Groß und Klein in der Geschichte des Ostseeraums. Die Veränderung der Staatenwelt durch die Jahrhunderte und ihre historiographischen Reflexionen

Groß und Klein in der Geschichte des Ostseeraums. Die Veränderung der Staatenwelt durch die Jahrhunderte und ihre historiographischen Reflexionen

Organisatoren
Ständige Konferenz der Historiker des Ostseeraums (SKHO)
Ort
Tartu/Estland
Land
Estonia
Vom - Bis
29.06.2005 - 02.07.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Karsten Brüggemann, Narva/Estland

Die SKHO hat sich zum Ziel gesetzt, ihren Mitgliedern aus den zehn Ländern des Ostseeraumes ein Begegnungs- und Diskussionsforum zu sein, auf dem die die Ostseeregion konstituierenden und prägenden geschichtlichen Entwicklungen zur Sprache gebracht werden. Das Oberthema der 4. Tagung war dementsprechend breit gewählt, wobei die "staatstragende" Historiographie der Ostseeanrainer von zentraler Bedeutung sein sollte. Nach der Begrüßung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch den Gastgeber MATI LAUR (Tartu) führte HORST WERNICKE (Greifswald) in das Tagungsthema ein, wobei er die Besonderheit der Tagungen der SKHO betonte, die für gewöhnlich sowohl mittelalterliche, frühneuzeitliche sowie zeithistorische Themen zum Gegenstand haben.

NORBERT ANGERMANN (Hamburg) eröffnete die Reihe der Vorträge mit einer Würdigung der Verdienste deutschbaltischer Historiker um die seit 1876 im Hansischen Geschichtsverein konzentrierte Beschäftigung mit der Hansegeschichte. Schon allein die zentrale Stellung der baltischen Städte im Hansehandel habe dazu geführt, dass die Relevanz der Hanse in der livländischen Geschichte sich auch in der deutschbaltischen Historiographie niederschlug. Stadthistoriker wie K. Mettig (zu Riga), H. Laakmann (zu Pernau) oder der im Juni 2005 verstorbene H. v.z. Mühlen (zu Reval) nahmen zwangsläufig auch hansische Themen auf, und für den Russlandhandel leistete namentlich W. Schlüter Grundlegendes. Die aus dem Baltikum stammenden Waitz-Schüler K. Höhlbaum und G. v.d. Ropp zeichneten für die großen Editionsprojekte der Hansischen Urkunden und der Hanserecesse mit verantwortlich, außerdem trat W. Stieda als Quellenherausgeber hervor. Wie kein anderer hat nach dem Zweiten Weltkrieg der aus Reval stammende Hamburger Professor P. Johansen das westdeutsche Bild des hansischen Osthandels geprägt. In der Diskussion nahm Angermann dezidiert Stellung zu der von Johansen aufgestellten These, der Russlandhandel habe längere Zeit nur Luxusgüter umfasst und sei von keiner großen Bedeutung für die Hanse insgesamt gewesen, wohingegen die neuere russische Forschung (E. Rybina) behauptet hat, dass der Hansehandel nicht so wichtig für die Stadt gewesen sei. Angermann kritisierte beide Ansichten, da einerseits das Kontor in Russland sehr stark frequentiert worden sei und andererseits ohne die Hanse sich weder der Novgoroder Metall- noch der Pelzhandel in dem Masse entwickelt hätten.

Der Tartuer Mediävist ANTI SELART wies auf kommunikationstechnische Besonderheiten im Verhältnis Livlands mit dem Papsttum hin. Ihm zufolge ist die oft gestellte Frage nach den Einflussmöglichkeiten der Kurie im äußersten Nordosten, die oft nur aus dem Inhalt der päpstlichen Botschaften herausgelesen worden seien, in erster Linie eine Frage der Navigations- und Reisebedingungen. Schon aus Gründen der mangelnden Informationen über die Situation in Livland war man in Rom von den Petenten abhängig. Die von Selart vorgenommene Analyse der päpstlichen Urkunden in Bezug auf den Zeitpunkt ihrer Abfassung sowie in Bezug auf die von ihnen behandelte Region bestätigt für die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts einen Höhepunkt der Livland betreffenden Urkunden von Oktober bis Januar sowie im April. Ein ähnlicher Befund ergab sich bei der Untersuchung der Dänemark betreffenden Urkunden. Offensichtlich gab es daher eine Art Wettrennen der verschiedenen livländischen Petenten zur Kurie, wofür die ersten im Frühling aus Lübeck nach Livland segelnden Schiffe auf ihrer Rückfahrt genutzt worden. Diese spezifischen Jahresrhythmen spiegeln somit in erster Linie die Reisemöglichkeiten, nicht die Interessen der Parteien.

