Stadtgeschichte in den polnischen Gebieten im 19. und 20. Jahrhundert

Stadtgeschichte in den polnischen Gebieten im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen, Slubice
Ort
Slubice
Land
Poland
Vom - Bis
16.09.2005 - 18.09.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Jens M. Boysen, Leipzig

Vom 16. bis zum 18. September 2005 hielt die Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen ihre Jahresversammlung als internationale Tagung im Collegium Polonicum in S?ubice ab, dem polnischen Zwilling von Frankfurt(Oder). Die 1945 geteilte und von grenzüberschreitend denkenden Enthusiasten seit einigen Jahren in "Slubfurt" umgetaufte Doppelstadt gilt seit der "Wende" als prototypischer deutsch-polnischer Begegnungsort. Auch für das Leitthema der Tagung - "Stadtgeschichte in den polnischen Gebieten im 19. und 20. Jahrhundert" - bot sie sich laut einem von Markus Krzoska zitierten Wort Theodor Fontanes besonders an. Neben der inhaltlichen Arbeit hatte die Kommission die Aufgabe vor sich, die durch den Rücktritt von Wolfgang Kessler auf der vorhergehenden Jahresversammlung des Jahres 2004 entstandene Vakanz des Vorsitzes zu beenden. Noch mehr als die anderen mit dem Marburger Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat verbundenen Historischen Kommissionen für die ehemaligen deutschen Siedlungsgebiete in Mittel- und Osteuropa war und ist die "polendeutsche" Kommission in einem langwierigen Prozeß der Standortbestimmung begriffen; dieser durchzog als Subtext die gesamte Tagung.

Nach der Eröffnung und Begrüßung durch den kommissarischen Vorsitzenden Hans-Werner Rautenberg (Kirchhain) präsentierte der designierte neue Vorsitzende Markus Krzoska (Mainz) in seinem einführenden Referat die neuere Stadtgeschichte als ein gerade für den Raum Ostmitteleuropa innovatives und paradigmatisches Forschungsfeld. Anhand der Städte, die sowohl Zentren der sie umgebenden Regionen als auch Mikrokosmen sui generis seien, ließen sich zum einen exemplarisch die inneren Entwicklungen neuzeitlicher Gesellschaften studieren: das Entstehen des Bürgertums und des damit verbundenen modernen Öffentlichkeitsbegriffs, In- und Exklusion bestimmter Schichten (Arbeiter) und Gruppen (etwa der Juden oder der Frauen). Dabei stehe mittlerweile die Alltagsgeschichte gleichberechtigt neben klassischen Forschungsbereichen wie der Stadtrechtsforschung oder der Stadtsoziologie. Die verdichtete Raumstruktur, einschließlich der massiven baulichen Umwälzungen in der Moderne, mache die sozialen Prozesse wie in einem Brennglas beobachtbar. Eine Schwäche der etablierten Städteforschung sei freilich die Fokussierung auf westeuropäische Beispiele; in der Region Ostmitteleuropa dränge sich besonders der Aspekt nationaler/ethnischer sowie religiöser Vielfalt und Durchmischung auf. Auch komplexe Akkulturationsprozesse ließen sich hier kleinräumig und damit präziser nachvollziehen als in größeren Räumen. Bisher sei allerdings in der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, aber auch anderen bi- bzw. multilateralen Konstellationen, die Geschichte der Städte oft als Kampfplatz exklusiver historischer Raumansprüche instrumentalisiert worden.

