Spielarten des Konservativismus

Spielarten des Konservativismus

Organisatoren
Institut für Zeitgeschichte, München, und Deutsches Historisches Institut London
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.07.2002 -
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Von
Markus Mößlang, German Historical Institute London

Aus Anlaß der Veröffentlichung zweier Bücher von Andreas Rödder (Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne (1846-1869), München: Oldenbourg 2002) und von Dominik Geppert (Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975-1979, München: Oldenbourg 2002) in der Schriftenreihe des Deutschen Historischen Instituts London veranstalteten das Institut für Zeitgeschichte und das DHI London ein Symposium zum Thema "Spielarten des Konservativismus". Nach der Begrüßung durch Horst Möller (München) und Hagen Schulze (London) führte Hans Maier (München) in das Thema Konservativismus ein. Mit seiner Frage "Was heißt konservativ" spannte er einen Bogen von Edmund Burke im 18. Jahrhundert bis zur ökologischen Bewegung der Gegenwart.

Daß der Konservativismus im Laufe seiner Geschichte nicht nur Akzentverschiebungen erfuhr sondern maßgeblichen Wandel unterlag, zeigten im Anschluß auch die beiden Vorträge von Andreas Rödder (Stuttgart) und Dominik Geppert (London).
Zentraler Gegenstand von Andreas Rödders Präsentation ("Benjamin Disraeli: Anti-radikaler Radikalkonservativismus und Zivilgesellschaft") waren die Gründe für den Aufstieg der Konservativen Partei zur führenden Partei Englands im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts - eine Position, die sie erst mit dem Amtsantritt Tony Blairs im Jahr 1997 abgegeben hätte.
Rödder machte drei Entwicklungen dafür verantwortlich, daß es den Konservativen unter Benjamin Disraeli in den 1850er und 1860er Jahren gelang, sich aus der Krise zu befreien, die im Jahr 1846 mit dem Sturz Robert Peels ihren Höhepunkt gefunden hatte. Erstens führte die positive Wirtschaftsentwicklung zu einer Abkehr vom Protektionismus. Die Konservativen hatten nunmehr an die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Entwicklungen Anschluß gefunden. Damit verbunden erweiterten sie zweitens ihre bislang auf ländlich-aristokratischen Grundbesitz basierende Vorstellung der Zivilgesellschaft und ermöglichten so die Integration städtischer Mittelschichten in ihre Reihen. Drittens verlagerte die Konservative Partei ihre Auseinandersetzung mit den Radikalen - nach Rödder dem konstituierenden Element des Konservativismus - auf das Feld der Verfassungspolitik, was 1869 in die Wahlrechtsreform mit ihrer erheblichen Ausweitung des Wahlrechts mündete.
Rödder interpretierte diesen für Konservative "radikalen" Schritt als defensive Strategie, mit der "Demokratie" verhindert werden und damit die überlieferte Verfassungsordnung bewahrt werden konnte. Das Interesse des Machterhalts der erst 1866 ins Amt gekommenen konservativen Minderheitsregierung tat ihr übriges. Die Politik, so spitzte Rödder seine These zu, war ein anti-radikaler Radikalkonservatismus. Nach einer Wiederholung der Spezifika von Disraelis Konservativismus stellte Rödder in seiner Schlußbemerkung eine Hypothese über die Strukturmerkmales des europäischen Konservativismus auf. Antiradikalismus als Brennpunkt konservativen Denkens zeige sich nicht inhaltlich sondern im anti-utopistischen Menschenbild und methodisch im Vorrang von Empirie und common sense. Als zweites Strukturmerkmal führt Röder die Vorstellung einer ungleichen und durch Verpflichtung des Eigentums sozialmoralisch legitimierten Zivilgesellschaft an, der gegenüber dem Staat der Vorzug zu geben sei.

