Biographieforschung im sozialwissenschaftlichen Diskurs

Biographieforschung im sozialwissenschaftlichen Diskurs

Organisatoren
Gabriele Rosenthal, Michaela Köttig, Nicole Witte und Thea Boldt vom Methodenzentrum Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen in Kooperation mit den Sektionen Biographieforschung und Methoden der Qualitativen Sozialforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.07.2005 - 03.07.2005
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Von
Christine Mueller-Botsch, FU Berlin

Die Beschäftigung mit Biographien boomt seit einigen Jahren in der Geschichtswissenschaft. Neben Einzelbiographien stehen Fragen nach Handlungskontexten, -spielräumen und -motiven sowie Erfahrungen von Angehörigen verschiedener Gruppen im Zentrum zahlreicher Studien. Häufig werden die Begriffe der „Kollektivbiographie“ und „Gruppenbiographie“ aufgegriffen. Allerdings gelangt bei Fragen nach Erfahrungen und Motiven die mit soziobiographischen Daten vorwiegend quantitativ arbeitende „Kollektivbiographie“ an ihre Grenzen. Hinsichtlich der qualitativen Biographieforschung fehlen innerhalb der Geschichtswissenschaft bisweilen Reflektionen über angemessene Methoden, die Reichweite der Aussagen sowie die Verallgemeinerbarkeit von Ergebnissen.1 An dieser Stelle erscheint ein Blick in die sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen, die sich seit mehreren Jahrzehnten theoretisch, empirisch und methodologisch mit Biographieforschung beschäftigen, angemessen und gewinnbringend.

Neuere Versuche, qualitative biographische Forschung mit verschiedenen anderen Forschungsansätzen und theoretischen Konzepten zu verbinden, standen im Mittelpunkt der interdisziplinären Tagung „Biographieforschung im sozialwissenschaftlichen Diskurs“, die vom 1. bis 3. Juli 2005 in Göttingen stattfand. Sie wurde veranstaltet von Gabriele Rosenthal, Michaela Köttig, Nicole Witte und Thea Boldt vom Methodenzentrum Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen in Kooperation mit den Sektionen Biographieforschung und Methoden der Qualitativen Sozialforschung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Anhand neuerer und laufender empirischer Studien wurden verschiedene Wege erörtert, auf denen über die einzelnen empirisch rekonstruierten Biographien hinaus Aussagen über vergangene oder gegenwärtige Gesellschaften und deren Teilbereiche getroffen werden können.

Das umfangreiche Programm umfasste drei Plenarvorträgen, 8 Sektionen mit über 30 weiteren Vorträgen sowie drei Forschungswerkstätten, in denen Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus zahlreichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen methodische und theoretische Aspekte der Biographieforschung diskutierten.2 In den einzelnen Sektionen wurde jeweils das Verhältnis der Biographieforschung zu einem bestimmten Forschungsgebiet, -konzept oder theoretischen Ansatz erörtert. Mehrere Plenarvorträge und Sektionsthemen entsprachen in ihrer übergeordneten Fragestellung einzelnen Beiträgen in einem neu erschienenen Sammelband zum Thema „Biographieforschung im Diskurs“.3 Unter den verwendeten Quellen der vorgestellten Studien dominierte das narrative biographische Interview, zunehmend ergänzt um bzw. ersetzt durch andere qualitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren, wie teilnehmende Beobachtung und Gruppeninterview, Aktenanalyse, Diskursanalyse oder die Analyse von Autobiographien.

