Internierung und Deportationen der zivilen Angehörigen Russlands und Deutschlands im Ersten Weltkrieg (1914-1917)

Internierung und Deportationen der zivilen Angehörigen Russlands und Deutschlands im Ersten Weltkrieg (1914-1917)

Organisatoren
Freie Universität Berlin; Russische Staatliche Universität für Geisteswissenschaften (RGGU); Deutsches Historisches Institut Moskau
Ort
Moskau
Land
Russian Federation
Vom - Bis
17.10.2019 - 18.10.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Hannes Bock, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin; Evgenia Kikteva, Deutsch-Russisches Lehr- und Wissenschaftszentrum, Russische Staatliche Universität für Geisteswissenschaften Moskau

In den bisherigen Geschichtsstudien zum Ersten Weltkrieg war der Umgang mit den zivilen Angehörigen der kriegführenden Staaten noch bis vor kurzem ein wenig beachtetes Themengebiet; erst in den letzten Jahren rückte es stärker in den Fokus der Forschung. Die Behandlung der „feindlichen Ausländer“ und deren Bedeutung für die Geschichte des Krieges wurde in diesem Kontext vermehrt zur wissenschaftlichen Diskussion gestellt – so unter anderem auf den Konferenzen Sicherheit und Humanität in Russland und Deutschland in den Jahren des Ersten Weltkrieges (2017, Moskau)1 und Security and Humanity in the First World War. The Treatment of Civilian “Enemy Aliens” in the Belligerent States (2019, London).2

Gegen die zivilen Angehörigen Russlands und Deutschlands wurden im Ersten Weltkrieg unterschiedlichste Repressalien ergriffen – von der Polizeiaufsicht und der Beschlagnahme vom Eigentum bis zur Haft und Deportation, die gemeinsam als „Internierungspolitik“ bezeichnet werden können. Die Veranstalter des Workshops thematisierten die Internierungspolitik im Deutschen Kaiserreich und im Russischen Zarenreich als zwei miteinander verbundene, wechselbezügliche Prozesse.

ARND BAUERKÄMPER (Berlin) betonte die Relevanz von Emotionen bzw. emotionaler Zustände für die Sicherheitspraktiken im Krieg. Das Zusammenspiel beider Faktoren und das daraus erwachsende Spannungsfeld war von großer Bedeutung für die Internierungspraktiken. Der Erste Weltkrieg muss dabei als eine Zäsur angesehen werden, in dessen Verlauf es zu einem Umbruch der Emotions- und Sicherheitsregime kam, der sowohl in Russland als auch in Deutschland einen großen Einfluss nehmen sollte. Emotionen wurden teilweise gezielt durch öffentliche und staatliche Institutionen bedient, um sie für die Kriegsmobilisierung nutzbar zu machen. Eine gezielte Lenkung der Emotionen war aber nicht immer möglich, wie die Übergriffe deutscher Bürgerwehren im Sommer 1914 und die Pogrome gegenüber vermeintlichen Feinden in Moskau im Mai 1915 zeigten. In diesem Zusammenhang wurde die Signifikanz von Emotionen wie Angst, Wut und Verachtung deutlich, die bei zukünftigen Analysen zum Ersten Weltkrieg verstärkt als relevante Elemente in die Forschungsarbeit einfließen sollten.

NATALIA ROSTISLAVLEVA (Moskau) beleuchtete die Probleme des Umgangs mit den zivilen Angehörigen nicht nur auf der staatlichen, sondern auch auf der akademischen und persönlichen Ebene. Sie zeigte anhand zweier russischer „cives academici“ – dem Wissenschaftler Nikolai Kareev und dem damaligen Studenten und zukünftigen sowjetischen Schriftsteller Konstantin Fedin – auf, dass persönliche und wissenschaftliche Beziehungen Hass und Misstrauen zuweilen überwinden konnten. Persönliche Anteilnahme und direkte Unterstützung durch Bekannte und Arbeitskollegen gehörten demgemäß auch zum individuellen Erfahrungsspektrum während des Krieges. Auf der Grundlage einer vergleichenden Analyse der Ego-Dokumente und der literarischen Erzeugnisse von Konstantin Fedin arbeitete Rostislavleva die Besonderheiten der Perzeption und die emotionalen Aspekte der Internierung heraus und hob die unterschiedliche Wahrnehmung der Internierungspraktiken hervor, die unter den deutschen Zivilpersonen wie unter den internierten Russen sehr ambivalent und vielgestaltig ausfallen konnte.

