Streitkulturen – Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis (Nachwuchsforum)

Streitkulturen – Deutungsmachtkonflikte zwischen Konsens und Zerwürfnis (Nachwuchsforum)

Organisatoren
DFG-Graduiertenkolleg „Deutungsmacht – Religion und _belief systems_ in Deutungsmachtkonflikten“
Ort
Rostock
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.09.2019 - 13.09.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Katharina Alexi / Dawid Mohr, Universität Rostock, DFG-Graduiertenkolleg „Deutungsmacht – Religion und _belief systems_ in Deutungsmachtkonflikten“

25 angehende DoktorandInnen aus Deutschland hörten beim Nachwuchsforum „Streitkulturen“ Vorträge, erhielten ein Schreibkompetenzen förderndes Wissenschaftscoaching und setzten sich in Workshops der KollegiatInnen des Graduiertenkollegs „Deutungsmacht – Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten“ phänomenorientiert mit Streit- und Konfliktkulturen sowie deren Praxen auseinander.

Was sind die konstruktiven und destruktiven Elemente des Streits? Diese richtungsgebende Frage des Forums stellte Sprecherin Martina Kumlehn an den Beginn ihrer Begrüßung und schloss angesichts gesellschaftlicher und religiöser Spannungsfelder mit dem Appell: „Zu Deutungsmachtkonflikten muss man sich verhalten, und dazu braucht es möglichst differenzierte Streitkulturen“. Als zu untersuchende Teilaspekte fokussierte sie u. a. auf radikalisierende Kommunikationsformen, symbolisch oder bildlich transportierte Gewissheitserfahrungen, implizit und explizit kommunizierte Geltungen sowie diskursgrundierende Narrative, mit und in denen sich Deutungen machtvoll entfalten können.

Die interdisziplinäre Ausrichtung des Graduiertenkollegs prägte auch die Spannweite der Vorträge, deren Impulse von der Soziologie über die Systematische Theologie bis hin zu Politik-, Kommunikations-, Literatur- und Kulturwissenschaften reichten.

DANIEL WITTE (Frankfurt am Main) eröffnete das Nachwuchsforum, indem er systematisch und begriffstheoretisch auf Streit fokussierte und die (wenigen) makrosoziologischen Meilensteine einer Theorie des Streits aufzeigte. Forschungsgeschichtlich grenzte er den Terminus Streit vom Konflikt ab und sprach hierbei von Streit als „soziologischem Stiefkind“, das auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eigenständiger Topos oder Analysewerkzeug keinen Eingang in die sozialwissenschaftliche Literatur erhalten habe. Grundlegend infrage stellte er die Annahme nur zweier sich gegenüberstehender Streitparteien bzw. AkteurInnen – zu beachten seien auch zentrale Vermittlungsinstanzen und die tragende Position unbeteiligter Dritter, Komplexität reduzierende Streitbeteiligte sowie Unterbrechungen und Erstickungen des Streits. Diskutiert wurde im Anschluss die Frage, inwieweit die (deutsche) Wissenschaftssprache überhaupt einen Platz für das Streiten biete und ob ein elitistischer Habitus bestimmte produktiv-konfliktive Begegnungen in diesem Kontext womöglich verhindere.

REINER ANSELM (München) befand ebenfalls, dass eine an nur zwei große politische Lager adressierte Konfliktmoderierung den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht mehr genüge. Er ging kritisch auf die ambivalente Bedeutung von Kirchen als Orten moralischer Orientierung, aber auch Produzenten eines moralischen Paternalismus ein und hob nach einem religionshistorischen Abriss zum Verhältnis von christlichen Kirchen und demokratischer Politik Konfliktbruchlinien bzw. cleavages als untersuchenswerte Teilaspekte hervor. Mit dem Blick auf die Fragmentierung gesellschaftlicher Sphären stellte er fest, dass gerade Homogenisierungen zu neuen Konflikten führen, denn „abweichende Positionen werden mit moralischen Argumenten ausgeschlossen“. Antipluralistische populistische Kräfte, die einen Anspruch auf Alleinvertretung formulieren, würden sich dabei z. T. auch als gelehrte Kirchen„schüler“ aufstellen. In den Anmerkungen zu Anselms Ausführungen wurde besonders der Bedarf nach einer Differenzierung diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken sowie von Streiträumen deutlich.