Bereits der Eröffnungsvortrag zu „Biographie und Kollektivgeschichte“ verdeutlichte die Vielschichtigkeit und Interdisziplinarität des Forschungsfeldes Biographieforschung. Anhand erster Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zu Familien von Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion verdeutlichte Gabriele Rosenthal (Göttingen), inwieweit Biographie und Geschichte nicht als getrennt voneinander zu verstehen sind, vielmehr Biographie immer in der Geschichte stattfindet. Biographieforschung beinhaltet immer auch die Rekonstruktion des historisch-sozialen Kontextes. Dies wird umso augenfälliger, je weiter der Untersuchungsgegenstand zurückreicht, etwa in der mehrgenerationellen Forschung. In der hermeneutischen Rekonstruktion von Lebens- und Familiengeschichten auf der Grundlage narrativer Interviews wird in Anlehnung an den Symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead sowie die Phänomenologie Edmund Husserls davon ausgegangen, dass es eine in die Gegenwart wirkende unwiderrufbare Vergangenheit gibt. Diese wird jedoch im Akt der gegenwärtigen Zuwendung durch die Verbindung von jeweiliger Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu organisiert. Dass auch auf mehrfache Aufforderung hin von den Interviewten kaum individuelle Lebens- und Familiengeschichten erzählt wurden, sondern vielmehr eine kollektive Geschichte der Deutschen in der Sowjetunion präsentiert wurde, verweist auf mehrere mögliche Ebenen: etwa auf ein gegenwärtiges Bedürfnis, sich vor dem Hintergrund von Diskriminierungserfahrungen nach der Migration in der Ankunftsgesellschaft stärker auf die kollektive Geschichte zu beziehen (Ethnisierung nach der Migration) oder auf die Wirkung von Erlebnissen in der jüngeren Vergangenheit, etwa Einreisebedingungen, die die Bezugnahme auf ein „Deutschtum“ verlangten. Zudem verweist dieses Phänomen, so die bisherigen Ergebnisse, insbesondere auf die gesellschaftlichen Bedingungen von Erfahrungsbildung in der Sowjetunion. Rosenthal nannte in diesem Zusammenhang die restriktive Erinnerungspolitik, etwa in Schulbüchern, die möglicherweise im Interview zum vielfachen Gebrauch von Metaphern und Bildern für das Erleben der tabuisierten Hungersnöte führte. Eine besondere Bedeutung komme dem homogenisierenden Prozess innerhalb dieser Gruppe durch die Internierungen und Zwangsumsiedlungen in den Osten der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges zu. Dieser gleichmachende Prozess verdecke Differenzen zwischen und innerhalb von Familien, etwa unterschiedliche Haltungen zum nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion, auch in der gegenwärtigen Darstellung.

Dass insbesondere die zunehmenden Mehrgenerationen-Studien zugleich historische und gegenwartsorientierte sozialwissenschaftliche Forschung sind, unabhängig davon, welche Zeitspanne sie in den Vordergrund rücken, wurde auf der Tagung auch in anderen Forschungsdesigns deutlich. Dies gilt für die Studie von Asiye Kaya (Berlin) über Alevitinnen und Sunnitinnen türkischer Herkunft in der Bundesrepublik ebenso wie für die Studien von Tanja Bürgel und Rüdiger Stutz (Jena) über die Erfahrung und Verarbeitung des historischen Bruchs 1989 durch Ostdeutsche (s.u.). Neben der Migrationsforschung wird gerade im Feld der gesellschaftlichen Transformationsforschung biographischen Studien ein besonderer Erkenntnisgewinn zugeschrieben, wobei die Individuen zugleich als an der Transformation beteiligt und diese verarbeitend verstanden werden.