Daß diese von Rödder präsentierten strukturbildenden Elemente des europäischen Konservativismus sich nur sehr bedingt in Konservativismus thatcheristischer Prägung wiederfinden laßen, machte Dominik Geppert in seinem Vortrag "Margaret Thatcher: Marktradikaler Populismus und die Neudefinition des Staates" deutlich. Er unterstrich zunächst die Unterschiede zwischen Disraelis und Thatchers Spielarten des Konservativismus, indem er darauf hinwies, daß Thatchers innerparteiliche Gegner sich auf Disraeli als Garanten einer auf sozialen Ausgleich und konsensuale Problemlösung angelegten Politik beriefen. Kein britischer Konservativer, so argumentierten sie, habe jemals ein geschlossenes Gesellschaftsbild, geschweige denn eine Ideologie hervorgebracht. Statt dessen komme es darauf an, flexibel auf ständige Veränderung der Gesellschaft zu reagieren. Thatcher und ihre Anhänger hingegen betonten, die Suche nach Konsens und Kompromiß gehe auf Kosten langfristiger Politikplanung, ohne die auf Dauer kein Erfolg möglich sei. Nach Auffassung Gepperts gab es jedoch auch eine Reihe bislang wenig beachteter struktureller Gemeinsamkeiten zwischen Disraelis und Thatchers Konservativismus. In beiden Fällen habe es sich um krisenhafte Umbruchphasen sowohl für die Tory-Partei als auch für die britische Gesellschaft insgesamt gehandelt. In beiden Fällen könne man von einer Krisenbewältigungsstrategie als Reaktion auf tiefgreifende soziale, ökonomische und kulturelle Veränderungen sprechen. In beiden Fällen erschloß sich die Tory-Partei neue Wählergruppen, die sie gegen einen äußeren Feind - im einen Falle den Radikalismus, im anderen Fall den Sozialismus - zu mobilisieren verstand. Schließlich sei in beiden Fällen die Person des Parteiführers von entscheidender Bedeutung gewesen.
Geppert vertrat die These, daß der Thatcherismus nicht als Bruch mit der Tradition der Tory-Partei zu verstehen sei, sondern als Versuch, den britischen Konservativismus unter Krisenbedingungen neu auszurichten, eine Akzentverschiebung innerhalb des Traditionsbestandes vorzunehmen. Thatcher habe keine vollständige Umstürzung der bestehenden Verhältnisse angestrebt. Ihre radikalen Reformen hätten vielmehr gerade die Bewahrung der Verfassungsordnung zum Ziel gehabt. Im Gegensatz zu Disraelis Antiradikalismus war der Thatcherismus keine "Vorwärtsverteidigung", sondern eine Offensivstrategie. Das, was sie für die sozialistischen Irrwege und Sackgassen der Nachkriegszeit hielten, wollten die Thatcheristen nicht bewahren. Was sie erhalten - oder vielmehr wieder freilegen - wollten, war ihrer Ansicht nach der wahre Kern des britischen Wesens, die Tugenden, die das Land im 19. Jahrhundert groß gemacht hätten. Ihr Konservativismus war somit ein Radikalismus - eine Rückkehr zu den angeblichen Wurzeln britischer Größe.
In seinem anschließenden Kommentar zu den Präsentationen wies Paul Nolte (Bremen) anhand von vier Gesichtspunkten auf den engen Zusammenhang der Bücher von Andreas Rödder und Dominik hin. Erstens beschreiben beide Bücher jeweils Phasen, in denen Konservative gezwungen waren, sich an neue ökonomische Realitäten anzupassen. Zweitens spiele in beiden Analysen konservativer Politik das Begriffsfeld des Radikalismus eine zentrale Rolle. Konservativismus könne nicht nur wie bei Disraeli radikale Mittel verlangen, er könne auch, wie bei Magaret Thatcher, ein radikales Programm beinhalten. Drittens zeige die Frage nach Trägerschichten und den Protagonisten konservativer Neuanfänge deutliche Parallelen. Bei Disraeli und Thatcher handelte es sich um Aufsteiger aus den unteren Mittelschichten. Viertens würden in beiden Büchern das Verhältnis zwischen Ideen und praktischer Politik ins Zentrum gestellt. Die Frage der Rolle von Intellektuellen bei der Formulierung und Durchführung konservativer Politik werde damit aufgeworfen.