Hieran knüpfte Stefan Dyroff (Frankfurt/Oder) in seinem Referat über das deutsche Kulturleben in der Provinz Posen an. Er bestätigte an zahlreichen Beispielen die bisherige Tendenz vieler Historiker zur national getrennten Sicht auf den Gegenstand, die aber für einen großen Teil des 19. Jahrhunderts nicht angemessen sei. Dadurch seien Formen gemeinsamer deutscher und polnischer (sowie jüdischer) kultureller Aktivitäten, besonders in der reichen Vereinslandschaft (z.B. Schützengilden und Feuerwehrvereine), ausgeblendet worden und auch viele ‚unpassende' Quellen ungenutzt geblieben. Das habe aber auch mit dem allgemein geringen Stellenwert der Kultur in Stadtgeschichten zu tun. Ein weiteres Manko sei die Konzentration auf Metropolen und Vernachlässigung kleinerer urbaner Zentren.
Die folgende Diskussion unterstrich die vielfältigen externen und nichtwissenschaftlichen Einflüsse auf den Entstehungsprozeß solcher Studien: Zum einen neigten die klassischen Nationalhistoriographien bei der Betrachtung "eigener" Städte zur Ausblendung bzw. Degradierung "fremder" Bevölkerungsgruppen; zum anderen hätten auch noch heute - und nicht nur in Ostmitteleuropa - die Autoren von Stadtgeschichten z.T. mit massiven inhaltlichen Auflagen zu kämpfen, da die Auftraggeber bestimmte Aspekte der lokalen Vergangenheit lieber unbeleuchtet wüßten. So enthielten etwa viele Chroniken westdeutscher Städte kaum Hinweise auf den Beitrag der nach 1945 zugezogenen Vertriebenen. Spezifisch in ehemals ‚gemischten' Städten Polens - etwa in Lodz - wachse immerhin die Bereitschaft zur stärkeren Würdigung der nichtpolnischen (deutschen, jüdischen, russischen) Anteile an der Lokalgeschichte.

Wie im 19. Jahrhundert nationsübergreifende kommunale Strukturen trotz einer generellen Ethnisierung des Bewußtseins lange stabil bleiben konnten, zeigte Torsten Lorenz (Frankfurt/Oder) am Beispiel der Stadt Birnbaum/Mi?dzychód. Dabei betonte er die durch die Lage im deutsch-polnischen Grenzraum bedingte Zuspitzung und ideologische Unterfütterung allgemeiner Modernisierungsprozesse, speziell der Nationsbildung. Bereits seit 1815 vom Niedergang des posenschen Tuchmachergewerbes getroffen, habe Birnbaum noch um 1840 eine relativ stabile ‚ständische' Struktur besessen, in welcher ein sozialer Aufstieg für die polnische Minderheit nur durch Assimilation an die Deutschen möglich war. 50 Jahre später, sei unter dem Einfluß der Industrialisierung die Bevölkerungsstruktur durch deutsche und jüdische Abwanderung schon merklich zugunsten der Polen verschoben gewesen und hätten diese und die Deutschen sich separat zu organisieren begonnen. Die Stadtverwaltung habe sich aber um eine Entschärfung der Spannungen und Abschwächung der gesamtstaatlichen, polarisierenden Einflüsse bemüht. Dies habe auch für die nach 1920 bestehende polnische Stadtregierung gegolten; auch die Parteien hätten partiell zusammengearbeitet. Erst seit Mitte der 1920er Jahre, als durch den weitgehenden Bevölkerungsaustausch die Vertreter der alten Honoratiorenpolitik wegfielen, hätten sich beide Seiten voneinander zurückgezogen.
In der Diskussion betonte der Autor, überregionale und lokale Faktoren hätten das politische Leben der Stadt gleichermaßen beeinflußt, wobei lokale Konflikte meist wirtschaftliche Gründe gehabt hätten. Äußere Einflüsse seien vor allem durch die Presse übertragen worden.