Mit der recht neuen Richtung der Archäologie der Reformation machte im Anschluss EDGAR RING anhand des Lüneburger Beispiels bekannt. Schon seit dem 15. Jahrhundert hätten Alltagsgegenstände religiöse Motive gezeigt, die oft von einer graphischen Vorlage auf Ton übertragen worden seien. Die Reformation habe die Motive u.a. um Kampfbilder ergänzt. In Lüneburg hatte sich die Reformation spätestens 1530 durchgesetzt, wobei v.a. Brauer und Kaufleute sich zu dem neuen Glauben bekannten. Ring zeigte anhand von Ausgrabungsfunden die Umstellung des lokalen Handwerks auf "protestantische" Produktion, zu der Andachtstafeln und Lutherporträts auf Alltagsgegenständen gehörten. Dies sei als Serienproduktion im Dienst der Reformation zu deuten, die bis ins späte 16. Jahrhundert kontinuierlich fortgesetzt worden sei und eine spezifische Identität im öffentlichen und privaten Raum illustriert habe. Zu den Abnehmern dieser Produktion dürfte in erster Linie das Bürgertum gezählt haben.

Der in Narva/Estland lehrende Osteuropahistoriker KARSTEN BRÜGGEMANN befasste sich in seinem Vortrag über "die heimliche Liebe der Esten zum Meer" mit einem eigentümlichen Widerspruch zwischen der estnischen Fremd- und Selbstwahrnehmung. Während sich die Esten selbst als klassisches Bauernvolk imaginieren, sah schon die frühe russische Ethnographie sie nicht zuletzt aufgrund der geographischen Lage des Landes als "Menschen des Meeres". Estnische Forscher hätten selbst bereits eine auffällige Abwesenheit der Ostsee im nationalen Diskurs festgestellt. Brüggemanns Ausführungen fragten anhand von schriftlichen Quellen und der oralen Tradition nach der Rolle des Meeres für die estnische Nation. Obgleich bereits während des "nationalen Erwachens" in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine estnische "Meeresmentalität" beschworen wurde, geriet sie im Laufe des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit und lebte höchstens noch in der Legende von den estnischen Wikingern, die Ende des 12. Jahrhunderts das schwedische Handelszentrum Sigtuna brandschatzten. Für das junge nationale Narrativ wiederum war diese Legende konstitutiv, um zu zeigen, was die Nation durch die deutsch-dänische Kolonisation im 13. Jahrhundert verloren habe. Während der Sowjetzeit wiederum könnte eine nähere Beschäftigung mit der Beziehung der Esten zum Meer schon aus ideologischen Gründen unerwünscht gewesen sein. Gerade die Sowjetisierung des Landes habe an den Küsten, die von nun an zu einer streng bewachten Grenze wurden, zu einem Traditionsbruch geführt, der sich in der Emigration ganzer Bevölkerungsgruppen wie der Küstenschweden und der Deportation ganzer Berufsgruppen (Kapitäne, Matrosen, Fischer) nach Sibirien äußerte.

