Haeckels ambivalentes Vermächtnis: Biologie, Politik und Naturphilosophie

Haeckels ambivalentes Vermächtnis: Biologie, Politik und Naturphilosophie

Organisatoren
Leopoldina-Zentrum für Wissenschaftsforschung, Halle an der Saale
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.10.2019 - 08.10.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Anna Klassen, Lehrstuhl für Geschichte und Philosophie der Naturwissenschaften mit dem Schwerpunkt Lebenswissenschaften mit Ernst-Haeckel-Haus, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Der Biologe Ernst Haeckel verkörpert wie kaum ein anderer deutschsprachiger Naturwissenschaftler die Ambivalenzen biologischer Diskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Seine biologischen, populärwissenschaftlichen und weltanschaulichen Arbeiten bieten eine Fülle an Material für Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsphilosophie und Bildungsforschung, seine Eingebundenheit in verschiedenste Netzwerke stellt einen Ausgangspunkt für Medien- und Literaturgeschichte dar.

Die Herbsttagung des Leopoldina-Zentrums für Wissenschaftsgeschichte im Jahre des hundertsten Todestages von Ernst Haeckel hatte zum Ziel, ausgehend von dessen Leben und Werk das späte 19. und 20. Jahrhundert an den Schnittstellen von biologischen, politischen und naturphilosophischen Auseinandersetzungen zu beleuchten. Jenseits der gängigen Narrative war Haeckel Ausgangspunkt – nicht Zentrum – der vorgestellten Forschungsansätze. Auf der Tagung wurde zudem die Vielfalt wissenschaftsgeschichtlicher Fragestellungen und ihr Potenzial zur interdisziplinären Zusammenarbeit deutlich.

Eröffnet wurde die Tagung durch GUNNAR BERG (Halle an der Saale), der vor allem Haeckels Einsatz für die wissenschaftliche und öffentliche Verbreitung der Evolutionslehre betonte. Evolutionäres Denken zu schulen sei heutzutage immer noch eine der zentralen Aufgaben des Biologieunterrichts und Basis für eine Vielfalt wissenschaftlicher Disziplinen.

Die thematische Einführung erfolgte durch KRISTIAN KÖCHY (Kassel) und HEINER FANGERAU (Düsseldorf). Mit einem Hinweis auf die aktuelle Debatte zum Klimawandel machte Köchy deutlich, wie relevant auch heute der Diskurs über den Status naturwissenschaftlicher Aussagen und ihr Verhältnis zu Politik ist. Der Blick in die Geschichte in einem Zeitraum, in dem die heutigen Wissenschaftsideale geformt wurden und sich gegen andere Welterklärungsmodelle durchsetzen mussten, sei allein schon aus diesem Grund lohnenswert; Haeckel böte sich hier für eine geeignete Fallstudie an. Die Forderung, bei der Untersuchung von Haeckels Wirkung die Komplexität von historischen, gesellschaftlichen und auch erkenntnistheoretischen Bedingungen zu würdigen, war beiden Referenten wichtig. Fangerau berichtete von der Vorbereitung der Tagung. Der Call for Papers stellte nicht Haeckel als Person in den Vordergrund, sondern seine Arbeit als einen Überschneidungsbereich von Naturwissenschaft, Politik, Naturphilosophie und Weltanschauungen. Ein weiterer Schwerpunkt war die rezeptionsgeschichtliche Frage nach dem historiografischen Umgang mit Haeckel in deutschsprachigen Erinnerungskulturen.

Im ersten Vortrag der Tagung stellte HEINER STAHL (Siegen) anhand von Quellen aus der Haeckel-Online-Briefedition ein am Anfang stehendes medienhistorisches Forschungsprojekt über Popularisierungen von (Natur-)Wissenschaft im 19. Jahrhundert vor. Haeckel dient hier als Paradigma eines wissenschaftlichen Medienstars, der die Popularisierung biologischer Erkenntnisse sowohl als Vermarktungsmöglichkeit, aber auch zum Zwecke des Reputationsgewinns im Wissenschaftsbetrieb zu nutzen wusste. Im Fokus des Projekts steht die Emotionalisierung von wissenschaftlichen Inhalten durch neue technische Möglichkeiten in einer Zeit der Ausdifferenzierung von Buchverlagen zu Medienunternehmen. Dabei soll der Weg Haeckels zu einer national und international bekannten Medienfigur über das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach hinaus verfolgt und seine Konstruktion als „deutscher Wissenschaftler“ nachvollzogen werden.