HANNES BOCK (Berlin) beschäftigte sich in transnationaler Perspektive mit der im Krieg andauernden Vernetzungsarbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen. Untersuchungsobjekt war der „Hilfs-Ausschuss für Gefangenen-Seelsorge“, der eine wichtige Funktion bei der Seelsorge der militärischen Kriegsgefangenen und internierten Zivilpersonen einnahm. Anhand seiner Arbeitsweise konnte aufgezeigt werden, in welchem Grad die Kooperation über Ländergrenzen hinweg weiterhin möglich war. Diese Verbindungen, so Bock, etablierten sich zum Teil erst im Krieg selbst. Der Kriegszustand wirkte zwar einschränkend, bedeutete aber nicht das Ende des kommunikativen Austausches und der Zusammenarbeit. Kooperation blieb auch auf transnationaler Ebene im Ersten Weltkrieg ein wichtiger Aspekt des Kriegsgeschehens.

ALEXANDER ASTASCHOV (Moskau) betrachtete die gescheiterte Deportation der polnischen Bevölkerung in Russland. Als ursächlich für das Scheitern der Deportationsmaßnahmen, die hauptsächlich von kriegswirtschaftlichen und logistischen Überlegungen getragen wurden, kann der unerwartet starke Widerstand seitens der polnischen Bevölkerung angesehen werden. Dieser nötigte die militärische Führung dazu, die Deportation teilweise rückgängig zu machen. Kritisch wurde dabei die aktuelle Forschungsliteratur eingeordnet, die bisher das Bild einer uneingeschränkten Massendeportation zeichne. Mit dieser kritischen Stellungnahme war zugleich die Forderung nach einem erneuten und ausführlichen Quellenstudium verbunden, in dessen Kontext eine etwaige Neubewertung der Deportationsmaßnahmen angestoßen werden könnte.

STANISLAV TSCHERNYAVSKI (Moskau) widmete sich den Deportationen der MitarbeiterInnen der russischen Botschaften in Deutschland und Österreich-Ungarn und der deutschen Botschaft in Moskau. Er machte darauf aufmerksam, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure in den drei Ländern, die zum Teil von der Kriegsbegeisterung im August 1914 erfüllt gewesen seien, ohne Kontrolle oder Befehl der Obrigkeit Gewalttätigkeiten gegen ausländische Diplomaten und deren Verwandte verübt hätten. In diesem Sinne betonte auch er implizit die Bedeutung emotionaler Zustände für das Handeln der unterschiedlichen Akteure.

BORIS CHAVKIN (Moskau) befasste sich mit der Ermordung der Zarenfamilie im Sommer 1918 und hob das Spannungsverhältnis hervor, das sich für die Regierungspraxis aus den dynastischen Verwandtschaftsbeziehungen und den nationalstaatlichen Interessen ergab. In diesem konfliktträchtigen Zusammenhang sei das Engagement bzw. die Zurückhaltung der europäischen Herrschaftshäuser bezüglich der Unterstützung des abgesetzten Zaren einzuordnen. Von diesem Standpunkt ausgehend verortete Chavkin das Engagement der deutschen Regierung, die auf Veranlassung Kaiser Wilhelms II. im Geheimen an der Freisetzung und Ausreise der Zarenfamilie aus Russland arbeitete. Bedingt durch die Wirren der Oktoberrevolution scheiterten diese Bemühungen. Anschaulich zeige sich an dieser historischen Episode, dass der Erste Weltkrieg auch auf politischer Ebene einen Wandel einläutete.