Nolte stellte allen vier Punkte deutsche Entwicklungen gegenüber und verwies damit auf eine Reihe von Fragen an die Geschichte des modernen Konservativismus. Abschließend zog er mögliche Folgerungen für die Gegenwart und Zukunft des Konservativismus. Wichtigste Lehre aus den Beispielen Disraelis und Thatchers sei, daß Konservativismus wandelbar sein müsse, um politisch einflußreich zu bleiben. Ein solcher Wandel spiele sich zumeist in Schüben ab. Ob Deutschland eine konservative Wende nach dem Modell Thatchers noch bevorstehe sei unklar. Dafür spreche, daß in Deutschland der Nachkriegskonsens noch nicht neudefiniert worden sei, dessen Institutionen und mentale Dispositionen ließen derzeit deutliche Krisensymptome erkennen. Die konservative Herausforderung könne darin bestehen, radikale, marktkapitalistische Reformansätze in einer neu - kulturkonservativ - definierten Zivilgesellschaft zu formulieren. Ein überzeugender Ansatz in diese Richtung sei im deutschen Konservativismus allerdings derzeit nicht zu erkennen.

Im zweiten Kommentar ging Hans Christof Kraus (Stuttgart) auf die Entwicklung des britischen Konservativismus zwischen den von Andreas Rödder und Doinik Geppert behandelten Zeiträumen ein. Zwischen 1868 und 1975 liege, so Kraus in Abgrenzung zu harmonisierenden Annahmen deutscher Anglophiler, kein gerader Weg zur liberalen Demokratie vor. Am Beispiel des in den 1930er Jahren als Berater der konservativen Parteispitze tätigen Historikers Sir Arthur Bryant zeigte Kraus, wie weit die "totalitäre Versuchung" auch in das konservative Lager hereinreichte. Bryant trat offen als Sympathisant Mussolinis und Hitlers auf und publizierte noch Anfang Mai 1940 (!) sein Buch "Unfinished Victory", in dem er zum Frieden mit Deutschland und zum gemeinsamen Kampf gegen Judentum, Plutokratie und Bolschewismus aufrief; eine Position, die er in den folgenden Kriegsjahren mit seinem Versuch, sich als patriotisch-nationalistischer Propagandist englischer Größe zu profilieren, freilich wieder aufgab. Das Engagement zugunsten Hitlers hätte Bryant nach dem Krieg ebenso wenig geschadet wie die prosowjetischen Sympathien und Stalin-freundlichen Äußerungen bestimmter Labour-Ideologen. Man könne daher in Anlehnung an Hermann Lübbe von einem gegenseitigen "kollektiven Beschweigen" der jüngsten Vergangenheit im Nachkriegsengland sprechen.
Insgesamt, so schloß Hans Christof Kraus, erweise sich Thatchers "konservative Revolution" im Rückblick als eine "Revolution des Konservativismus". Damit war eines der Grundthemen der sich anschließenden Diskussion angesprochen: Bei der Analyse des Phänomens Konservativismus in Großbritannien wie in Deutschland sei es notwendig, den Wandel und nationale Eigenschaften in Rechnung zu stellen. Konservativismus sei nicht trotz, sondern aufgrund seiner vielen Bedeutungsebenen und nationalen Spielarten eine sinnvolle Kategorie für die Geschichtsschreibung politischer Strömungen und Ideen. Vollständig erfaßt werden könne er aber, wie von Andreas Rödder und Dominik Geppert in ihren Büchern gezeigt hätten, nur durch die Gegenüberstellung der politischen Ideen des Konservativismus mit dem politischen Agieren von Konservativen.