Einen unvermittelten Einblick in performativ eigenwillig aufgebaute Streitarenen vermittelte das erste Beispiel aus PAULA DIEHLs (Kiel) Vortrag – ein Video, in dem US-Präsident Donald Trump als archetypischer Kämpfer gegen den Sender CNN in einem Wrestlingszenario auftritt. Die fragile Überbetonung symbolischer Stärke und ein maskulinistisches Männlichkeitskonzept drücken sich darin u. a. im militaristisch-entwürdigenden Ritual des Rasierens von Kopfhaar aus (an einer Person, die den Sender CNN verkörpert). „Populismus ist gegen jegliche Mediation“, bemerkte Diehl in der Erläuterung des hier zur Karikatur verkürzten Streits, der um (demokratische) Öffentlichkeiten mit neuen Methoden und Medien indes komplex ausgetragen wird. Populistische Strategien seien mit Massenmedien besonders kompatibel und würden von ihnen begünstigt. Als spezifischen Populismus behandelte Diehl den Rechtspopulismus, der als Brücke für rechtsradikale Ideologeme in die demokratische Öffentlichkeit fungiere. Nicht zuletzt zeigte die Politik- und Kommunikationswissenschaftlerin die strukturellen Ähnlichkeiten politischer und journalistisch-medialer Strategien auf, die etwa Emotionalisierung und Dramatisierung forcieren, wodurch Konflikte medial gewissermaßen „privilegiert“ werden.

PETER SCHABER (Zürich) schlüsselte in seinem Vortrag zu respektvollen Auseinandersetzungen und ihrem Wert für die Gesellschaft Formen der Achtung auf und deutete Toleranz als spezielle Form von Achtung. Im 19. und 20. Jahrhundert habe sich aus philosophisch-ethischer Perspektive eine grundsätzliche Ausweitung der Toleranzidee vollzogen, auch wenn sich derzeit global zahlreiche Gegenrhetoriken und -praxen identifizieren lassen. Schabers zu Streit und Konflikt komplementär skizzierte Konzepte der Achtung und Toleranz warfen indes einige Fragen nach Dynamiken von Moralverständnissen auf; auch das Spannungsverhältnis individueller und kollektiver Moral wurde im Anschluss diskutiert.

KLAUS VON STOSCH (Paderborn) setzte die theologische Bearbeitung des Themenkomplexes fort und stellte in seinem Vortrag wissenschaftsreflexiv die Komparative Theologie als interreligiöse Streitkultur vor. Dieser Erörterung ging die grundlegende Annahme voraus, Streit brauche sowohl Kultur, womit Regeln, die den Streit leiten, gemeint seien, als auch konsensuelle Übereinkünfte. Außerdem mache Streit Grenzen sichtbar, wodurch ein selbstreflexives Moment möglich werde. Zugleich stelle die Überschreitung von Grenzen eine produktive Dimension des Streits dar, weshalb von Stosch den Streit auch als „Lust am Transzendieren“ bezeichnete. Im Anschluss daran ging er auf die Komparative Theologie und ihre Methoden ein. Hier bezog er sich wesentlich auf die „mikrologische Wende“, die den Streit auf ein überschaubares Feld begrenze, das notwendig sei, um Rechthaberei zu vermeiden. Zudem problematisierte er die Notwendigkeit, sich in die Perspektive anderer zu begeben, um Streitfragen zu präzisieren. Die Prämissen der Komparativen Theologie stellte er an den Schluss: Demut im Erkennen der Wahrheit, Vertrauen ins Verstehen, Vulnerabilität, Empathie und Gastfreundschaft. Insbesondere seine Ausführungen zu Identität – „Streit ermöglicht es, Kultur nicht zwangsläufig mit dem Begriff der Identität verknüpfen zu müssen“ 1 – berühren grundlegende begriffsmethodologische Konzepte (auch) der Kulturwissenschaften. Hingewiesen wurde im Anschluss auch auf die Bedeutung von Zeit als Voraussetzung von Streit(-praxen).

