung Kittels sowie seiner Rezeption in den Niederlanden, Schweden und Südafrika. Dazu waren nahezu alle wichtigen Forscher, die zu Kittel in den letzten fünfzehn Jahren publiziert haben, und solche, die gegenwärtig neue Forschungsprojekte verfolgen und anstoßen möchten, versammelt.1

Die Tagung fand in der ersten Woche des „Lockdown light“ in Präsenz und online statt. Ein Video-Konferenzsystem ermöglichte die Durchführung der Tagung im Präsenz-Online-Mix (hybrid). In ihrem Grußwort verdeutlichte die Dekanin des Fachbereichs Ev. Theologie, Christl M. Maier, die Bedeutung der kritischen Auseinandersetzung mit antijüdischen Traditionen in der wissenschaftlichen Theologie und würdigte die „Unbeirrbarkeit“, mit der die beteiligten Wissenschaftler/innen an der Durchführung der Tagung unter den gegebenen Umständen festgehalten hätten. Der Empfang schloss mit einer Führung durch die Alte Aula der Philipps-Universität, ein in seinem Erhaltungszustand einzigartiger repräsentativer Universitätsaal von 1891.

Zum Eingang der Tagung erläuterte LUKAS BORMANN (Marburg) den Forschungsstand und definierte gegenwärtige Herausforderungen der Kittel-Forschung. Dazu zählt neben der Zusammenführung der Forschungsperspektiven auf das theologische, exegetische, kirchliche, wissenschaftspolitische wie NS-nahe judenfeindliche Wirken Kittels auch die von Alan Steinweis schriftlich aufgeworfene Frage, wie das „Rätsel der Bekehrung“ des bereits international anerkannten Ordinarius für Neues Testament und Kenners des Judentums zu einem Antisemiten zu erklären sei.2 Einige der offenen Fragen konnten auf der Basis neuer Quellen präzisiert und Wege zu ihrer Beantwortung eröffnet werden. Zu diesen bisher unbekannten Quellen gehört der von der Marburg-Amsterdamer Forschungsgruppe bearbeitete Briefwechsel Kittels mit Frederik Willem Grosheide (1881–1972), der sich über die Jahre 1922 bis 1944 erstreckt und einen vertieften Gedankenaustausch der Gelehrten enthält. Auf Basis dieser neu erschlossenen Quellensammlung sprachen zur niederländischen Rezeption Kittels GEORGE HARINCK (Amsterdam) über das Bild des Judentums bei Kittel und Abraham Kuyper (1837–1920), ARIE ZWIEP (Amsterdam) über den Briefwechsel selbst, BART WALLET (Amsterdam) über die Beziehung Kittels zu den verschiedenen jüdischen Gemeinschaften in Amsterdam und GERT VAN KLINKEN (Amsterdam) über die Haltung zum Judentum in den reformierten Kirchen der Niederlande in den Jahren 1896–1940. Dabei wurde deutlich, wie sehr einerseits Kittels Schrift „Die Judenfrage“ von 1933 in den Niederlanden als ein schockierender Bruch mit Grundannahmen der Humanität aufgefasst wurde, aber auch welche Voraussetzungen dafür bereits in den zwanziger Jahren zu erkennen waren, etwa in der von Kittel vertretenen Vorstellung vom „verknöcherten“ Rabbinismus. In dieser Haltung gegenüber dem Judentum unterschied sich Gerhard Kittel von seinem weltberühmten und als Freund des Judentums bekannten Vater Rudolf Kittel (1853–1929). Es war in diesen Jahren vor allem das Ansehen des Vaters, das dem Sohn die Türen zum niederländischen Judentum und Christentum, aber auch zur Universität und zur internationalen Forschung öffnete.

Neben dem Vater traten in Kittels wissenschaftlicher Biographie weitere Einflussfaktoren: ROLAND DEINES (Liebenzell) erläuterte die Beziehung Kittels zu Adolf Schlatter (1852–1938) und stellte das oft ungeprüft kolportierte Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Schlatter und Kittel infrage. Kittel habe sich eher als Schüler geriert, als dass er seine wissenschaftliche Prägung durch Schlatter empfangen habe. In der Diskussion wurde dann auf Johannes Leipoldt (1880–1965) als weiteren und vielleicht wichtigeren theologischen Ziehvater verwiesen. FELIX JOHN (Greifswald) hatte die Greifswalder Jahre Kittels (1921–1926) zum Gegenstand und berichtete eindrücklich und quellenbasiert von Kittels Wirken im nationalprotestantischen und judenfeindlichen Milieu Greifswalds. HANNAH KREß (Münster) wertete als erste Wissenschaftlerin den erst vor wenigen Jahren freigegebenen Briefwechsel Kittels mit dem Ordinarius für Neues Testament und Judentumskunde in Lund, Hugo Odeberg (1898–1973), aus. Aus dem Briefwechsel geht in bisher unbelegter Klarheit hervor, welchen Stellenwert Kittel der politischen Orientierung des Forschers zuwies. Er vertrat die Überzeugung, dass ein Judentumsforscher auch „politisch“, d.h. nationalsozialistisch und antisemitisch, ausgerichtet sein müsse. Auf dieser Basis verfolgte Kittel das Ziel, ein „NS-affines“ internationales Netzwerk zur Judentumsforschung aufzubauen.