Mehrere Beiträge auf der Tagung befassten sich mit DDR-Forschung und dem Transformationsprozess in Ostdeutschland seit 1989. In der Sektion „Biographieforschung und Oral History“ ging es unter anderem um konstruktive Verbindungen beider Forschungsansätze. Interessant hierbei war die Forschungsanlage eines Projektes, das am Beispiel der bis 1962 bestehenden Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Greifswald eine Institutionengeschichte aus Biographien des Lehrkörpers zu rekonstruieren sucht. Hierfür werden Biographieforschung und Oral History miteinander verbunden und schriftliches wie mündliches biographisches Material von Angehörigen des Lehrkörpers auf mehreren Ebenen analysiert. Ingrid Miethe und Martina Schiebel (Darmstadt) konnten eine produktive Ergänzung beider Verfahren in der Darstellung ihrer Ergebnisse verdeutlichen: Hermeneutische Fallrekonstruktionen auf der Grundlage narrativer lebensgeschichtlicher Interviews ermöglichen eine Typenbildung hinsichtlich der biographischen Bedeutung der Lehrtätigkeit an einer Bildungsinstitution der frühen DDR. Zur Rekonstruktion der Institutionengeschichte reichen jedoch biographische Fallrekonstruktionen nicht aus. Sie werden ergänzt um eine inhaltsanalytische Auswertung der Interviews, die mit den Methoden der Oral History institutionsrelevante Lücken zu schließen sucht, die man anders nicht füllen kann. Auf diese Weise sollen die Spannbreite des Erlebens von zeitgeschichtlichen und institutionellen Ereignissen und der handelnde Umgang mit diesen Ereignissen in die Analyse der Institution miteinbezogen werden. Dass bei der Inhaltsanalyse die Ergebnisse der hermeneutischen Fallrekonstruktionen als Kontextwissen vorliegen, ist von großem Vorteil: Damit besteht eine erhebliche Sensibilisierung für die Deutung ausgewählter Textstellen zu spezifischen institutionengeschichlichen Fragen. Das vorliegende biographische Material (Personalakten und Interviews) ermöglicht zudem die Beschreibung der Zusammensetzung des Lehrkörpers anhand einiger soziobiographischer Merkmale.

Kontrovers wurden Thesen aus dem Jenaer Projekt „Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im ostdeutschen Generationenumbruch“ diskutiert. Die von Tanja Bürgel und Rüdiger Stutz in zwei Vorträgen vertretene These, bei den Jahrgängen 1970-80 geborener Ostdeutscher handele es sich um eine potentiell eruptive und politisch prägnante Generation 4 stieß teilweise auf Kritik. Sie wurde von Peter Alheit (Göttingen) und Uta Karstein (Leipzig) mit erheblich differierenden Ergebnissen ähnlicher Projekte konfrontiert, die diese Gruppe als vergleichsweise „persistent“ bzw. durch eine starke familiale Kohäsion geprägt analysieren.5 Hier wurden die Grenzen der methodisch wenig reflektierten Oral History Methode der 1980er-Jahre und die Notwendigkeit, diese zu hinterfragen und zu verändern, deutlich.

Zahlreiche Anregungen für geschichts- und sozialwissenschaftliche Theoriebildung enthielt der Plenarvortrag von Bettina Dausien (Bielefeld) zum Verhältnis von Biographieforschung und Sozialisationsforschung. Der Vortrag ging von dem in Auseinandersetzung mit dem Strukturfunktionalismus in den 1970er Jahren entwickelten Paradigma aus, das Sozialisation als Prozess der „produktiven Realitätsverarbeitung“ (Klaus Hurrelmann) fasst. Dausien stellte in der Analyse der weiteren Forschungs- und Theorieentwicklung methodische und theoretische Herausforderungen fest, denen mit qualitativen biographischen Forschungsansätzen begegnet werden kann. Biographieforschung mit theoriebildender Forschungsstrategie biete die Möglichkeit, das gegenwärtige Auseinanderfallen von dekonstruktivistischer Theorieentwicklung und empirischer Forschung, das Theoriedefizit der gegenwärtigen empirischen Sozialisationsforschung sowie den Dualismus zwischen subjektbezogener qualitativer und umweltbezogener quantitativer Sozialisationsforschung zu überwinden. Insbesondere in der Entwicklung von Theorien mittlerer Reichweite, die auf die empirischen Fragen bezogen bleiben, lägen Chancen der qualitativen Biographieforschung.

Die Verbindung von biographischer Forschung und Diskursanalyse im Anschluss an Michel Foucault war Thema einer weiteren Sektion. In dieser wurde über sehr unterschiedliche Studien, wie etwa „Jüdischer Überlebenskampf und offizielle sowjetische Kriegserinnerung“ (Anika Walke, Oldenburg) oder „Erzählungen und Diskurse zu Geschlecht und Ethnizität am Beispiel der zapotekischen Region Juchitan“ (Elisabeth Tuider, Münster), diskutiert. In überzeugenden Forschungsanlagen wurden Verknüpfungen beider Forschungsansätze aufgezeigt. Themenübergreifende theoretische und methodische Fragen zur Relevanz von gesellschaftlichen Diskursen für Lebensgeschichten sowie die Mitproduktion von Diskursen durch Individuen wurden hier erörtert.