Einen interessanten Blick auf Reval im Seekrieg lieferte JUHAN KREEM vom Stadtarchiv Tallinn. Er behandelte eine wohl als einmalig zu bezeichnende Aktion der Stadt im Jahre 1526, als sie 5 Schiffe ausrüstete, die den ehemaligen Gotländer Hauptman Sören Norby, der im selben Jahr von den Dänen verjagt worden war, vor Narva zur Schlacht stellten. Anhand der im Tallinner Stadtarchiv verwahrten Soldlisten legte Kreem eine materielle Bilanz des Unternehmens vor, das er im Revaler Kontext als "beachtliche Leistung" qualifizierte. Die Stadt hätte sonst nie mehr als 2 oder höchstens 3 Schiffe gleichzeitig im Dienst gehabt. Wie im Kriegswesen der Zeit üblich, behalf man sich mit Söldnern, ein Personal, das sich durch extrem hohe Fluktuationsraten auszeichnete. Auch die eingesetzten Schiffe waren angeworben worden, von den 5 Schiffen stammte je eins aus Turku und Gotland, während nur eines ausdrücklich aus Reval selbst kam. Reval scheint im frühen 16. Jahrhundert ein Zentrum der Söldneranwerbung gewesen zu sein, doch zeigt eine Untersuchung der 1526 aufgelisteten Namen, wie international die gegen Norby eingesetzte Mannschaft tatsächlich war, denn neben Livländern stellten Skandinavier einen großen Anteil, wobei aber auch u.a. Bremen, Köln und Brügge vertreten sind. Zu vermuten ist, dass auch einige wenige Esten und Finnen teilgenommen haben, doch lässt sich ihr genauer Anteil schwer abschätzen.

EVGENIJA NAZAROVA (Moskau) untersuchte in ihrem Beitrag die russischsprachige Historiographie zum Livländischen Krieg, wobei sie ihre Ausführungen auf drei aus dem Baltikum stammende Historiker beschränkte: R. Vipper, K. Landers, J. Zutis. In allen Fällen sei die Einflussnahme des Staates auf die akademische Forschung augenfällig gewesen. Vor allem die dritte, 1945 erschienene Ausgabe von Vippers Buch über Ivan IV. (Original 1922) sei in diesem Zusammenhang symptomatisch, da sie, für die Massenverbreitung konzipiert, die Schablonen des stalinistischen Geschichtsbildes getreulich übernahm, obgleich ihr Autor grundsätzlich als Gegner des Regimes zu bezeichnen sei. Anhand der von Landers und Zutis in den 1930er Jahren verfassten Artikel für die "Große Sowjetenzyklopädie" zu baltischen Themen könne nachvollzogen werden, wie sich in diesen Jahren das offizielle Bild des Livländischen Kriegs herausgebildet hätte. Während im Text zu Estland 1933 der Krieg noch kaum erwähnt wurde, hätte sich die Sicht des Regimes auf Ivans IV. Baltikumpolitik 1938, als der entsprechende Artikel veröffentlicht wurde, zementiert. Abweichungen von diesen Schemata seien in der Folge nicht mehr möglich gewesen.

OLAF MERTELSMANN (Tartu) stellte der estnischen Geschichte die Frage, ob es aus ökonomischen Gründen sinnvoll gewesen sei, aus dem Imperium auszuscheren, wo doch zweimal im 20. Jahrhundert alte ökonomischen Bindungen deswegen aufgelöst worden sind. Vor dem Ersten Weltkrieg habe Estland ökonomisch stark von der Einbindung in den imperialen Rahmen profitiert, auch wenn die Besitzverteilung ungerecht gewesen sei. Nach der Unabhängigkeit konnte sich das Land nur bis 1922 als Transitland profilieren, danach sei das Wirtschaftswachstum eher moderat gewesen. All dies sei jedoch schwierig nachzuvollziehen aufgrund der Veränderung in der Methodik der statistischen Datenerfassung. Mertelsmann zufolge sei sogar damit zu rechnen, dass hierdurch die schwache Leistung z.B. der estnischen Landwirtschaft absichtlich verschleiert werden sollte. Die sowjetische Darstellung stand nach 1944 vor dem Dilemma, die estnische Unabhängigkeit verdammen zu wollen und zugleich das Zarenreich nicht zu verherrlichen. Mertelsmanns Beurteilung der Sowjetisierung der estnischen Wirtschaft ist eindeutig. Der Einbezug in das Sowjetimperium sei verheerender gewesen als die Folge der Kriegszerstörungen. Zwar handelte es sich beim sowjetischen System keinesfalls um koloniale Ausbeutung, da sich Investitionen und Ausfuhren grundsätzlich die Waage hielten. Die Ineffizienz der Kommandowirtschaft jedoch verstärkt die Auffassung, dass für die eingangs gestellte Frage die Wirtschaftsform des Imperiums entscheidend sei. Nach 1991 hingegen habe sich die Eigenstaatlichkeit als Garant für eine positive ökonomische Entwicklung erwiesen.