CHRISTINA BRANDT (Jena) rückte die eigenartige Nicht-Anschlussfähigkeit von Haeckels biologischer Forschung im 20. Jahrhundert in den Fokus. Mit Bezugnahme auf den zeitgenössischen Vorwurf der Methodenlosigkeit gegenüber Haeckels biologischer Forschung zeigte sie den ambivalenten Charakter von dessen Vererbungsbegriff auf. In diesem Zusammenhang stellen Metaphern nicht nur kontroverse Werkzeuge der Wissensproduktion dar, sondern verweisen auf den Umgang mit ambivalenten biologischen Wissensbeständen. In der folgenden Diskussion wurde deutlich, dass Haeckels soziale und politische Wirkmächtigkeit ihre Ursache u.a. in der anthropologischen, d.h. sinngebenden, Dimension seiner Metaphern hatte.

Im Anschluss sprach JOHN VIVIAN (Tautenburg) über die Haeckel-Rezeption der San Francisco Bohemians als Beispiel für die Verbindungen, die Haeckel auch außerhalb der biologischen scientific community hatte. Einer der Hauptakteure in diesem disziplin- und kontinentübergreifenden Netzwerk war Hermann Georg Scheffauer, ein Haeckel-Verehrer, der dessen Monismus-Vorstellung in den USA popularisierte und dessen Anliegen es war, zeitgenössische biologische Vorstellungen literarisch zu verarbeiten. Auch Brüche wurden deutlich – die Abwendung von britischen und US-amerikanischen Haeckel-Verehrern im Kontext des Ersten Weltkriegs lässt sich ebenfalls am Fall der San Francisco Bohemians zeigen.

HAUKE HEIDENREICH (Halle an der Saale) untersuchte die politischen und religiösen Grundlagen und Effekte von Haeckels wissenschaftlichen und weltanschaulichen Argumenten. Einer der Ausgangspunkte war die DDR-Rezeption von Haeckel als absolut antiklerikal, die angesichts von Haeckels positiver Bewertung des Protestantismus als proto-monistisch nicht aufrechterhalten werden kann. Diese Haltung wiederum ist eng verknüpft mit einer Ablehnung der kantianischen Moralphilosophie, die Ende des 19. Jahrhunderts als Grundlage des aufkommenden Spiritismus postuliert wurde. Die Darstellung des komplexen politischen und epistemischen Netzwerks, in dem sich der Monismus entwickelt hat, zeigte die Ausschließungsprozeduren, die konstitutiv für Haeckels weltanschauliche Positionierung waren.

THOMAS BACH (Jena) berichtete vom Akademienvorhaben „Ernst Haeckel (1834-1919): Briefedition“. Er präsentierte zunächst Daten zum Projekt, bevor er einen Überblick über Haeckels Korrespondenz gab und die Konzeption der Bände vorstellte. Das Briefarchiv war bereits von Haeckel selbst angelegt worden, der allerdings keine Abschriften der eigenen Briefe angefertigt hatte. Die Folge ist, dass Briefe an Haeckel den Großteil der Archivalien darstellen. Insgesamt werden etwa 46.000 Korrespondenzstücke (auch Telegramme, Postkarten, Amtskorrespondenz) in der Datenbank erfasst und verwaltet. Das Editionsprojekt will durch das zweigleisige Modell der Online- und der Print-Edition zwei Zielvorstellungen erfüllen: Die Online-Briefedition soll Vollständigkeit gewährleisten, während die Print-Edition in 25 Bänden einem historisch-kritischen Anspruch gerecht werden soll.