ALEXANDRA BAKHTURINA (Moskau) beleuchtete die Frage, wie die Lokalverwaltungen die Deportationsmaßnahmen konkret vollzogen haben. Auf der Grundlage einer Analyse von Quellenmaterial aus dem Historischen Staatsarchiv Lettlands arbeitete sie heraus, dass die meisten „Deutschen“, die von der Deportationspolitik betroffen waren, zur Gruppe der „im Russischen Reich angesiedelten Ausländer“ (russ.: „vodvoronnye v predely Rossiyskoy imperii“) gehörten. Sie hob den über diese Gruppe hinausgehenden breiten Opferkreis hervor und zeigte überdies die unterschiedlichen Internierungspraktiken auf, die von Inhaftierung über Verschickung bis zur lokalen „Konfinierung“ als administrative ExilantInnen ein breites Spektrum abdeckten. Rigorosen Praktiken – wie Deportation und Internierung – fiel zugleich nur ein Teil der „feindlichen“ Zivilisten längerfristig zum Opfer. Der Großteil musste das Baltikum zwar verlassen, durfte aber die Abreise in die inneren Gouvernements selbst organisieren und konnte sich somit einer strengen polizeilichen Kontrolle entziehen. Zudem bekamen viele – insbesondere Frauen – im Winter 1914/15 die Erlaubnis, am alten Wohnsitz zu verbleiben oder gar zurückzukehren, was die Lockerung der antideutschen Politik der russischen Behörden demonstrierte.

GEORG WURZER (Wilhelmsdorf in Württemberg) stellte die Selbstzeugnisse ehemaliger deutscher Zivilinternierter in den Mittelpunkt und arbeitete an diesen die Veränderung in der Rezeptionsgeschichte der Erfahrungen heraus. Anhand eines zweistufigen Phasenmodells zeigte er, welchen Einfluss die gesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegsjahre auf die literarische Darstellung der Erfahrungen der ehemaligen Zivilgefangenen hatten und wie diese zugleich von politischen Akteuren vereinnahmt wurden. Die inhaltliche Aufbereitung der Erfahrungen, die noch bis in die frühen 1920er-Jahre durch eine relativ „zurückhaltende“ Darstellung gekennzeichnet war, wurde mit den Jahren immer stärker als überspitzte Erzählung präsentiert, die vor allem die Grausamkeiten in den Fokus rückte, um so „den Russen“ als deutschen Erzfeind zu definieren. Wurzer forderte, die Quellengattung der Selbstzeugnisse verstärkt in die historische Analyse einfließen zu lassen, da sie als historische Zeugnisse vor allem für die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Diskursen jener Zeit von großem Nutzen sein können.

IGOR BOGOMOLOV (Moskau) beleuchtete das Deutschlandbild in der russischen Presse aus der Perspektive der Emotionsgeschichte, dessen Entwicklung in drei Phasen verlief. Bogomolov unterstrich, dass neben den „deutschen Greueltaten“ auch das Motiv der „unschuldigen Deutschen“ – insbesondere zu Kriegsbeginn – in der Presse verbreitet wurde. Ferner wurde das Deutschlandbild ab Sommer 1915 bis zur Februarrevolution in einen engen Zusammenhang mit den inneren Problemen Russlands und der Revolutionsrhetorik gesetzt. Die in diesem Kontext nachweisbare Verflechtung zwischen Innen- und Außenperspektive war das Ergebnis der Entgrenzung im sich totalisierenden Krieg.

Im Rahmen des Workshops richteten die TeilnehmerInnen ihre Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse und das Zusammenspiel zwischen Zivil- resp. Militärverwaltungen und den Zivilgesellschaften in Hinsicht auf die Internierungs- und Deportationspolitik. Die Partizipation der AkteurInnen in diesem Spannungsfeld war vielgestaltig: Von Anteilnahme und Unterstützung für die Internierten über Teilnahmslosigkeit und opportunistisches Gebaren bis zur offenen Feindschaft gegenüber den „feindlichen“ BürgerInnen konnten viele Interaktionsformen nachgewiesen werden. Es ist zu konstatieren, dass die Zivilgesellschaften in Russland und Deutschland als unmittelbare Teilnehmer an den Internierungspraktiken zu betrachten sind, auch wenn der innergesellschaftliche Partizipationswille graduelle Unterschiede aufwies. Wichtig für diese Unterschiede war u. a. die Verortung der AkteurInnen im sozialen Gefüge der Kriegsgesellschaften. Die TeilnehmerInnen betonten die Notwendigkeit, Fragen zum sozialen Hintergrund der AkteurInnen in zukünftigen Arbeiten verstärkt in den Blick zu nehmen.