Das von Markus Krzoska verlesene Referat von Dariusz Matelski (Posen) über "Deutsche in großpolnischen Städten im 19. und 20. Jahrhundert" war in seiner Nachzeichnung der preußischen bzw. polnischen Städte- und Siedlungspolitik eher konventionell gehalten und brachte im Sinne der neueren Städteforschung wenig Neues. Hanna Krajewska (Warschau) beschrieb mit den "Protestanten in den Städten Kongreßpolens" eine großenteils, aber nicht nur deutsch geprägte Bevölkerungsgruppe, die anfangs vor allem auf dem Land, später auch in den beiden Zentren Warschau und Lodz das öffentliche Leben mitprägte. Sie betonte den - trotz der Deutschstämmigkeit praktisch aller Pastoren - generellen Vorrang der Konfession vor der Nationalität sowie eine zunehmende Identifikation mit der polnischen Nationsidee. Dazu habe das gemeinsame Theologiestudium der "Kongreßpolen" an der Universität Dorpat wesentlich beigetragen; hier sei auch die Wurzel für die spätere Spaltung der Augsburgischen Kirche in "Deutsche" und "Polen" zu suchen. Ihrem Ruf entsprechend, seien die Protestanten im polnischen Bildungswesen überrepräsentiert gewesen und hätten zugleich typische Kulturformen wie das protestantische Pfarrhaus und das gemeindliche Engagement von Laien in Polen bekannt gemacht.

Hierzu als Vergleichsfall sehr nützlich gewesen wäre der geplante Vortrag von François Guesnet (Potsdam) über die Lodzer Juden als Beispiel "interethnischer Kohabitation", dessen sehr kurzfristige Absage zu Recht vom Vorstand moniert wurde. Das vorgezogene Referat von Peter Oliver Loew (Darmstadt) zeigte am Beispiel Danzigs eindringlich mögliche Ursachen für eine bis dato unvollkommene Stadtgeschichtsschreibung. Nachdem vor 1945 weder deutsche noch polnische Historiker viel Interesse am 19. Jahrhundert gezeigt hätten, seien im 2. Weltkrieg viele offizielle Quellen verloren gegangen. Andere Quellenarten wie die Presse, Erinnerungen und sonstige alltagsgeschichtliche Zeugnisse seien auch für jüngere Arbeiten kaum herangezogen worden; vielmehr würden diese auf der Basis vorhandener Editionen und von Sekundärliteratur verfaßt. Zur Nachkriegszeit und sogar für die mythische "Solidarno??"-Zeit seit 1980 gebe es praktisch keine Forschung. Allgemein liege in den Themen der Alltagsgeschichte die größte Chance zum Schließen mancher Wissenslücken.
Die drei folgenden Referenten befaßten sich mit Galizien, dessen seit je betonte ‚Andersartigkeit' gegenüber den preußischen und kongreßpolnischen Gebieten erneut deutlich wurde. Isabel Röskau-Rydel (Krakau) skizzierte, wie trotz des bis 1867 vor allem in Krakau und Lemberg bestehenden deutschsprachigen Schulwesens für die Kinder österreichischer Beamter und Offiziere diese sich häufig an das kulturell und politisch dominierende Polentum assimilierten. Dabei sei die national durchlässige Adelskultur ebenso funktional gewesen wie die erforderliche Mehrsprachigkeit des Dienstes in dem ethnischen Mischgebiet. Die ungewöhnliche Zusammensetzung der Bevölkerung von Brody in der Bukowina und ihre politische Bedeutung beleuchtete Börries Kuzmany (Wien): Nachdem es im 19. Jahrhundert allmählich seine führende wirtschaftliche Stellung aus der Zeit der Rzeczpospolita verloren hatte, zeichnete sich das überwiegend jüdisch, daneben polnisch und ruthenisch bewohnte Brody als kaisertreue und ‚deutschorientierte' Bastion aus, die sich - fast ohne Unterstützung durch die wenigen deutschen Beamten - der Polonisierung nach 1867 entgegenstellte. Harald Binder (Wien) erläuterte das von ihm in Lemberg initiierte Projekt eines stadtgeschichtlichen Instituts, das insbesondere den heutigen Bewohnern die historische Multiethnizität der galizischen Hauptstadt bewußt machen solle. Dies bedeute den Kampf mit dem bei Ukrainern und Polen tradierten nationalen Blick; bei den Ukrainern komme hinzu, daß ihr kollektives Selbstbild aus historischen Gründen stark ländlich geprägt sei. Der öffentlichkeitsorientierte Ansatz fand im Plenum breite Zustimmung.