PAUL WEINDLING (Oxford) stellte das traditionelle Narrativ der US-amerikanischen Biologiegeschichte infrage, das Haeckel als „missing link“ zwischen Darwin und dem Nationalsozialismus darstellt. Die Haeckel-Rezeption im Nationalsozialismus war deutlich komplexer und ambivalenter. So wurde beispielsweise sein rassenbezogenes Klassifikationssystem abgelehnt, während er gleichzeitig bei den Olympischen Spielen 1936 als einer der großen Deutschen dargestellt wurde. Statt von einer Kontinuität von der Evolutionsbiologie bis zum Nationalsozialismus auszugehen, stellte Weindling ein alternatives Narrativ vor, das auch einen engeren zeitlichen Kontext in den Fokus nimmt, nämlich den Zusammenhang von Rassenhygiene, Medizin und Nationalsozialismus. Er machte die Instrumentalisierung von Haeckels biologischen Vorstellungen deutlich, beispielsweise durch Viktor Franz, frühem NSDAP-Mitglied und Direktor des Haeckel-Hauses.

Im Anschluss stellte CHRISTOFFER LEBER (München) einen Teilaspekt seiner Dissertation zur Monismusbewegung vor: die Geschichte der Rezeption des Monismus in der DDR. Der Aufschwung der Wissenschaftsgeschichte in der DDR und die damit verbundene Popularisierung von Haeckel und Wilhelm Ostwald bedeutete auch eine Verengung der Monismusrezeption. So wurde beispielsweise der Gedanke der Allbeseeltheit, der in Haeckels Monismus eine zentrale Rolle spielt, nicht thematisiert, seine Kritik am Katholizismus als genereller Atheismus gedeutet und die Welträtsel aufgrund ihrer Popularität von Lenin als Waffe im Klassenkampf interpretiert. Am Beispiel Haeckels und Ostwalds zeigte sich die politische Vereinnahmung von naturwissenschaftlichen Werken in einer totalitären Gesellschaft.

MATTHIS KRISCHEL (Düsseldorf) beschäftigte sich mit Haeckels Rolle beim Methodentransfer zwischen vergleichender Sprachwissenschaft und Naturgeschichte. Der Entwicklungsgedanke, der in den Sprachwissenschaften schon seit dem 17. Jahrhundert Fuß fasste, sorgte dort für eine frühere Etablierung des Stammbaummodells als in der Biologie. Mithilfe eines bibliometrischen Netzwerks zwischen Akteuren aus Naturwissenschaft, Sprachwissenschaft und Anthropologie können die interdisziplinären Dynamiken untersucht werden. Krischel stellte den Austausch zwischen Haeckel, August Schleicher und Wilhelm Bleek vor. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine Parallelisierung von Sprachgenealogie und Rassengenealogie feststellen, bei der Kultur und Biodiversität der Menschen gleichgesetzt und innerhalb eines hierarchischen Modells gedeutet wurden. Das Konzept der Volksgemeinschaft als Einheit von Rasse, Kultur und Sprache hat seine Wurzeln in dieser interdisziplinären Zusammenarbeit. Schlaglichter auf den interdisziplinären Methodenaustausch im 21. Jahrhundert sind ambivalent: Sie bergen die Gefahr der Fortschreibung primordialistischer Konzepte aus dem 19. Jahrhundert, ermöglichen aber auch die Modellierung von Zusammenhängen zwischen genetischen und sprachlichen Transferprozessen.

Anschließend demonstrierte ELIZABETH WATTS (Jena) den Missbrauch wissenschaftlicher Kritik an Haeckels Embryonenzeichnungen durch Evolutionsleugner. Den Ausgangspunkt bildet die wissenschaftliche Diskussion über Haeckels Zeichnungen, in denen Embryonen von Wirbeltieren in einem Raster angeordnet sind, das die Parallelität von Onto- und Phylogenie verdeutlichen soll. Diese methodologische Kritik verwendete der Intelligent-Design-Befürworter Jonathan Wells in seinen „Ten questions to ask your biology teacher about evolution“ dazu, Evolutionstheorie allgemein anzugreifen. Dieser Fall macht deutlich, dass die Vereinfachung von wissenschaftlichem Diskurs in der Wissenschaftskommunikation den Anschein einer prinzipiellen Kontroverse erweckt – häufig unabsichtlich, in diesem Fall allerdings intentional. Anhand eines historischen Überblicks über die Verwendung von Haeckels Embryonenzeichnungen machte Watts die Diskussion in der US-amerikanischen Öffentlichkeit deutlich. Es wurde klar, dass Reflexion über die Rolle von visueller Repräsentation in naturwissenschaftlicher Bildung ein besonderes Desiderat ist.

