Landesgeschichte im 21. Jahrhundert: Perspektiven - Impulse - Probleme. Tagung zu Ehren von Alois Gerlich aus Anlass seines 80. Geburtstags

Landesgeschichte im 21. Jahrhundert: Perspektiven - Impulse - Probleme. Tagung zu Ehren von Alois Gerlich aus Anlass seines 80. Geburtstags

Organisatoren
Abteilung für Mittlere und Neuere Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte am Historischen Seminar der Universität Mainz; Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2005 - 30.09.2005
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Von
Anna Sauerbrey, Abt. Mittlere und Neuere Geschichte und Vergleichende Landesgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Angesichts der Tatsache, dass die Landesgeschichte überall in Deutschland institutionell auf dem Rückzug ist, hatten es sich die Veranstalter der Tagung zum Ziel gesetzt, die Zukunft des Faches zu diskutieren, seine weiterführenden methodischen Konzepte herauszustellen und zu zeigen, wo die Landesgeschichte Ansätze und Methoden bereit hält, die der modernen Kultur-, Politik- und Sozialgeschichte neue Zugriffe und Erkenntnisse ermöglichen.

Sigrid Schmitt (Mainz) wies in ihrer Einleitung auf die intensive Diskussion auf dem Kieler Historikertag hin, an die die Tagung bewusst anknüpfen wolle. Gleichzeitig liege mit dem gerade erschienenen Aufsatz von Matthias Werner 1 eine ausgezeichnete Bestandsaufnahme vor, auf die die Diskussion über die Zukunft des Faches aufbauen können.

Diskutiert wurde in drei Teilen: In der ersten Sektion sollte zunächst ein Überblick über die Konzepte und Methoden der Landesgeschichte gegeben werden. Im zweiten Teil wurden interdisziplinäre Ansätze der Landesgeschichte untersucht, hierbei wurden vor allem andere historische Disziplinen hinzugezogen, so die Kirchengeschichte, die historische Geographie, die Archäologie und die jüdische Geschichte. In der dritten und abschließenden Sektion wurde die Landesgeschichte im europäischen Kontext beleuchtet.

1. Konzepte und Methoden

Die Tagung wurde eröffnet mit einem Vortrag von Joachim Schneider (Würzburg), der eine überregionale Bestandsaufnahme der Programmatik der Landesgeschichte zwischen 1970 und 2005 bot. Er verband einen Überblick über die Strömungen der letzten Jahrzehnte mit einem Plädoyer für die vergleichende Landesgeschichte. Landesgeschichte solle weniger das Individuelle als vielmehr das Exemplarische eines Untersuchungsraumes herausstellen.
Einem dieser Ansätze, der Regionalgeschichte, widmete Werner Freitag (Münster) seine vergleichenden Untersuchungen. Er untersuchte das Selbstverständnis und das Potenzial der Landesgeschichte im Vergleich zur Regionalgeschichte. Als besonderen Vorteil der Landesgeschichte und auch als Grund für deren "Überlebensfähigkeit" stellte er ihren Syntheseanspruch sowie ihre Scharnier- und Servicefunktion heraus. Die Landesgeschichte wirke nicht nur als Scharnier zwischen den Epochen, sie biete außerdem für einen bestimmten Raum eine "Leitvorstellung", eine Rahmenerzählung oder Theorie. Darüber hinaus habe die Landesgeschichte eine Servicefunktion für die Bürger des jeweiligen Bundeslandes. Die Regionalgeschichte hingegen bleibe als reine Methode immer der allgemeinen Geschichte untergeordnet.
Mit der Konstitution der im Rahmen der Landesgeschichte untersuchten Räume beschäftige sich Jörg Rogge (Mainz). Gibt es, so fragte er, geographische Grenzen überschreitende Räume, die durch Kommunikation determiniert werden? Nach einer Darstellung und Synthese historischer und kommunikationswissenschaftlicher Untersuchungen zu dieser Frage kam er zu dem Schluss, dass Kommunikation Raum nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar schafft, zum Beispiel wenn Kommunikation gezielt zur Raumbildung eingesetzt wird. Es sei deshalb immer danach zu fragen, wer Kommunikation einsetze, mit welchem Inhalt und zu welchem Zweck.