GUIDO BALTES (Marburg) widmete sich den exegetischen Arbeiten von Kittel und Odeberg zu den biblischen Namen im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) und konnte zeigen, wie sehr das Konstrukt eines antirabbinischen Judentums, das man (zum Teil bis heute) in der Henochtradition zu finden meinte, durch judenfeindliche Einstellungen der Forscher evoziert wurde. Auch HANS FÖRSTER (Wien) befasste sich mit dem bis heute in Gebrauch befindlichen und erst im Jahr 2019 erneut nachgedruckten ThWNT und zeigte am Umgang mit der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta, philologische Verzerrungen auf.3 MARTIN LEUTZSCH (Paderborn) ging auf die Entwicklung des Jesusbildes bei Kittel ein und wies nach, wie Kittel mit dem Mittel einer überzogenen „Singularitätsrhetorik“ das Außerordentliche am Auftreten Jesu von Nazareth bis ins kleinste Detail herauszustellen suchte.

Kittels Haltung zum Judentum als Theologe und judenfeindlicher Forscher wurde in drei Beiträgen bis in die dunkelsten Winkel seines antisemitischen Wirkens ausgeleuchtet. MATTHIAS MORGENSTERN (Tübingen) zeigte die merkwürdige Ambivalenz auf, die Kittels Haltung zu Christen jüdischer Herkunft („Judenchristen“) einnahm. Einerseits würdigte er deren religiöse Bedeutung, andererseits verwehrte er ihnen trotz Taufe die vollständige Aufnahme in die christliche Kirche aus biologisch-deterministischer („rassischer“ bzw. „völkischer“) Überzeugung. HORST JUNGINGER (Leipzig) demonstrierte aus religionswissenschaftlicher Perspektive den bei Kittel tief verankerten Antitalmudismus und dessen wissenschaftlich legitimierte Funktionalisierung für die judenfeindliche Propaganda zur Vorbereitung der Judenvernichtung. DIRK RUPNOW (Innsbruck) zeichnete in klaren Strichen die Position Kittels in der institutionalisierten NS-Judenforschung (Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Forschungsabteilung Judenfrage) nach, die den Antisemitismus als politische Vorgabe unhinterfragt übernahm und sich als „kämpfende Wissenschaft“ verstand.

JAKOBUS KOK (Leuven) konnte auf bisher unbekannte Quellen zu Kittel verweisen, durch welche die Verbindung südafrikanischer Studenten, die in Amsterdam bei Grosheide und in Tübingen bei Kittel studierten, bis in die Genese und Umsetzung der südafrikanischen Apartheidspolitik lange nach Kittels Tod reichten. Zwei grundsätzlichere Beiträge sollten die verschiedenen Linien der Forschung verbinden und Fragestellungen vertiefen. ALON SEGEV (Chicago/Haifa) befasste sich mit religionsphilosophischen Modellen, die das Verhältnis von protestantischer Religion und Gewalt erhellen können. Neben Girard und Assmann, deren Theorien Segev verwarf, schlug er vor, die Ambivalenzen Kittels gegenüber dem Judentum im augustinischen Modell des Judentums als Zeichen für die Wahrheit des eigenen (christlichen) Glaubens zu begründen, das im Rahmen der Zuschreibung des „Fremdlings“ beständig sowohl beschützt als auch bestraft werden musste, um seine Funktion als Zeichen für das Christentum erfüllen zu können. MANFRED GAILUS (Berlin) schließlich zählte die Erfordernisse an eine Biographie Kittels auf, die als Herausforderung für Theologie, Geschichtswissenschaft und Religionswissenschaft zu gelten haben. Gailus verwies auf die Elemente in der Haltung Kittels, die für den Protestantismus des 20. Jahrhunderts typisch gewesen seien und damit den Protestantismus insgesamt träfen wie etwa eine „hybride Gläubigkeit“, die durch einen Mangel an Mitgefühl charakterisiert sei.

