Ausgewählte Probleme der Geschichte Niedersachsens im 20. Jh.

Ausgewählte Probleme der Geschichte Niedersachsens im 20. Jh.

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jh. der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.02.2005 -
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Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Die 13. Zusammenkunft des Arbeitskreises für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen beschäftigte sich am 19. Februar 2005 mit "Ausgewählten Problemen der Geschichte Niedersachsens im 20. Jahrhundert". Rund 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten sich im Gemeindesaal der Gartenkirche in Hannover eingefunden, um Arbeitsergebnisse für den 5. Band des "Handbuchs der Geschichte Niedersachsens" zu diskutieren. Für den Tagungsbericht stellten die Referentin und die Referenten dankenswerterweise Kurzzusammenfassungen zur Verfügung.

Dr. Gerd Steinwascher sprach über die "Novemberrevolution in Niedersachsen": Die Novemberrevolution, die den Übergang von der Monarchie zur Republik einleitete, verlief in den meisten Regionen, die das heutige Land Niedersachsen ausmachen, in ruhigen Bahnen. Freilich bedeutete sie für drei Länder, für das Großherzogtum Oldenburg, das Herzogtum Braunschweig und das Fürstentum Schaumburg-Lippe das Ende der Regentschaft der Fürstenhäuser. Ihre Absetzung bzw. Abdankung musste von den örtlichen Anhängern bzw. Verwaltern der Revolution durchgesetzt oder initiiert werden, in Oldenburg und vor allem in Schaumburg-Lippe geschah dies durch Einfluss von außen. Das Machtvakuum, das durch die Novemberereignisse entstand, wurde in der Regel durch die Rätebewegung, die Arbeiter- und Soldatenräte, ausgefüllt, wobei deren soziale und politische Zusammensetzung unterschiedlich sein konnte. Dies hing mit den politischen Voraussetzungen vor der Revolution zusammen, wie das Beispiel Braunschweig zeigt. Die Revolution war vor allem ein städtisches Ereignis. Hier bildeten sich die Räte zuerst und übernahmen dann die Organisation für ihr Umland. Die geringe Radikalisierung der politischen Linken im Untersuchungsgebiet - Ausnahmen waren Braunschweig, Cuxhaven und Wilhelmshaven - führte dazu, dass eine weitergehende Politisierung der Räte, also die Forderung nach einer Ausweitung der Revolution zu einer sozialistischen Räterepublik, kaum eintrat. Die Rätebewegung in Niedersachsen beschränkte sich, soweit überhaupt politische Forderungen erhoben wurden, weitgehend auf die Forderung nach einer demokratischen Republik und plädierte für die Wahlen zur Nationalversammlung, bereitete also ihren Ersatz selbst vor.

Nachgefragt wurde, inwieweit die sowjetischen Räte überhaupt als Vorbild der insgesamt moderaten Entwicklung in Niedersachsen angesehen werden könnten, was der Referent mit dem Hinweis beantwortete, es existiere zwar zunächst ein Vorbildcharakter, aber es habe eben eine ganz andere Entwicklung gegeben. Unter Verweis auf punktuelle Befunde, aber auch große Forschungslücken wurde die Situation in ländlichen Regionen intensiv diskutiert, wobei betont wurde, dass Revolutionen sich in der Regel auf städtische Brennpunkte konzentrieren würden. Mit Blick auf die im Vortrag sehr markante Profilierung der einzelnen regionalen Fallbeispiele wurde - mit Verweis auf die kontroverse Debatte über einen vermeintlichen deutschen "Sonderweg" - problematisiert, ob es sinnvoll sei, so etwas wie einen "Normalfall" zu konstruieren, von dem dann spezielle Entwicklungen kontrastierend abzuheben wären. Konsens bestand darüber, dass die Novemberrevolution in Niedersachsen die "Revolution einer Minderheit" war und dass es im regionalspezifischen Kontext häufig nicht um eine "sozialistische Revolution" ging, sondern allgemeiner eher darum, überhaupt revolutionäre Veränderungen zu erzwingen.

Dr. Mijndert Bertram berichtete über "Celle, 8. April 1945 - ein Luftangriff, ein Massenmord und die Erinnerung daran": Am 8. April 1945 - vier Tage vor dem Einmarsch britischer Truppen - waren die Eisenbahnanlagen in Celle Ziel eines größeren amerikanischen Luftangriffs. Dabei wurde unter anderem ein Zug getroffen, der rund 4.500 KZ-Häftlinge nach Bergen-Belsen bringen sollte. Etwa die Hälfte der Männer, Frauen und Jugendlichen aus ganz Europa starb im Bombenhagel. Auf diejenigen, die sich in Sicherheit zu bringen suchten, veranstalteten SS, Polizei, Wehrmacht und NS-Funktionäre, aber auch einzelne Zivilisten eine Treibjagd, der nach den Ergebnissen der nach dem Krieg von den Briten angestellten Untersuchung noch einmal 200 bis 300 Menschen zum Opfer fielen. Die wieder zusammen gebrachten Überlebenden, sofern sie marschfähig waren, trieb die SS zu Fuß nach Bergen-Belsen. Ungefähr 500 Häftlinge blieben im Gewahrsam der Wehrmacht auf dem Gelände einer Kaserne zurück, wo sie am 12. April befreit wurden. Dabei stießen britische Soldaten erstmals im Verlauf des Krieges auf eine derart große Zahl von KZ-Häftlingen und gewannen ein Bild von den Untaten, zu denen Deutsche fähig waren.
Über das Geschehen jener Tage, das als das dunkelste Kapitel in der Geschichte der Stadt Celle gilt, wurde fortan ein Schleier des Schweigens und der Bagatellisierung gehüllt. Erst zu Beginn der 1980er-Jahre begann eine offene Auseinandersetzung um die bis dahin hinter vorgehaltener Hand sarkastisch-verharmlosend als "Hasenjagd" bezeichnete Ermordung Hunderter von KZ-Häftlingen. Als ein Resultat der auch im politischen Raum ausgetragenen Diskussion wurde 1992 ein Mahnmal eingeweiht, das an die unmenschlichen Vorgänge erinnert. Dieses geriet jedoch so unauffällig, dass es den meisten Cellern unbekannt blieb.

