Historikertag 2002: Die Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte

Historikertag 2002: Die Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte

Organisatoren
44. Deutscher Historikertag
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2002 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Clemens Vollnhals, Dresden

Diskutierte man 1992 auf dem Historikertag in Hannover noch mit großer Verve über den Umgang mit den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit und beurteilte die Gründung einer eigenen Forschungsabteilung der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen mit deutlicher Skepsis 1, so war zehn Jahre später von diesen erregten Kontroversen in Halle kaum mehr etwas zu spüren.

Im Mittelpunkt der abermals von Klaus-Dietmar Henke (Dresden) geleiteten Sektion standen weniger prinzipielle als pragmatische Fragen des Aktenzugangs und eines besseren Service für die Nutzer, während die schnelle Entscheidung des Gesetzgebers zur Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) allgemein begrüßt wurde. Diese Novellierung war nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, das Altkanzler Helmut Kohl im März diesen Jahres im Rechtsstreit um die Herausgabe von MfS-Unterlagen zu seiner Personen erwirkt hatte, unabdingbar geworden. Andernfalls hätten aufgrund einer missverständlichen Formulierung im Gesetzestext (§ 32 StUG) alle Unterlagen zu Personen der Zeitgeschichte, Amtsträgern in Ausübung ihres Amtes und Inhabern politischer Funktionen für die Forschung dauerhaft gesperrt werden müssen, da sie nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts alle als "Betroffene" oder "Dritte" im Sinne des Gesetzes einzustufen gewesen wären. Diese Gefahr ist mit der Präzisierung der einschlägigen Gesetzesbestimmungen nunmehr gebannt 2. Die MfS-Akten bleiben also weiterhin für die historische Forschung nutzbar, was eine Zeitlang im parlamentarischen Raum alles andere als selbstverständlich war, da CDU/CSU den ursprünglichen Grundkonsens zur Aktenöffnung nicht mehr mittrugen und auch Bundesinnenminister Otto Schily deutliche Vorbehalte äußerte.

Novellierung und neues Procedere

Nach den einführenden Worten Henkes, der den Gang der Debatte seit 1992 kurz skizzierte und verschiedene Diskussionsfelder absteckte, sprach zunächst die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Marianne Birthler begrüßte die neue Rechtslage, da das Kohl-Urteil erhebliche Unsicherheit ausgelöst und die Herausgabe der MfS-Akten wesentlich eingeschränkt habe. Mit der 5. Novellierung und der Präzisierung der Bestimmungen hinsichtlich der Begriffe "Person der Zeitgeschichte", "Amtsträger" und "Inhaber politischer Funktionen" könne die Behörde gut arbeiten, auch sei damit der drohenden "informationellen Privatisierung öffentlicher Funktionen" ein Riegel vorgeschoben. Zu begrüßen sei auch, dass der Gesetzgeber die in § 14 StUG auf Antrag vorgesehene Vernichtung bzw. Anonymisierung von MfS-Unterlagen ersatzlos aufgehoben habe. Diese Möglichkeit wäre nach der alten Regelung am 1. Januar 2003 in Kraft getreten und hätte wohl, wie man befürchten musste, eine beispiellose Aktenvernichtung "von unten" zur Folge gehabt.
Die neuen Bestimmungen zur Aktenherausgabe entsprächen, so Frau Birthler, einer seit längerem so gehandhabten internen Behördenrichtlinie: Vor der Herausgabe von MfS-Unterlagen werden die betroffenen Personen zunächst informiert, die dann binnen einer vierwöchigen Frist dazu Stellung nehmen können. Bei Einwänden nimmt die Behörde eine nochmalige Güterabwägung zwischen dem Persönlichkeitsschutz, den "überwiegend schutzwürdigen Interessen" - d.h. in aller Regel der Privat- und Intimsphäre -, und dem Informationsrecht der Öffentlichkeit vor, das sich aus der in Art. 5 Grundgesetz verankerten Informations-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit ergibt. Von dem Ergebnis der Güterabwägung wird der Betroffene unterrichtet, der damit die Möglichkeit hat, gegebenenfalls gegen die geplante Herausgabe von MfS-Unterlagen über seine Person vor Gericht zu klagen. Da in jedem Einzelfall eine sorgfältige Abwägung erfolgen müsse, gebe es kein einfaches Schema. Vielmehr sei eine Vielzahl von Gesichtspunkten zu berücksichtigen, so etwa die Art der Informationsgewinnung. Tabu seien alle Informationen, die das MfS erkennbar unter Anwendung schwerer Menschenrechtsverletzungen erlangt habe. Auch bei der Verletzung des Brief-, Fernmelde- oder Postgeheimnisses bedürfe es einer genauen Prüfung, ob die so erlangten Daten für das jeweilige Forschungsvorhaben unerlässlich seien und ob es zumutbar sei, dass das Schutzinteresse der betroffenen Person dahinter zurückstehen müsse. Die "verbotenen Früchte" der MfS-Akten ließen keinen freien Aktenzugang zu, sondern nur eine konditionierte Nutzung, die das StUG regele.
Wohl als Reaktion auf einen von zahlreichen Aktennutzern unterzeichneten Offenen Brief, der einen weitverbreiteten Unmut über restriktive Regelungen artikulierte und einen besseren Service für Benutzer einforderte 3, kündigte Frau Birthler an, sie wolle noch in diesem Jahr ein Nutzer-Forum abhalten. Sie sei dankbar für jede konkrete Kritik, verbete sich aber nebulöse Vorwürfe.