Im letzten Vortrag sprach KAREN STRUVE (Kiel) über narrative Konstruktionen widerstreitenden Wissens. Ausgangspunkt war die postkoloniale Lektüre der Enzyklopädie von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d'Alembert (Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers), anhand derer sich koloniale Alterität unter Vorzeichen von Streitkultur neu perspektivieren lasse. Struves Schwerpunkt lag auf methodologischen Aspekten; sie stellte die kontrapunktische Lektüre nach Edward Said als (nicht nur) in der Literaturwissenschaft relevanten Ansatz für polyperspektivische Erzählungen heraus, von der sich womöglich das Konzept eines „kontrapunktischen Konsenses“ ableiten lasse. Das „koloniale Andere“ als Macht- und Ambivalenzfigur zeigte Struve an einem Artikel aus der Enzyklopädie auf, in dem ein „Wilder“ durch eine Wollmanufaktur streife und die Autoren die Figur in direkter Rede sprechen lassen. Die Musikmetaphorik der Methode wurde anschließend in den Anmerkungen zum Vortrag aufgegriffen und ebenso auf Saids Begriff der Notation verwiesen. Weiter wurde die literarische Figur des savage critic als Figur im Aufklärungsdiskurs anhand der Antipoden Redeerteilung und Redeermächtigung weiter ausdifferenziert.

Neben den Vorträgen besuchten die TeilnehmerInnen des Nachwuchsforums auch Seminareinheiten von KollegiatInnen des Rostocker Graduiertenkollegs.

MARIAN PRADELLA und RONNY ROHDE gingen gemeinsam der Frage nach, mit welchen Zielen und Mitteln die (radikale) Rechte in Deutschland den gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu beeinflussen versucht. Phänomenorientiert wurden die im derzeitigen Diskurs aufgerufenen Narrative und die damit im Zusammenhang stehenden Strategien im gesellschaftlichen Streit analysiert. Ziel war es, die Produktion und Durchsetzung ideologischer Elemente in der konkreten Diskurspraxis mithilfe von theoretischen Überlegungen zu reflektieren.

KATHARINA ALEXI befasste sich am Beispiel der Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel mit dem jüngeren Diskurs über Abtreibung in Deutschland. Konfliktlinien, beteiligte DiskursakteurInnen und ihre Deutungen wurden macht- und kontextanalytisch aufgeschlüsselt. Anhand von Diskursfragmenten erarbeiteten die Teilnehmenden Kenntnisse über (neo-)konservative bis rechte Kräfte als auch zivilgesellschaftliche und ärztliche Interventionen, die einen „Prangerschaftsabbruch“, Informationsfreiheit und eine ausreichende medizinische Versorgung für Frauen fordern. Einbezogen wurde dabei die künstlerisch-musikalische Bearbeitung des Themenkomplexes in der populären Musik.

JOSHUA FOLKERTS und TOBIAS GÖTZE fokussierten auf die Frage nach dem Maß an Zweifel und Gegenmeinung, das eine demokratische Streitkultur sowohl braucht als auch verträgt. Dafür wurden Begrifflichkeiten beleuchtet, mit denen die für eine dynamische Streitkultur wichtigen Überzeugungen anhand ihrer Geltungsansprüche untersucht werden können. Auch dieser Beitrag verwies auf die Relevanz eines breit angelegten Begriffswerkzeugs, um sich Streit- und Konfliktkulturen nähern zu können.

DAWID MOHR und VALERIAN THIELICKE stellten den Zusammenhang von Feindbildern und der Form konkreter Streitkultur im Fall eines Konflikts über die kollektive Identität ins Zentrum ihres Beitrags. Anhand der deutschen Leitkultur-Debatte untersuchten sie mit den TeilnehmerInnen die Verschachtelungen kollektiver Identitätskonstruktion, die im Zuge von Konflikten um kollektive Identität auftreten können. Die Funktionen der Deutungsangebote in der Debatte identifizierten und abstrahierten die NachwuchswissenschaftlerInnen im Material, u. a. affirmativen und kritischen politischen Reden, in Gruppenarbeiten.