Im letzten Vortrag der Tagung ging auch NICK HOPWOOD (Cambridge) auf die Embryonenzeichnungen ein. Ihre Rezeptionsgeschichte diente als Beispiel für die Antwort auf die Frage, wie naturwissenschaftliche Bilder zu Ikonen werden. Anhand von drei Kontroversen (1870er: bürgerliche Kontoverse, Anfang 1900er: deutsche Kontroverse, Jahrhundertwende: internationale Kontroverse) zeigte Hopwood die verschiedenen Beziehungen zwischen Bild, Autor und Theorie. So ist beispielsweise an den ersten Kontroversen bemerkenswert, dass die Kritik der führenden Embryologen an Haeckels Tafeln keine Wirkung auf deren Ausbreitung hatte. Sie wurden weiterhin in Büchern veröffentlicht und kopiert. Die Illustrationen wurden vor allem als Belege der Evolution verwendet, sie blieben also immer eng an den ursprünglich intendierten Gebrauch gebunden. Hopwood wies darauf hin, dass die Zeichnungen beim Kopieren verändert wurden – entweder wurden sie vereinfacht oder ersetzt, wobei die Rasterstruktur, die die Parallelität von Onto- und Phylogenie ausdrückt, beibehalten wurde. Die Unabhängigkeit der Zirkulation von Bildern und Fälschungsvorwürfen wurde deutlich. Hopwood zog daraus den Schluss, dass die Embryonenzeichnungen sowohl einen strategischen als auch einen exemplarischen Wert hatten. Erstens vermitteln sie zwischen Forschung, Massenbildung und Schule, zweitens hatten und haben sie für verschiedene Akteursgruppen je spezifische Funktionen.

Ihren Abschluss fand die Tagung in einer von Heiner Fangerau und Christina Brandt moderierten Diskussion, in der die Aktualität Haeckels nicht als Person, aber als Ausgangspunkt für Debatten deutlich wurde. Der Wert der Tagung zeigte sich besonders im Hinblick auf die laufende Neukonzeptionierung des Haeckel-Hauses: Haeckel sollte nicht biografisch gedacht werden, sondern als Fallstudie für Wissenschaftsgeschichte, spezifische deutsche Befindlichkeiten vom 18. bis 20. Jahrhundert, aber auch als Paradigma für wissenschaftliche und kulturelle Praktiken wie Bild-, Buch-, Medien-, politische Praktiken und Methodentransfer. Ebenso relevant ist Haeckel als Projektionsfläche für andere Akteure und als Akteur an der Bruchstelle zwischen Öffentlichkeiten und Wissenschaft.

Konferenzbericht:

Gunnar Berg ML (Leopoldina-Vizepräsident, Halle an der Saale): Begrüßung

Kristian Köchy (Kassel) und Heiner Fangerau (Düsseldorf): Einführung

Heiner Stahl (Siegen): Ernst Haeckel (1834-1919) – Popularisierungen von (Natur-) Wissenschaft in der Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts

Christina Brandt (Jena): Haeckels Metaphern: Vererbungsdiskurs und Reproduktion im späten 19. Jahrhundert

John Vivian (Tautenburg): On the reception of Haeckel’s popularization of science in California around 1900: The San Francisco “Bohemians” as Haeckel’s American disciples

Haukje Heidenreich (Halle/S.): „Großmächte des Mystizismus“ – Die politischen Frontstellungen von Ernst Haeckels Monismus im Kontext von Spiritismus, Kantexegese und Weltkrieg

Thomas Bach (Jena): Vorstellung des Akademienvorhabens „Ernst Haeckel (1834-1919): Briefedition“

Paul Weindling (Oxford): The Historical Legacy of Ernst Haeckel under National Socialism

Christoffer Leber (München): Walter Ulbricht in der Villa Medusa. Die ambivalente Rezeption des Monismus in der DDR

Matthis Krischel (Düsseldorf): Methodentransfer zwischen vergleichender Sprachwissenschaft und Naturgeschichte vor, bei und nach Haeckel

Elizabeth Watts (Jena): Haeckel and the embryos: beyond the “controversy”

Nick Hopwood (Cambridge): Der Schock der Kopie: Das Nachleben der Haeckelschen Embryonenbilder

Abschlussdiskussion – Rückblick und Perspektiven


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