Der nationalsozialistische Krankenmord in Europa

Der nationalsozialistische Krankenmord in Europa

Organisatoren
Fritz Bauer Institut; Gedenkstätte Hadamar
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.06.2019 - 29.06.2019
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Von
Christopher Gomer, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Das Fritz Bauer Institut und die Gedenkstätte Hadamar veranstalteten die internationale Tagung mit dem Ziel, im Kontext der nationalsozialistischen Eroberungs- und Mordpolitik die europäische Dimension dessen zu erschließen, was von den Nationalsozialisten euphemistisch als „Euthanasie“ bezeichnet wurde. Gefragt wurde nach dem Schicksal der Patienten in den von Deutschland überfallenen Ländern, den Reaktionen ihrer Angehörigen, nach der Rolle der deutschen Besatzer und der einheimischen Funktionäre, nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten in Ost- und Westeuropa und schließlich nach dem Bezug der Krankenmorde zum systematischen Mord an den europäischen Juden.

SYBILLE STEINBACHER (Frankfurt am Main) verwies in ihrer Einführung auf den Zusammenhang zwischen dem Beginn des Massenmords an geistig und körperlich Behinderten und dem von Deutschland entfachten Zweiten Weltkrieg. Der Krieg, der in Osteuropa als rassistisch motivierter Raub- und Vernichtungskrieg um „Lebensraum“ geführt wurde, war das zentrale Projekt des nationalsozialistischen Staates und bot Legitimationsquellen für Ausgrenzung und Vernichtung. Mit dem Verweis auf die „Heilung“ des „Volkskörpers“ ließ sich systematisches Morden ohne weiteres rechtfertigen. Behinderte waren die ersten Opfer dieser Ideologie. JAN ERIK SCHULTE (Kassel) erinnerte in seiner Begrüßung daran, dass dies bereits die zweite Tagung ist, die aus der Kooperation des Fritz Bauer Instituts und der Gedenkstätte Hadamar hervorging.1 Da der nationalsozialistische Krankenmord in der Öffentlichkeit verhältnismäßig wenig Beachtung finde und in seiner europäischen Dimension erst punktuell erforscht sei, komme der Tagung besondere Relevanz zu.

In der von Schulte moderierten Sektion über die Krankenmorde in Deutschland und Österreich setzte GERRIT HOHENDORF (München) den Auftakt mit einem Vortrag über die Entstehungsgeschichte und die Praxis der „Euthanasie“ im Kerngebiet des Deutschen Reichs. Er zeichnete die ideengeschichtliche Entwicklung nach und zeigte, wie der Begriff im späten
19. Jahrhundert mit sozialdarwinistischen Motiven verquickt wurde. Die Überzeugung, dass es „lebensunwertes Leben“ gab, herrschte spätestens seit der Weltwirtschaftskrise im Zusammenhang mit radikalen Sparmaßnahmen in der deutschen Psychiatrie vor. Im NS-Staat wurden für ökonomisch nützlich befundene Patienten ab 1934 zwangssterilisiert, während als nutzlos klassifizierte im Krieg dem systematischen Mordprogramm der „Aktion T4“ zum Opfer fielen. Dass die Täter der „Aktion T4“ die Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ aufbauten und unmittelbar an der Ermordung der europäischen Juden beteiligt waren, wird von der Holocaustforschung, wie Hohendorf skizzierte, bereits seit einiger Zeit untersucht.

FLORIAN SCHWANNINGER (Alkoven) beleuchtete die Ereignisse in Österreich und zeigte, dass mit dem „Anschluss“ der Umbau des Gesundheitssystems nach dem Vorbild des „Altreichs“ vonstattenging. In eigens in den Anstalten eingerichteten „Kinderfachabteilungen“ wurden Kinder zu sogenannten „Forschungszwecken“ missbraucht und getötet. Im Mai 1940 begann im Schloss Hartheim, das zur Tötungsanstalt der „Aktion T4“ umgebaut worden war, die Ermordung von Patienten aus verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten Österreichs. Auch noch nach dem Stopp der „Aktion T4“ starben hier Patienten in Folge von Vernachlässigung und Mangelernährung oder auch durch überdosierte Medikamentengaben.

In der anschließenden Diskussion wurde der Zusammenhang zwischen rassehygienischem Diskurs und psychiatrischer Sparpolitik aufgegriffen. Außerdem ging es um die Begriffe des zentralen und des dezentralen Krankenmords. Hohendorf betonte, dass die Phasen nicht scharf voneinander zu trennen seien und die „Aktion T4“ nur einstweilen ausgesetzt wurde, nach dem „Endsieg“ aber wiederaufgenommen werden sollte. Schwanninger wies darauf hin, dass die dezentrale „Euthanasie“ regional ganz unterschiedlich vonstattenging.