TORBJÖRN ENG (Stockholm) erläuterte die Konzeptionalisierung schwedischer Herrschaftsformen in der Frühen Neuzeit, die Schweden fundamentale Veränderungen gebracht hätte. Die Zentralmacht vergrößerte ihren Einfluss auf sowie ihre Kontrolle über Gesellschaft und Untertanen. Zudem erlebte Schweden eine erhebliche territoriale Expansion und später seinen Abstieg als Großmacht. Während der Zeit der Expansion wurden verschiedene neue Territorien unter der schwedischen Krone aufgrund verschiedener legaler Grundlagen vereinigt. Diese Entwicklung machte den schwedischen Staat wirtschaftlich, sozial, politisch, juristisch und administrativ heterogener, so dass er zu einem weiteren "Mischstaat" in Europa wurde. Eng analysierte die Rezeption der Zusammensetzung der schwedischen Herrschaftssphäre, die größer war als die Grenzen des eigentlichen Reiches, und erläuterte die Konzepte "Schweden" und "Reich" während der vornationalen Epoche, als die territorialen Rahmen Schwedens wie wir sie heute kennen sich noch keineswegs herauskristallisiert hatten. Das Konzept "Schweden" wurde, so die wesentliche Schlussfolgerung Engs, durch die gesamte aufgezeichnete Geschichte hindurch auf unterschiedliche Weise verstanden und ausgedrückt, wobei hieran wesentlichen Anteil die jeweiligen Zeitläufte sowie die fließende Natur der Grenzen in Zeit und Raum hatten.

Der Hamburger Historiker RALPH TUCHTENHAGEN beschäftigte sich mit dem dualistischen Konzept von Hegemonie und Gleichgewicht, dessen Wirkung für den Ostseeraum bislang noch nicht untersucht worden sei. Nach Auffassung der Dehio-Schule hätten sich die bedeutenden Entwicklungen der Frühen Neuzeit im atlantischen Bereich und in Eurasien, nicht jedoch im Ostseeraum abgespielt. Zwischen 1890 und 1940, unter dem Einfluss von Geopolitik, Volkstumsforschung und Rassenlehren, sei die Ostsee von deutschen und schwedischen Historikern als "germanisches Meer" gesehen worden, als modernes Mittelmeer, das Natur und Geist der germanischen Welt besessen und als Damm gegen das "asiatische Nomadentum" gedient habe. Ein einheitliches "Dominium maris Baltici" habe jedoch erst Schweden begründen können. Demgegenüber sei in der internationalen Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem der russische, niederländische und britische Einfluss in der Region betont worden, wobei sich in den 1970er Jahren das sozialwissenschaftliche Paradigma in Bezug auf die Handelsgeschichte durchgesetzt hätte. So konnte der Nachweis erbracht werden, dass im wirtschaftlichen Sinne das schwedische "Dominium maris Baltici" auf wackligen Beinen gestanden habe. Die marxistische Forschung habe die Dialektik von Kapitalismus und Feudalismus betont, womit sie auf den Dualismus der politisch-militärischen Hegemonie von Monarchie und Adel einerseits und Bürgertum/Handelshegemonie andererseits hinwies. Für die Gleichzeitigkeit der politisch-militärischen Hegemonie Russlands und der kapitalistischen Englands bot sie jedoch keine Erklärung. Abschließend wies Tuchtenhagen darauf hin, dass es außer der These von der Ostsee als "protestantischem Meer" keine konfessionell angeleitete Konzeption der Geschichte des Ostseeraums gebe. Auch für die These einer gemeinsamen Ostseeidentität tauge bisherige Forschung über die Frühe Neuzeit im Ostseeraum kaum. Wie sich in der Diskussion herausstellte, zweifelte der Referent auch die identitätsbildenden Potentiale anderer Epochen an.