Solidarität und Kritik

Für das Bürgerkomitee Leipzig, das sich auch diesmal intensiv in die Novellierungsdebatte eingeschaltet hatte 4, nahm Johannes Beleites auf dem Podium teil. Er erinnerte an die kritische Solidarität, die die Bürgerrechtsbewegung der Behörde immer entgegengebracht habe. Es sei jedoch ein Missverständnis, die Behörde der Bundesbeauftragten als institutionalisierte Erinnerung an 40 Jahre SED-Diktatur (so eingangs Henke) zu bezeichnen. Eine Behörde könne nicht Hüterin des gesellschaftlichen Aufklärungsinteresses sein; ihre eigentliche Aufgabe liege vielmehr in der Erfüllung von Servicefunktionen: in der fachgerechten archivischen Erschließung der Bestände und der kompetenten Beratung der Nutzer. Die Behörde müsse sich primär als Dienstleister verstehen.
Konkret monierte Beleites, dass der Forschung nach wie vor keine Findhilfsmittel zugänglich seien, obwohl solche für den behördeninternen Gebrauch existierten. Es sei nicht länger vertretbar, dass man sich als Forscher keinen eigenen Überblick über die überlieferten Bestände verschaffen könne und sich statt dessen auf das Material verlassen müsse, das einem von den Sachbearbeitern der Behörde vorgelegt werde. Die Situation des Benutzers erinnere an eine Black box: Man wisse nie, ob gut oder schlecht recherchiert worden sei; auch sei es ein Unding, dass andere darüber entschieden, was für das gewählte Forschungsthema von Bedeutung sei. Zumindest der institutionalisierten Forschung außerhalb der Behörde müsse im Interesse der Wissenschaftsfreiheit der gleiche Status wie der Abteilung Bildung und Forschung eingeräumt werden, die alle MfS-Unterlagen ohne vorherige Anonymisierung auswerten könne und erst bei der Publizierung der Forschungsergebnisse für die Wahrung der schutzwürdigen Interessen Sorge tragen müsse. So jedoch besitze die Forschungsabteilung der Behörde de facto ein Monopol.
Darüber hinaus forderte Beleites nachdrücklich die Aufhebung der restriktiven Zweckbindung im StUG, die nur Forschungen zu Methoden, Strukturen und Wirkungsweise des MfS zulasse, andere Fragestellungen - etwa zur Sozialgeschichte der DDR - aber ausblende, und plädierte für eine weitgehende Anpassung an das Bundesarchivgesetz und die andernorts übliche Archivpraxis.

Keine Konkurrenz

In seinem Beitrag skizzierte Hartmut Weber, der Präsident des Bundesarchivs, die Regelungen des Bundesarchivgesetzes, das zwar der Neugier der Forscher mittels Sperrfristen gewisse Zügel anlege, ansonsten aber Themenwahl und Aktenauswertung nicht reglementiere. Was die MfS-Akten angehe, so habe sich der Gesetzgeber mit dem StUG für die sofortige Öffnung entschieden und deshalb auch die Verwahrung der Akten einer besonderen Behörde übertragen, mit der man im Übrigen gut zusammenarbeite und sich in keiner Konkurrenz sehe.
Weber erklärte allerdings auch, dass das Bundesarchiv eines "fernen Tages", wenn die Behörde der Bundesbeauftragten ihre Aufgaben im Auskunftsbereich erfüllt habe, die MfS-Akten als Teil der staatlichen Überlieferung übernehmen werde, womit sie dann auch unter die liberaleren Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes fallen würden. Wie alle Podiumsteilnehmer begrüßte Weber die Streichung von § 14 StUG, da es keine unkontrollierte Vernichtung wichtiger Akten geben dürfe. Auch müsse man sehen, dass im Spannungsfeld von Wissenschaftsfreiheit und Datenschutz die schutzwürdigen Interessen im Laufe der Jahrzehnte sukzessive an Bedeutung verlieren.
Weber sprach sich des weiteren nachdrücklich für eine klare Trennung von Archiv und Forschung aus. Forschung müsse grundsätzlich staatsfern und frei von Weisungen erfolgen, weshalb das Bundesarchiv keine Eigenforschung betreibe, zumal es in der Bundesrepublik dafür genügend Einrichtungen gebe. Sollten also eines fernen Tages die MfS-Bestände vom Bundesarchiv übernommen werden, worüber auf dem Podium Übereinstimmung zu herrschen schien, so könnte man, wie Weber andeutete, die Bildungs- und Forschungsaufgaben der Behörde unter dem Dach einer Stiftung einbringen.