NINA KÄSEHAGE schließlich diskutierte die politisch und medial vermittelte Dominanz gewaltbereiter Taten aus dem sogenannten islamistischen Milieu. Ein besonderer Bestandteil der Diskussion war die Frage der möglichen Instrumentalisierung einer gesamten Religion durch die Verknüpfung gewaltbereiter Taten mit ihrem Namen (Stichwort: Islamisierung). An Begriffe wie Islamismus und auch Extremismus seien Deutungspraxen und -hoheiten geknüpft, die in bestimmten Wirk- und Arbeitsbereichen grundlegend voneinander abwichen, auch zwischen Wissenschafts- und Politik-/Medienbetrieb. Ein Dissens aufgrund unterschiedlicher Orientierungen müsse jedoch nicht zwangsläufig zu einem Zerwürfnis führen, sondern könne zugleich die Quelle neuer (Forschungs-)Ansätze darstellen, betonte Käsehage.

In der Abschlussdiskussion wurden wiederkehrende und offen gebliebene Fragestellungen aufgegriffen, ausgearbeitet und hierauf aufbauend reflexive Beobachtungen multidisziplinär verdichtet. „Wer darf streiten, wie wird gestritten und was ist streitwürdig?“, stellte Martina Kumlehn als weiterführende Fragen hinsichtlich der Sprechpositionen, AkteurInnen und Institutionen sowie der Erzählungen, Mediatisierungen und Performanzformen des Streits fest. Nicht zuletzt die Räume, Phasen, Ziele, aber auch der Sinn konfliktiver Kommunikation wurden als konkrete Analyseraster verdeutlicht. Offen bleibt bei den skizzierten Differenzierungsmöglichkeiten einer Streitforschung weiterhin vor allem, was eigentlich nicht (mehr nur) Streit sei: mit Daniel Witte Gewalt, mit Paula Diehl müssen mindestens auch aufmerksamkeitsökonomische Strategien spezifiziert werden, die zur Herstellung hyperrealer Streitarenen im digitalen Zeitalter beitragen.

Konferenzübersicht:

Vorträge

Daniel Witte (Frankfurt am Main): Streit als Form der Konfliktaustragung. Facetten einer Theorie des Streits

Reiner Anselm (München): Öffentliche Religion und Streitkultur in der Demokratie

Paula Diehl (Kiel): Populismus in den Medien

Peter Schaber (Münster): Respektvolle Auseinandersetzungen und ihr Wert für die Gesellschaft

Klaus von Stosch (Paderborn): Interreligiöse Streitkultur: Chancen und Grenzen von Dialog und Vergleich

Karen Struve (Kiel): Wissen im Widerstreit. Narrative Konstruktion von kolonialer Identität

Daniela Meinhardt (Köln): Keine Angst vor der Promotion. Schreibstrategien für die Exposéarbeit

Seminareinheiten der KollegiatInnen (alle Rostock)

Marian Pradella und Ronny Rohde: Wie Rechte reden – Ideologie und Diskurspraxis

Katharina Alexi: Informations- oder Werbeverbot? Deutungsmachtkonflikte zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch am Beispiel der Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel

Tobias Götze und Joshua Folkerts: Wie viel Skepsis braucht die Streitkultur? Chancen und Grenzen des Zweifels

Valerian Thielicke und Dawid Mohr: Feindbilder und Streitkultur: Konflikte um kollektive Identitäten

Nina Käsehage: Islamisierung des Extremismus oder Radikalisierung des Islam?

Anmerkung:
1 Max Orlich (2008): "Don't Be Nice - It's the Kiss of Death". Streitlust und Streitkultur der Avantgarden, in: Gunther Gebhard / Oliver Geisler / Steffen Schröter (Hg.): StreitKulturen. Polemische und antagonistische Konstellationen in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld: transcript, 97.


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