Unter der interessanten Fragestellung, ob Schweden im 17. Jh. eine Kolonialherrschaft im Baltikum ausgeübt habe, beleuchtete ALEKSANDER LOIT (Stockholm) das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, das ab den 1680er Jahren jedoch von Zentralisation und Integrationsbemühungen seitens Stockholms gekennzeichnet gewesen sei. Spätestens jetzt seien die Bauern nicht anders als in Schweden selbst behandelt worden, wie sich in der Reduktionspolitik gezeigt habe. Diese hätte vor allem in Livland zu einer Bauernbefreiung geführt, wäre sie durchgeführt worden. Vor allem den Bildungsreformen, welche die Krone in Est- und Livland anstieß, hätte ein enormes traditionsbildendes Potential für die Bevölkerung innegewohnt. Stockholm wollte sowohl mit den Gemeindeschulen als auch mit der Gründung der Universität Tartu (Dorpat) neue menschliche Ressourcen für die Weiterentwicklung der Gesellschaft heranziehen und sich eine eigene Machtbasis unter den Letten und Esten schaffen, um nicht immer nur mit den Deutschbalten konfrontiert zu sein. Wenn Kolonialbeziehungen durch ihre Ungleichheit charakterisiert sind, dann, so fasste Loit zusammen, war vor allem die letzte Phase schwedischer Herrschaft im Baltikum nicht kolonial. Die schwedische Integrationspolitik habe sich auf die Mobilisierung aller Ressourcen konzentriert und gleichzeitig die Emanzipation der einheimischen Bevölkerung vorangetrieben.

PÄRTEL PIIRIMÄE aus Cambridge sprach über das Thema "Patriot oder Verräter: Johann Reinhold Patkuls polemische Schriften". Patkul war durch seinen Kampf gegen die schwedische Reduktionspolitik in den 1690er Jahren bekannt geworden, weshalb er 1694 zum Tode verurteilt wurde, bald darauf floh, 1699 in die Dienste August d. Starken trat und 1702 russischer Botschafter in Sachsen wurde. Nach dem Altranstädter Frieden wurde er an Stockholm ausgeliefert und 1707 hingerichtet. Patkuls Auffassung nach habe sich Livland nur dem König von Polen unterworfen und daher nur in Personalunion mit Schweden - weshalb die Reduktion ohne die Zustimmung der Ritterschaft unrecht sei. Piirimäe analysierte die Auseinandersetzung als Konflikt zwischen dem begrenzten, gewährten Recht des Monarchen auf Herrschaft und dem absolutistischen Anspruch Schwedens. Aus schwedischer Perspektive habe Patkul sich angemaßt, im Namen des Vaterlands aufzutreten, wodurch er zum Verräter wurde, da er selbst nur Livland als Vaterland gelten ließ. Die Reduktion wiederum sei im öffentlichen Interesse, das Karl XI. wichtiger war als alte Verträge. Abschließend wies Piirimäe darauf hin, dass sich Patkul in seinen Verteidigungsschriften geschickt auf das von Pufendorf postulierte natürliche Recht auf Selbstschutz berief, um gegen den König aufzutreten - Pufendorf war Hofhistoriker Karls XI.

In einem kommunikationsgeschichtlich aufschlussreichen Referat sprach ENN KÜNG (Tartu) über die Einführung eines Postsystems in Est- und Livland während der schwedischen Herrschaft. Schweden war bis 1636 ohne ein eigenes Postsystem und nur über Dänemark mit Europa verbunden. Bis Ende 1630 waren auch in Livland nach schwedischem Vorbild die Kronbauern zur Beförderung von königlichen Postsachen verpflichtet (Vorspannverpflichtung), seither hatte sich die Gouvernementsverwaltung um die Beförderung zu kümmern. Riga wurde in der Folge zum zentralen Knotenpunkt im Baltikum. Am 5.3.1631 wurde die estländische Postordnung verkündet, die für die staatliche Post entlang der Hauptstraßen ein von den umliegenden Gutsherren zu organisierendes Beförderungssystem vorsah, wofür die Ritterschaft die Verantwortung trug. Da Estland freiwillig unter schwedische Herrschaft getreten war, meinte letztere jedoch, sich ihren Pflichten entziehen zu können. Nach der Verbindung der beiden Postroutennetze in Livland und Ingermanland und dem Anschluss an das Postsystem Schweden-Finnlands entstand in den 1640er Jahren die dringende Notwendigkeit, eine Verbindung mit der Nachbarprovinz Estland herzustellen. Schließlich sei es zu einer Vertraglösung gekommen, so dass auch der estländische Bereich in das schwedische System einbezogen werden konnte, nachdem zuvor das ingermanländische Narva sowie das livländische Tartu die einzigen estnischen Poststationen besaßen.