Die folgende Sektion wurde von JÖRG OSTERLOH (Frankfurt am Main) moderiert und hatte die Ereignisse im annektierten Sudetenland und dem Protektorat Böhmen und Mähren zum Gegenstand. HAGEN MARKWARDT (Pirna) referierte über die Struktur der Heil- und Pflegeanstalten des Sudetengaus und zeigte, dass die Region früh in die Planung der zentralen Krankenmorde einbezogen wurde. Unklar sei jedoch, inwiefern lokale Ärzte Kenntnis vom Zweck der Meldebögen hatten, die sie für die „Aktion T 4“ ausfüllen mussten. Zahlreiche sudetendeutsche Patienten starben auch an den Folgen systematischer Mangelversorgung, viele wurden vermutlich auch medikamentös ermordet. Markwardt wies darauf hin, dass die Verantwortung für die dezentralen Krankenmorde bei Funktionären auf der Reichs- und Gauebene, aber auch bei den örtlichen Anstaltsleitungen gelegen habe.

MICHAL V. ŠIMŮNEK (Prag) sprach über die „Euthanasie“-Aktionen im Protektorat Böhmen und Mähren. Aufgrund der von den Nationalsozialisten hier vordringlich angestrebten ethnischen Homogenisierung waren die Patienten bereits 1939 Transporten ausgesetzt. In den Heil- und Pflegeanstalten wurden 1940 „Judenabteilungen“ eingerichtet, jüdische Patienten auch bald ermordet. Zwischen 1942 und 1945 war die Situation nach der Reduzierung der Aufnahmekapazitäten und wegen kriegsbedingter Verlegungen aus dem „Altreich“ durch eine extreme Überbelegung und eine hohe Sterberate geprägt. Kennzeichnend war zudem, dass Tschechen und Staatenlose nicht in die „Aktion T4“ einbezogen wurden. Šimůnek erläuterte, dass Entscheidungsträger der unteren Ebene die Einbeziehung zwar forderten, sie von übergeordneten Stellen der „Aktion T4“ aber abgelehnt wurde.

Der Krankenmord in den besetzten und annektierten Gebieten Polens war das Thema der von ROLAND LEIKAUF (Kassel) moderierten Sektion. ROBERT PARZER (Wiesbaden) zeigte, unter welchen Voraussetzungen die Täter nach Polen kamen. Er wies darauf hin, dass die Planung der „Aktion T4“ und die des Angriffskriegs auf Polen gleichzeitig vollzogen wurden, und betonte den Vernichtungscharakter des Feldzugs. Die Morde im Reichsgau Wartheland hatten in vielerlei Hinsicht Vorbildfunktion für die Entwicklung der gesamten Vernichtungstechnik und -logistik. In Posen fand bereits 1939 eine „Probevergasung“ statt – sie war die Blaupause für die Morde in den eigens geschaffenen Tötungsanstalten im „Altreich“. Im Warthegau konstituierte sich auch das Sonderkommando Lange, ein mobiles Mordkommando, das Patienten in einem zum Gaswagen umgebauten Lastkraftwagen ermordete. HARALD JENNER (Berlin) sprach über die bislang erst wenig erforschten Krankenmorde in Meseritz bei Berlin. Zu den Opfern zählten u. a. sowjetische und polnische Zwangsarbeiter sowie Umsiedler aus dem Baltikum. Auf ihr Schicksal ging er auf der Basis von Namenslisten und Totenscheinen ein. Die anschließende Diskussion drehte sich um den kritischen Umgang mit solchen Quellen, auch wurde über die Gründe gesprochen, warum die Anstalt in der Forschung bislang noch wenig Beachtung gefunden hat.

In der von TOBIAS FREIMÜLLER (Frankfurt am Main) moderierten Sektion ging es um den Krankenmord in Süd- und Westeuropa. ISABELLE VON BUELTZINGSLOEWEN (Lyon) sprach über das Massensterben in französischen Psychiatrien unter nationalsozialistischer Herrschaft und überprüfte Interpretationen, die hierzu vorgelegt wurden. Gegen die These der „sanften Vernichtung“ argumentierte sie, dass das Vichy-Regime versucht habe, den Tod von Patienten zu verhindern, das Massensterben aber nicht habe aufhalten können. Die Lage in den französischen Anstalten habe sich vom gezielten Krankenmord klar unterschieden: Während es in Deutschland breite Zustimmung von Ärzten und Psychiatern zur „Euthanasie“ gegeben habe, setzten sich viele französische Ärzte für eine gute Versorgung der Anstalten ein. Eugenische Theorien seien zwar auch in Frankreich verbreitet gewesen, konnten sich jedoch letztlich nicht gegen humanistische Ideen durchsetzen. Das Vichy-Regime trage freilich Verantwortung für die Vorgänge in den Anstalten, denn die Hungerkrise, deren erste Opfer die Kranken waren, kam erst durch die Kooperation mit den Nationalsozialisten zustande.