2. Interdisziplinarität

Enno Bünz (Leipzig) stellte als Auftakt zur Sektion zu den interdisziplinären Anknüpfungsmöglichkeiten der Landesgeschichte Überlegungen zum Verhältnis zwischen Landesgeschichte und Kirchengeschichte an. Der Zugriff der Landesgeschichte auf kirchengeschichtliche Themen erfolge in der Regel über die Institutionen-, die Sozial- oder die Kulturgeschichte, konstatierte er. Dabei werde bisher vor allem die Pfarrei als Schnittstelle zwischen Kirche und Welt vernachlässigt. Insgesamt forderte Enno Bünz eine stärkere Integration von Kirchengeschichte, Landesgeschichte und Bistumsgeschichte.
Anschließend untersuchte Martina Stercken (Zürich) die Bedeutung von geographischen Karten für Herrschaftskonstitution im Mittelalter, indem sie kulturgeographische und historische Fragestellungen und Methoden verband. Anhand von mehreren Beispielen zeigte sie, dass Karten genutzt wurden, um Herrschaft im Raum zu verorten und den Herrschaftsanspruch zu manifestieren.
Lukas Clemens (Trier) verwies in seinem Vortrag auf mögliche Fallstricke interdisziplinären Arbeitens. Er nahm dabei besonders Bezug auf die historisch-archäologische interdisziplinäre Arbeit und erläuterte das Beispiel der Landesaufnahmen. Zur korrekten Auswertung und Nutzung, so seine These, sei die genaue Kenntnis der archäologischen Methoden von Nöten, andernfalls könne es leicht zu Fehlinterpretationen kommen. Daraus leitete er ein engagiertes Plädoyer für intensiven interdisziplinären Austausch ab.
In ihren Überlegungen zum Nutzen der Landesgeschichte für die Disziplin der jüdischen Geschichte machte Sabine Ullmann (Augsburg) deutlich, wie wichtig erstere gerade für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte in der frühen Neuzeit ist. Da in dieser Zeit die Juden zunehmend aus den Städten gedrängt wurden und das so genannte Landjudentum entstand, könne nur eine regionale Arbeitsweise sinnvoll sein. In der anschließenden Diskussion plädierte Sabine Ullmann dafür, die jüdische Geschichte als eigenständige historische Disziplin zu betrachten.

3. Landesgeschichte im europäischen Kontext

Zu Beginn der dritten Sektion zeigte Christine Reinle (Gießen) Vorteile und Tücken der vergleichenden Landesgeschichte im europäischen Kontext am Beispiel der Fehdeführung im späten Mittelalter in Deutschland und in England auf. Die Schwierigkeiten, so Christine Reinle, seien häufig begrifflicher Art. So habe der Begriff der Fehde bzw. der fewd in Deutschland und England unterschiedlichen Bedeutungsgehalt: Während in Deutschland die Fehde einen Rechtscharakter habe, könne davon in England aufgrund des königlichen Fehdeverbots keine Rede sein. Dennoch plädierte sie für den vergleichenden Ansatz, würden sich doch etwa interessante Ergebnisse beim Vergleich des Verlaufs von Fehden in Deutschland und England ergeben.
Jean-Luc Fray (Clermont-Ferrant) widmete sich einem internationalen Vergleich der Institution der Landesgeschichte. Er verglich den Stellenwert dieser wissenschaftlichen Disziplin in Deutschland und Frankreich. Er betonte, dass der Begriff der Region in Frankreich kein systematischer, sondern ein geographischer Begriff sei. In Frankreich, so seine These, werde aufgrund der zentralistischen Staatsvorstellung jede eigenständige Regionalidentität mit Misstrauen betrachtet, weshalb sich eine von der Allgemeinen Geschichte unabhängige Landes- oder Regionalgeschichte kaum herausbilden könne. In Deutschland hingegen diene die regionale Identität, gestützt durch die Landesgeschichte, als Surrogat für eine verlorene nationale Identität.

Zum Abschluss fasste Michel Pauly (Luxembourg) die Tagungsergebnisse zusammen. Der Landesgeschichte, so seine These, komme gerade in Zeiten eines erweiterten Europas große Bedeutung zu. Der Euroskepsis vieler Bürger, die sich etwa in der vielfältigen Ablehnung der europäischen Verfassung äußere, könne mit einer stärkeren Betonung der regionalen Verwurzelung bei gleichzeitiger Öffnung für das Europäische entgegen gewirkt werden.

Insgesamt präsentierte sich die Landesgeschichte als lebendiges, anderen Disziplinen gegenüber offenes und international vernetztes Forschungsfeld. Es wurde deutlich, dass die Landesgeschichte sowohl als Korrektiv der Allgemeinen Geschichte als auch als Experimentierfeld für neue, innovative Thesen und Theorien weiterhin ihren Platz in der deutschen inner- und außeruniversitären Wissenschaft beanspruchen kann und wird.

Die Publikation der Tagungsergebnisse ist für Ende 2006 in der Reihe "Geschichtliche Landeskunde" vorgesehen.

Anmerkung:
1 Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Wege und Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert. In: Peter Moraw/Rudolf Schieffer: Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert. Ostfildern 2005. =VuF, LXII. S. 252-364.


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