Wieder nach Preußen führte der abschließende Vortrag von Bernard Linek (Oppeln) über das oberschlesische Zabrze vor dem Ersten Weltkrieg. Bei den überwiegend polnischsprachigen Arbeitern der dortigen Berg- und Stahlwerke habe bis ins 20. Jahrhundert eine ländliche und katholisch-konfessionelle Prägung fortgewirkt, die vor allem in der Frühzeit des Kaiserreiches eine zumindest teilweise Integration in die deutsche Reichsnation ermöglichte. Neben einem Trend zur Zweisprachigkeit habe auch im Arbeitsleben lange das Bild einer übernationalen Arbeitsgemeinschaft vorgeherrscht. Erst seit etwa 1900 habe sich auf beiden Seiten eine ethnonationale Wahrnehmung verbreitet und seien ‚nationale' Vereine entstanden. Trotz gänzlich anderer Strukturen bestand hier also eine Ähnlichkeit zum Fall Birnbaum.

Die Tagung machte deutlich, welches Potenzial die Stadtgeschichte im Hinblick auf die multiethnische Vergangenheit Ostmitteleuropas besitzt, aber auch, wie sehr tradierte nationale Sichtweisen gerade in den ehemals umkämpften ‚Überlappungsgebieten' die Historiographie prägen. Unterstrichen wurde vielfach der Nutzen des Vergleichs mit anderen ähnlichen Regionen. Mehrfach kam es zu Grundsatzdebatten über die wünschenswerte Ausrichtung der Kommission. Die von der neuen, verjüngten Führung um Markus Krzoska und Isabel Röskau-Rydel angestrebte Entwicklung hin zu einer Art deutsch-polnischer oder gar (ostmittel)europäischer Kommission für Beziehungsgeschichte ist faktisch schon seit Jahren im Gange; dies ist schon in der Beschäftigung mit einem Raum angelegt, in dem die Deutschen - anders als in den eigentlichen Ostgebieten - immer Minderheit waren. Die Anwesenheit zahlreicher polnischer Kolleginnen und Kollegen, von denen auch einige in die Kommission gewählt wurden, belegte diesen wichtigen Aspekt des angestrebten Gestaltwandels. Daher war aber auch die bei manchen Jüngeren spürbare Aversion gegen die historischen Wurzeln des Gremiums unangebracht, welche in den von der älteren Generation völlig legitimerweise betriebenen genealogischen und heimatkundlichen Studien verkörpert liegen. Nicht nur sind, wie im Plenum mehrfach betont wurde, viele Einzelheiten über das frühere Leben in jenen Gebieten oft allein aus ‚amateurhaften' Arbeiten zu entnehmen, sondern auch hier hat man in jüngerer Zeit durchaus begonnen, einen landeskundlichen Blick zu entwickeln, der mehr umfaßt als das eigene Volkstum. Somit besteht kein Widerspruch zu den modernen Fragestellungen, denen die Jüngeren aus ihrer naturgemäß anderen Perspektive nachgehen; es spiegelt sich hierin vielmehr die komplexe Entwicklung, welche die alte deutsche "Ostforschung" - ebenso wie die polnische "Westforschung" - durchlaufen mußte und durchlaufen hat. Wie meist in diesem Kontext, zeigten sich die polnischen Teilnehmer am gelassensten im Umgang mit dieser Geschichtlichkeit der Geschichtswissenschaft. Gerade von ihnen und auch von den Vertretern dritter Länder, die infolge einer umfassenden Öffnung des Gremiums in Zukunft der Kommission angehören werden, darf man daher auch weitere sachliche Impulse erwarten.