Auch der die Tagung abschließende Plenarvortrag von Bettina Völter und Thomas Schäfer (Berlin) beschäftigte sich mit der Verknüpfung von Diskursanalyse und Biographieforschung. Anschlussstellen zur Verbindung von Biographieforschung und Diskursanalyse sehen sie in der wissenssoziologisch und interpretativ orientierten Foucault-Rezeption in Deutschland. Es bestehe die Möglichkeit einer produktiven Weiterentwicklung beider Forschungsperspektiven durch Infragestellung bzw. Ergänzung durch die jeweils andere Perspektive. Indem die Diskursanalyse etwa Aufschlüsse über Verwobenheiten von Biographie, Diskurs und Subjektivität liefere, rege sie die Biographieforschung an, einige ihrer Annahmen zu hinterfragen, etwa die Vorstellung einer biographischen Gesamtgestalt. Dies könne auch eine Modifizierung der Interviewpraxis implizieren, etwa in der Formulierung der Eingangsfragen. Andererseits könne die Biographieforschung die Diskursanalyse ergänzen, indem sie empirisch gestützte Beiträge zur Veränderung und Produktion von Diskursen liefere.

Durch die innovativen und bisweilen überraschenden Verbindungen mit verschiedenen theoretischen Ansätzen und Forschungskonzepten zeigte die Tagung neue Potentiale und Entwicklungen der qualitativen Biographieforschung auf und bot damit für die Sozial- und Geschichtswissenschaften interessante und vielversprechende Impulse.

Anmerkungen:
1 Vgl. zur jüngeren Auseinandersetzungen mit biographischer Forschung in der Geschichtswissenschaft Thomas Etzemüller: Die Form „Biographie“ als Modus der Geschichtsschreibung. Überlegungen zum Thema Biographie und Nationalsozialismus, in: Michael Ruck/Karl Heinrich Pohl: Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003, S. 71-90; zur Auseinandersetzung mit „kollektiver Biographik“ Alexander Gallus: Biographik und Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 1-2/2005, S. 40-46, http://www1.bpb.de/publikationen/249NFW,0,0,Biographik_und_Zeitgeschichte.html
2 Zum Programm vgl. http://www.soziologie.de/sektionen/b02/Tagung/termine_juli05_programm.htm.
3 Vgl. Bettina Völter/Bettina Dausien/Helma Lutz/Gabriele Rosenthal (Hg.): Biographieforschung im Diskurs, Wiesbaden 2005; vgl. darin etwa zum Verhältnis Biographie und Kollektivgeschichte den Beitrag von Gabriele Rosenthal; zu Biographieforschung und Geschlechterforschung die Beiträge von Helma Lutz/Kathy Davis und Bettina Dausien/Helga Kelle; zur Verbindung von Biographieforschung mit der Figurationssoziologie von Norbert Elias und den Arbeiten von Pierre Bourdieu den Beitrag von Peter Alheit; zum Verhältnis von Biographieforschung und der Foucaultschen Diskursanalyse den Beitrag von Thomas Schäfer/Bettina Völter; zum Thema Biographie und Systemtheorie bei der Analyse gesellschaftlicher Transformation den Beitrag von Monika Wohlrab-Sahr.
4 Vgl. die Beiträge der Herausgeber in: Tanja Bürgel/Lutz Niethammer/Rüdiger Stutz (Hg.): Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im ostdeutschen Generationenumbruch, Mitteilungen des Sonderforschungsbereiches 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch. Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung“, Heft 12, Februar 2004; http://www.sfb580.uni-jena.de/veroeffentlichungen/zeitschrift/heft12.pdf.
5 Vgl. inhaltlich hierzu die Beiträge von Peter Alheit und Monika Wohlrab-Sahr in Völter/Dausien/Lutz/Rosenthal (Hg.) 2005.


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