ERKKI KOURI (Helsinki) beschäftigte sich mit der Rolle der finnischen Sprache im Schwedischen und im Russischen Reich. Versuche, in Finnland das Schwedische zu verwurzeln galten im Erbkönigtum als Voraussetzung für einen zentralisierten Staatsapparat. Erfolge zeitigten sich allerdings nur bei der Schwedisierung der finnischen Oberschicht, die Volkssprache blieb Finnisch. Diese Vereinheitlichungspolitik habe dazu geführt, dass die Entwicklung der finnischen nationalen Kultur anhielt. Pragmatische Erwägungen, wenigstens Gesetzestexte ins Finnische zu übertragen, kamen noch im 17. Jahrhundert über Entwürfe nicht hinaus. Im 18. Jahrhundert setzte sich Kouri zufolge diese Diskriminierung fort. Finnische Forderungen, wenigstens die Reichsbeamten in Finnland sollten Finnisch können, wurden von höherer Instanz abgewiesen. Aber auch nach den Napoleonischen Kriegen und dem Einbezug Finnlands als Großfürstentum in das Russische Reich gewann das Schwedische weiter an Präsenz. In einem Spracherlass verbaten die Behörden 1850 die Publikation von politischen Schriften auf Finnisch, trotzdem ergab sich nach 1848 eine Wende der Nationalbewegung zur offenen Loyalität dem Zaren gegenüber. Dafür dankte St. Petersburg mit der Einführung von Professuren für Finnisch und finnische Geschichte an der Universität Helsinki. 1858 wurde das Finnische schließlich als Verwaltungssprache auf kommunaler Ebene zugelassen, der Prozess der Ablösung des Schwedischen setzte ein, der bis ins 20. Jahrhundert währte. Als Schlussfolgerung betonte Kouri, dass es ohne das Russische Reich keine so rasche Emanzipation des Finnischen gegeben hätte, da das Land unter schwedischer Herrschaft dem irischen Beispiel gefolgt und Finnisch an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden wäre.

Der Berliner Historiker REINHOLD ZILCH betrachtete die Selbstrepräsentation junger Staaten der Zwischenkriegszeit mit Hilfe von numismatischen Objekten. Als Teil der visuellen Kultur seien Münzen und Scheine Träger nationaler Identität schon aufgrund der zwangsläufigen Totalität ihrer Verbreitung. Nach einem kurzen Überblick über die gemeinsamen Vorgänger der jeweiligen nationalen Währungen in Estland, Lettland, Litauen und Polen, die russischen Rubel sowie das Geld der deutschen Okkupationsverwaltung OberOst - letzteres im Gegensatz zu den Rubeln mehrsprachig! - und der diversen russischen Bürgerkriegsadministrationen, stellte Zilch die alten und neuen Währungen im Bild vor. Dabei sei ein deutlicher Unterschied der frühen und der späteren Motive festzustellen, als die Länder und ihre wirtschaftliche Situation sich gefestigt hatten und sie sich aufwändigere Druck- und Prägeverfahren leisten konnten. In den 1930er Jahren sei das Geld aber auch für den Personenkult der jeweiligen Machthaber genutzt worden. Insgesamt sei die Motivwahl von Modernität und Zukunftshoffnung gekennzeichnet gewesen; genutzt wurden v.a. allegorische Figuren und Persönlichkeiten der Geschichte. Dabei hätten "große" Staaten wie Polen und Litauen in erster Linie ihre Geschichte visualisiert, während in Estland und Lettland allegorische Darstellungen überwogen.