In der Abschlussdiskussion wurde darüber hinaus das Problem der Quantifizierung der Opferzahlen der Internierungs- und Deportationspolitik besprochen. Diese Frage wurde zuerst im Vortrag von Rostislavleva aufgeworfen. Das Plenum kam gemeinsam zu dem Schluss, dass eine genaue Bezifferung auch in Zukunft kaum möglich sein werde. Vielmehr sollte man sich verstärkt der qualitativen Ebene der Internierungsmaßnahmen widmen. Zugleich sollte in diesem Kontext auf eine trennscharfe Verwendung der Begrifflichkeiten – wie u. a. „Internierung“ und „Konfinierung“ – geachtet werden, da nur so die wichtigen qualitativen Unterschiede der Praktiken präzise zu analysieren seien. Neben dieser analytischen Ebene wurde die inhaltliche Ausweitung der Forschungsthemen diskutiert und die Notwendigkeit hervorgehoben, in zukünftigen Forschungsprojekten gezielt die Zwischenkriegszeit in den Blick zu nehmen. Untersucht werden sollte vor allem der Einfluss der Internierungspraktiken und der damit verbundenen individuellen Erfahrungen auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Sowjetunion und der Weimarer Republik. Ein mögliches Forschungsfeld wäre der Einfluss der Kriegserfahrungen auf die Herausbildung ethnisch-biologistischer „nationaler Identitäten“, die zum Teil bereits im Krieg wirksam waren und so der Umdeutung staatsbürgerlicher Kategorien Vorschub leisteten. Zuletzt stellen die grenzüberschreitenden humanitären Initiativen ziviler AkteurInnen, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu den nationalen Sicherheitspolitiken standen, ein Forschungsdesiderat dar, dessen nähere Betrachtung dem Plenum fruchtbar erschien.

Konferenzübersicht:

Arnd Bauerkämper (Freie Universität Berlin): Emotionen und Sicherheit. Feindbilder und Internierung von Deutschen und Russen im Ersten Weltkrieg

Natalia Rostislavleva (RGGU, Moskau): Russische Intellektuelle als Subjekte der Internierungspolitik in Deutschland im Ersten Weltkrieg

Hannes Bock (Freie Universität Berlin): Der „Hilfsausschuss für Gefangenen-Seelsorge“ als zivilgesellschaftlicher Akteur im Ersten Weltkrieg. Karitatives Engagement für russische Kriegsgefangene im Deutschen Reich

Alexander Astaschov (RGGU, Moskau): Die Polen und die russische Armee 1915: die Deportation als Faktor nationaler Integration

Stanislav Tschernyavski (Staatliches Moskauer Institut für Internationale Beziehungen): Die Deportation russischer Diplomaten aus den kriegführenden Ländern

Boris Chavkin (RGGU, Moskau): Schiсksale der russischen Verwandten des deutschen Kaisers 1917/18

Alexandra Bakhturina (RGGU, Moskau): Baltische Deutsche in der Regierungspolitik 1914-1916: Historiographie und quellenwissenschaftliche Aspekte

Georg Wurzer (freiberuflicher Historiker und Übersetzer, Wilmersdorf in Württemberg): Memoiren ehemaliger Zivilgefangener als Quellen

Igor Bogomolov (Institut für wissenschaftliche Information in den Gesellschaftswissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau): Das Deutschlandbild in der russischen Presse, Februar bis November 1917

Anmerkungen:
1https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7247 (05.12.2019).
2https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8294 (05.12.2019).


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