CECILE AANDE STEGGE (Bunnik) referierte über die Situation in den niederländischen Anstalten. Die deutschen Besatzer setzten hier „eugenische“ Maßnahmen um. Jüdische Patienten wurden anfangs vor die Wahl zwischen Zwangssterilisation und Deportation gestellt. Unklar sei, ob es neben den Opfern der Mangelversorgung auch gezielte Krankenmorde gab. Über die zahlreichen Toten habe die Zivilbevölkerung geschwiegen, und auch nach dem Zweiten Weltkrieg sei die Frage nach den Toten der niederländischen Anstalten jahrzehntelang nicht gestellt worden.

MARIA FIEBRANDT (Dresden) legte dar, wie Patienten aus Südtirol im Rahmen der von den Nationalsozialisten initiierten Umsiedlungsprozesse in den Aktionsradius der NS-Psychiatrie gerieten. Bei der Umsiedlung sei den Patienten die italienische Staatsbürgerschaft entzogen, die deutsche jedoch verwehrt worden. Da nur solche staatenlosen Patienten in die „Aktion T4“ einbezogen wurden, um die sich nachweislich längere Zeit niemand gekümmert hatte, seien die meisten zwar durch Meldebögen erfasst, aber unter Vorbehalt gestellt und schließlich doch von den systematischen Tötungen ausgenommen worden. Der Grund für dieses Vorgehen lag vermutlich darin, Proteste zu vermeiden, die die Umsiedlung behindert hätten, und die Bündnisbeziehung zu Italien nicht zu belasten. In der Diskussion ging es um die Frage der Nahrungsversorgung für Patienten und darum, ob „eugenisches“ Gedankengut unter niederländischen und französischen Psychiatern verbreitet war. Außerdem wurde diskutiert, inwiefern italienische Behörden die Umsiedlung von Bedürftigen aus Südtirol forcierten.

Der öffentliche Vortrag im Rahmen der Tagung war Ernst Klee (1942–2013) gewidmet. WALTER H. PEHLE (Dreieich-Buchschlag) würdigte den Schriftsteller, Journalisten und Filmemacher, dem große Verdienste dafür zukommen, dass der nationalsozialistische Krankenmord überhaupt Aufmerksamkeit in Öffentlichkeit und zeithistorischer Forschung in Deutschland erlangte. Klee ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema. Pehle, viele Jahre Lektor im Verlag S. Fischer und Initiator sowie Herausgeber der Buchreihe Die Zeit des Nationalsozialismus („Schwarze Reihe“), betreute dessen Werke. Pehle schilderte Klees couragiertes Engagement als investigativer Journalist, der sich für die Rechte behinderter Menschen und anderer Randgruppen in der Bundesrepublik einsetzte. Klees Forschung zum nationalsozialistischen Krankenmord habe längst überfällige Debatten angestoßen, sei jedoch von Zeithistorikern lange Zeit nicht wahrgenommen worden. Nicht selten war Klee auch massiven Anfeindungen ausgesetzt. In seinen Publikationen stechen Pehle zufolge zwei Motive besonders hervor: Klee nannte stets unumwunden die Namen der Täter und er gab den auf bloße Zahlen reduzierten Opfern, so gut es ging, ihre Identität zurück.

Der dritte und letzte Tag der Konferenz begann mit der von JENS KOLATA (Frankfurt am Main) moderierten Sektion zur Sowjetunion. DMYTRO TYTARENKO (Donezk/Krywyj Rih) referierte über die Krankenmorde in den okkupierten ukrainischen Gebieten und beleuchtete insbesondere die Ermordung von Menschen mit Geschlechtskrankheiten. Rassehygienische Ideen, die sich mit pragmatischen Interessen, wie der Beschlagnahme von Anstalten für militärische Zwecke, verbanden, bestimmten hier das Vorgehen der Besatzer. Einsatzgruppen von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst führten unter Mitwirkung von Wehrmachtssoldaten, einheimischen Polizisten und sogenannten Hiwis groß angelegte Erschießungen von Patienten durch.