Das StUG als Störfall des Westens

Als letzter auf dem Podium sprach Staatsminister Rolf Schwanitz, der sich maßgeblich für eine zügige Novellierung engagiert hatte, über seine Erfahrungen im parlamentarischen Raum. Die "Koalition der Vernunft" sei heute - zehn Jahre nach der Verabschiedung des StUG - praktisch beendet. Wie der Gang der Beratungen nach dem Kohl-Urteil gezeigt habe, gebe es keinen weiten parteiübergreifenden Konsens mehr. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Offenlegung der MfS-Akten seien aber kein Spezialinteresse der Bürgerrechtler, sondern ein konstitutives Element der "friedlichen Revolution", das auch im Einigungsvertrag seinen Niederschlag gefunden habe. Er beobachte seit längerem die Tendenz, dass das Erbe der friedlichen Revolution nicht mehr als Chance für das vereinte Deutschland, sondern zunehmend als lästiger "Störfall des Westens" begriffen werde. Beruhigend war immerhin der Ausblick, dass es wohl auch bei einem Wahlsieg der Opposition zu keiner erneuten Änderung des StUG kommen werde.

Diskussion und Fazit

In der anschließenden Diskussion wurde aus dem Publikum deutliche Kritik an der bestehenden Praxis des Aktenzugangs geübt, die allerdings nicht so heftig ausfiel, wie man es angesichts des weithin aufgestauten Unmuts hätte erwarten können. An erster Stelle stand die Forderung des freien Zugangs zu Findhilfsmitteln, um selbständig Recherchen anstellen zu können. Auch wurden die mangelnde Transparenz der Antragsbearbeitung und Probleme einer restriktiven Anonymisierungspraxis beklagt; hier habe man oft das Gefühl, dem Wohlwollen der - unterschiedlich kompetent und engagierten - Sachbearbeiter ausgeliefert zu sein.
Auch das Forschungsprivileg der Abteilung Bildung und Forschung wurde kritisch thematisiert. Wohl gab es Verständnis, dass nach dem Sturz der SED-Diktatur schnell gesicherte Informationen über Struktur und Tätigkeit des MfS notwendig gewesen seien, worauf Schwanitz und Abteilungsleiter Siegfried Suckut verwiesen, doch stelle sich die Frage, ob diese Privilegierung beim Aktenzugang heute nicht zu einer schwerwiegenden Benachteiligung der übrigen Forschung führe. Die langen Wartezeiten, die fehlenden Findhilfsmittel und die Anonymisierung schon bei der Akteneinsicht erschweren in der Tat die Durchführung von Promotionsvorhaben und zeitlich befristeten Drittmittelprojekten auf diesem Forschungsfeld.

Als Fazit lässt sich wohl festhalten, dass weitergehende Forderungen - wie die Aufhebung der Zweckbindung und ein weitergehender und damit gegenüber den Medien privilegierter Aktenzugang der Wissenschaft - derzeit keine Chance auf Verwirklichung haben, so wünschenswert sie auch sind. Man muss nach dem Kohl-Urteil schon froh sein, dass mit der Novellierung des StUG der Status quo (bei einigen Modifizierungen im Einzelnen) erhalten bleibt. In der konkreten Praxis kann allerdings einiges getan werden, um die Transparenz und Akzeptanz der Behörde als Serviceeinrichtung zu verbessern. Die Bereitstellung ausgewählter Findhilfsmittel für die Forschung ist nach der derzeitigen Rechtslage schon möglich und sollte eigentlich selbstverständlich sein, auch längere Öffnungszeiten in den Lesesälen wären wünschenswert. Man darf gespannt sein, welche konkreten Ergebnisse das von Frau Birthler angekündigte Nutzer-Forum erbringen wird.

1 Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Wann bricht schon mal ein Staat zusammen! Die Debatte über die Stasi-Akten auf dem 39. Historikertag 1992, München 1993.
2 Vgl. Johannes Beleites: Glasnost. Zur Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. In: Deutschland Archiv 35 (2002), H. 4, S. 553-555.
3 Offener Brief an die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen vom 9.9.2002 (www.runde-ecke-leipzig.de; Rubrik: Presse)
4 Vgl. Tobias Hollitzer (Hrsg.): Wie weiter mit der Aufarbeitung? 10 Jahre Stasi-Unterlagen-Gesetz. Bilanz und Ausblick, Leipzig 2002.

www.historikertag.de