MUNTIS AUNS (Riga) berichtete über die Partizipation der Kleinstädte Alt-Livlands an den Städtetagen im 15. Jahrhundert. Gerade kurländische Magistrate seien sehr selten vertreten gewesen, offenbar aus Gründen der Handelskonkurrenz mit Riga. Auns beklagte, dass es kaum Material gebe, um etwas über die Identität der Kleinstädte und ihre Beziehungen zur Hanse zu erfahren. Die lettische Geschichte gründe sich immer noch auf den Stand der deutschbaltischen Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Heute seien die Verbindungen zur Hanse zwar wieder populär, um die Verbindung des Landes mit Europa zu belegen. Eigene Forschungen hingegen seien nicht erbracht worden, da die Letten sich nur für ihre eigene Geschichte interessierten - und die Hanse als "fremd" gelte.

Die St. Petersburger Archäologen DENIS CHRUSTALEV und NIKOLAJ NOVOSELOV behandelten mit der Kriegs-Marien-Kapelle in Viru-Nigula eines der umstrittensten Themen der estnischen Architekturgeschichte. Wahrscheinlich wurde diese Kapelle am Ende des 13. Jahrhunderts zur Erinnerung an eine Schlacht errichtet, die 1268 zwischen den Russen auf der einen und Deutschen und Dänen auf der anderen Seite stattgefunden hatte. Sie ist der älteste sakrale Steinbau Wierlands und der einzige mittelalterliche Zentralbau Estlands, was als Hinweis auf russische Einflüsse gesehen werden kann. Chrustalev und Novoselov verglichen Bauweise und Grundriss der Kapelle von Viru-Nigula mit einem ebenfalls Ende des 13. Jahrhunderts errichteten Kirchenbau bei Novo-Ol'govo im Rjazaner Gebiet der Russischen Föderation und kamen zu dem Schluss, dass es sich bei der Kriegs-Marien-Kapelle um den einzigen von russischen Meistern errichteten Sakralbau des Baltikums handele.

Zum Abschluss der Tagung gab die Musikwissenschaftlerin GEIU ROHTLA (Tartu) Einblicke in das öffentliche Musikleben der Universitätsstadt zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Bei seiner Entwicklung hätten vor allem die Universitätslehrer selbst eine bedeutende Rolle gespielt, da es keinerlei private oder gesellschaftliche Aktivität in diesem Bereich gab. Die 1802 wiedereröffnete Universität mit ihrer Aula hingegen entwickelte sich rasch zum Mittelpunkt des öffentlichen Lebens der Stadt, seit 1814 vor allem dank der neu gegründeten "Akademischen Musse", die neben den Professoren auch Vertreter des öffentlichen Lebens der Stadt vereinte. Rohtla zufolge stehe die sozialgeschichtliche Forschung im Bereich der Musikgeschichte in Estland erst an ihren Anfängen. Anhand der in der Unibibliothek vorhandenen Quellen entwickelte sie in ihrem Vortrag Grundzüge eines spannenden Forschungsgebiets. Musik stand allerdings als Gebrauchsmusik im Kanon der Fächer zunächst auf einer Stufe mit Schwimmen, Tanzen und Reiten. Sie habe einen Teil des Alltags verkörpert, doch finden sich in den Quellen wenige Informationen darüber, welche Musik bei gesellschaftlichen Anlässen zum Vortrag kam. Seit 1807 gab es das Amt des Universitätsmusiklehrers; Kandidaten mussten eine eigene Komposition bei der Kommission einreichen. Zur Erbauung der Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer wurden einige dieser Arbeiten im Anschluss an den Vortrag im Historischen Museum der Stadt Tartu vorgetragen.

Tagungen wie diese sind schwer zu resümieren, da die verschiedenen Fragestellungen oft nur die Konstante des Raumes haben. Aber mit Sicherheit bieten die Tagungen der SKHO interessierten Forscherinnen und Forschern die Möglichkeit neue Ergebnisse einem Fachpublikum vorzutragen und neue Kontakte zu knüpfen. Nicht zuletzt geht es auch um die Vernetzung der durch den Kalten Krieg getrennten Ostseeanrainer. Es wäre zu wünschen, dass z.B. die schwedische Historikerzunft sich noch intensiver um das Erbe des Dominium Maris Baltici auch im östlichen Ostseeraum kümmerte und die Historiker aus den neuen EU-Staaten einmal ihren nationalen Tellerrand überschreiten. Für den Austausch über die Geschichte des Ostseeraums wären diese Impulse höchst willkommen.