In der angeregten Abschlussdiskussion wurde von Bormann eingewendet, dass gerade die extreme Bereitschaft für den NS-Staat judenfeindlich aktiv zu werden, die Besonderheit Kittels ausmache. Diese habe Kittel zur Erwägung geführt, von der im NS-Staat wenig angesehenen Evangelischen Theologie in die Religionswissenschaft zu wechseln. Junginger stellte die von Steinweis im Anschluss an Siegele-Wenschkewitz in die Debatte gebrachte Vorstellung einer „Bekehrung zum Antisemitismus“ infrage.4 An einem lange vor 1933 verfestigten und kulturell akzeptierten wie verbreiteten Antisemitismus im Milieu Kittels kann nach den Ergebnissen Johns über die frühen Greifswalder Jahre kein Zweifel sein. Dennoch blieb die Frage offen, welche Motive leitend gewesen sind, die Kittel zur Mitwirkung an den menschenfeindlichsten Formen des Antisemitismus bewegt hätten: Karriere- und Geltungssucht, Opportunismus, Obrigkeitsglaube oder doch eine tief verankerte, geradezu religiös-mystische Judenfeindlichkeit, die Philosemitismus und Antisemitismus irrational miteinander verschmolz? Überlegungen zum Austausch und zur Zusammenführung der verstreut archivierten Quellen zu Kittel schlossen die Tagung ab.

Konferenzübersicht:

Christl M. Maier (Dekanin des Fachbereichs Ev. Theologie, Marburg): Empfang und Begrüßung in der Alten Universität

Lukas Bormann (Marburg): Gerhard Kittel als Repräsentant der deutschsprachigen Exegese 1920–1960: Forschungsstand und gegenwärtige Herausforderungen

I Kittels frühe Jahre

Roland Deines (Liebenzell): Gerhard Kittel und Adolf Schlatter

Felix John (Greifswald): Gerhard Kittel in Greifswald (1921–1926)

Arie Zwiep (Amsterdam): Gerhard Kittel und Fredrik W. Grosheide: Ein Briefwechsel über drei Jahrzehnte (1920–1946)

II Kittel als Exeget und Theologe

Hannah Kreß (Münster): Gerhard Kittel und Hugo Odeberg

Guido Baltes (Marburg): Die Artikel von Gerhard Kittel und Hugo Odeberg zu den biblischen Namen im ThWNT

Hans Förster (Wien): Exegese und Judentum im ThWNT

Martin Leutzsch (Paderborn): Gerhard Kittels Jesusbild

III Kittel zwischen Philo- und Antisemitismus

George Harinck (Amsterdam): The image of Judaism in Abraham Kuyper and Gerhard Kittel, and its early impact in the Netherlands

Matthias Morgenstern (Tübingen): Das Verständnis des Judenchristentums bei Gerhard Kittel

Horst Junginger (Leipzig): Anti-Talmudismus bei Gerhard Kittel

Dirk Rupnow (Innsbruck): Gerhard Kittel und die NS-Judenforschung

IV Internationale Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

Jakobus Kok (Leuven): Justifying Apartheid from Scripture? Kittel and his reception in South Africa: The case of Evert P. Groenewald

Bart Wallet (Amsterdam): Theologie und Gegenwart: Gerhard Kittel, Frederik W. Grosheide und die Judenfrage

Gert van Klinken (Amsterdam): Antisemitism and Anti-Judaism in the Reformed Churches in the Netherlands 1896–1940

V Ausblicke und Auswertung

Alon Segev (Chicago): Religion and Violence – Gerhard Kittel in Historical and Theological Context

Manfred Gailus (Berlin): Die Biographie Gerhard Kittels: Eine Herausforderung für Theologie und Geschichtswissenschaft

Diskussion der Tagungsergebnisse

Anmerkungen:
1 Vgl. Manfred Gailus / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Christlicher Antisemitismus im 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theologe und »Judenforscher« Gerhard Kittel, Göttingen 2019 (Berichte und Studien 79); Matthias Morgenstern / Alon Segev, Gerhard Kittels Verteidigung: Die Rechtfertigungsschrift eines Tübinger Theologen und »Judentumsforschers« vom Dezember 1946, Berlin 2019.
2 Vgl. Alan E. Steinweis, Studying the Jew. Scholarly antisemitism in Nazi Germany, Cambridge, MA 2006, S. 66–76.
3 Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 10 Bd., Darmstadt 2019.
4 Vgl. Leonore Siegele-Wenschkewitz, Neutestamentliche Wissenschaft vor der Judenfrage. Gerhard Kittels theologische Arbeit im Wandel der deutschen Geschichte, München 1980, S. 36: „Kittel ist erst durch die politischen Verhältnisse des Jahres 1933 und deren Einschätzung, die sich nachträglich auch ihm selbst als Fehler herausstellte, zu einem antisemitischen Wirken gekommen.“


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