ALEXANDER FRIEDMAN (Saarbrücken) ging auf die Ergebnisse der von ihm und Rainer Hudemann herausgegebenen Studie Diskriminiert – vernichtet – vergessen2 ein, die sich mit den Krankenmorden in der besetzten Sowjetunion befasst, und machte auf die Ermordung kranker Kinder in der Kleinstadt Schumjatschi aufmerksam. Obwohl es in den besetzten sowjetischen Gebieten keine systematische Mordaktion an Kranken gab, seien zahlreiche behinderte und kranke Menschen ermordet worden. Jüdische Kranke und Behinderte fielen den Mordaktionen als erste zum Opfer. BJÖRN FELDER (Göttingen) gab einen Überblick zu den Krankenmorden in den baltischen Staaten und skizzierte die Strukturen der dortigen Gesundheitssysteme, bevor er sich eingehend mit der Rolle der einheimischen Ärzte in der Psychiatrie von Vilnius befasste. Er betonte die besatzungspolitischen Unterschiede zu anderen sowjetischen Gebieten, wozu vor allem die Tatsache zählte, dass die baltische Bevölkerung aus „rassischen“ Gründen von den Nationalsozialisten als Verbündete gegen den Bolschewismus betrachtet wurde. Auch ging er auf experimentelle Therapien an Patienten ein, die Ärzte der Psychiatrie in Vilnius anwandten und dabei ihre moralische Gleichgültigkeit offenbarten.

Den Tagungskommentar sprach PAUL WEINDLING (Oxford). Es sei durch die Tagung deutlich geworden, dass die nationalsozialistischen Krankenmorde eine bislang wenig beachtete europäische Dimension besitzen. In besetzten Gebieten, in denen keine direkten Mordaktionen ausgeführt wurden, seien zahlreiche Todesfälle durch mörderische Mangelversorgung der Patienten nachzuweisen. Weindling plädierte für eine personenbezogene Dokumentation der Geschehnisse. Die Forschung über die Krankenmorde, so seine Forderung, müsse die Anonymisierung der Opfer unterlassen und deren Biographien ganz in den Mittelpunkt stellen.

Konferenzübersicht:

Deutschland und Österreich

Gerrit Hohendorf (München): Mitten in Deutschland – Die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ im Deutschen Reich

Florian Schwanninger (Alkoven): NS-„Euthanasie“ in der „Ostmark“ – Orte, Dimensionen, Täterschaften

Böhmen und Mähren

Hagen Markwardt (Pirna): Die Heil- und Pflegeanstalten des Reichsgaus Sudetenland im System der NS-Krankenmorde

Michal V. Šimůnek (Prag): Die „Euthanasieaktionen“ in Böhmen und Mähren: Synergien und Differenzen

Polen

Robert Parzer (Wiesbaden): Regionaler Krankenmord mit europäischer Dimension: Die annektierten und besetzten polnischen Gebiete

Harald Jenner (Berlin): Meseritz – der unbekannte Tötungsort

West- und Südeuropa

Isabelle von Bueltzingsloewen (Lyon): Massensterben in französischen psychiatrischen Anstalten unter NS-Herrschaft. Ereignisse und Interpretationen

Cecile aan de Stegge (Bunnik): Zum Anteil deutscher und niederländischer Täter an Krankenmord, Mangelversorgung und dem Sterben in niederländischen Anstalten

Maria Fiebrandt (Dresden): Umsiedlung und Krankenmord. Südtiroler Umsiedler im Visier der NS-Psychiatrie

Öffentlicher Vortrag

Walter H. Pehle (Dreieich-Buchschlag): Ernst Klee (1942–2013). Ein Pionier der medizinischen Zeitgeschichte

Sowjetunion

Dmytro Tytarenko (Donetsk – Krywyj Rih): Krankenmorde in der Ukraine unter der deutschen Okkupation: Opfergruppen, Akteure, Umstände der Vernichtung

Alexander Friedman (Saarbrücken): Die Einsatzgruppe B der Sicherheitspolizei und des SD und die Ermordung geistig kranker Kinder in Schumjatschi (Gebiet Smolensk) im November 1941

Björn Felder (Göttingen): Krankenmorde in den baltischen Staaten unter nationalsozialistischer Besatzung: Deutsche und einheimische Akteure

Schlussbemerkungen

Paul Weindling (Oxford): „Euthanasie“ und Holocaust im NS-besetzten Europa

Anmerkungen:
1 Tagungsbericht: Von der „Euthanasie“ zum Holocaust. Parallelität oder Kausalität, 24.11.2016 – 26.11.2016 Frankfurt am Main / Hadamar, in: H-Soz-Kult, 18.4.2017, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7125> (27.08.2019).
2 Alexander Friedman / Rainer Hudemann (Hrsg.), Diskriminiert – vernichtet – vergessen. Behinderte in der Sowjetunion unter nationalsozialistischer Besatzung und im Ostblock 1917–1991, Stuttgart 2016.


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