Im Verlauf der Diskussion wurde angeregt, das zynische Diktum der "Hasenjagd" stärker zu thematisieren und damit die komparative Perspektive zu vergleichbaren Fällen (z. B. Außenlager des KZ Mauthausen) bzw. zu ähnlichen Phänomenen der Kriegsendphase (etwa der Lynchjustiz an abgeschossenen Bomberpiloten) stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Anhand des vorgestellten Beispieles wurde nicht zuletzt auch deutlich, auf welche Quellenprobleme eine systematisch vorgehende Täterforschung stößt. Von Interesse wäre überdies die Kontrastierung der Situation im lange vom Bombenkrieg verschonten Celle mit anderen niedersächsischen Städten, die früher und intensiver von Bombenangriffen betroffen waren. Als Desiderat für weitere Forschungen wurde schließlich auch die Frage formuliert, wie die britischen Besatzungsbehörden in Celle und andernorts damit umgingen, eine "Stadt als Mob" erlebt zu haben.

Prof. Dr. Karl-Heinz Schneider und Dr. Gudrun Fiedler stellten "Überlegungen zur Wirtschaftsgeschichte nach 1945" an: Eine Darstellung der Geschichte Niedersachsens nach 1945 hat unterschiedliche Zugänge zum Thema zu berücksichtigen: zeitliche, sektorale, regionale, systematische. Zeitlich: Die Entwicklung zwischen 1945 und 1990 ist durch Phasen geprägt, die weitgehend den Zyklen der bundesdeutschen Entwicklung folgen, hier aber spezifische Ausprägungen haben. Das Kriegsende 1945 hatte im Gebiet des 1946 gegründeten Landes besonders weit reichende Konsequenzen, weil einerseits bestehende Wirtschaftsgebiete zerschnitten wurden, andererseits mit den zahlreichen Flüchtlingen und Vertriebenen vielfältige ökonomische Probleme (und wenig Chancen) verbunden waren. Sektoral: Die sektoralen Aspekte betreffen vor allem die Entwicklung in den drei Sektoren Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen. Niedersachsen wies im Bundestrend immer überdurchschnittliche Werte bei der Landwirtschaft, unterdurchschnittliche in der Industrie auf. Regional: Die regionalen Unterschiede und Eigenheiten sind besonders ausgeprägt gewesen und geblieben es auch und bedürfen deshalb einer intensiven Darstellung. Als Beispiel dafür wurde anhand eines unternehmenshistorischen Ansatzes die Entwicklung des braunschweigischen Industriezentrums als wichtiger niedersächsischer Wirtschaftsregion dargestellt und die Ablösung der traditionellen Nahrungs- und Genussmittelindustrie durch die Fahrzeug- und Verkehrstechnik als prägender Wirtschaftszweig beschrieben. Systematisch: Hier sind die Frage nach den Leitlinien der Wirtschaftspolitik, die Frage, welche Handlungsspielräume und Konzepte in Hannover bestanden, wie die Beziehungen zu Nachbarregionen bzw. Bundesländern sich entwickelten, welche Einflüsse vom Bund und von Europa (Montanunion, EWG, EU) ausgingen, zu thematisieren.

In der Diskussion wurde angefragt, ob es überhaupt eine Wirtschaftsgeschichte Niedersachsens gibt oder ob man nur die Geschichte der verschiedenen Regionen nebeneinander stellt. Wie ist die Beziehung zum Umfeld Niedersachsens zu beschreiben: Muss der Wandel der Verkehrsströme von Ost - West [vom Industriegebiet Halle - Magdeburg zum Ruhrgebiet] nach Nord - Süd [Hamburg - München] nicht stärker gewichtet werden? Welche Bedeutung hatten die politischen Faktoren? Es muss deutlich werden, dass die Politiker aktive "Strukturpolitik" (Emslandplan/Zonenrandförderung) betrieben. Der Begriff "rückständig" ist schwierig, da er ein relativer Begriff ist. So kann "agrarisch" von städtischen Verhältnissen aus betrachtet rückständig bedeuten, aber die Landwirtschaft kann hochmodern sein und für die Zeit ausgesprochen effektiv. Hat der Begriff dann überhaupt eine Erklärungskraft, wenn immer die Vergleichspunkte genannt werden müssen?

Dr. Manfred von Boetticher widmete sich dem Thema "Landesgeschichte und Landesbewusstsein in der Albrecht-Ära. Von Widukind bis Albrecht": In besonderer Weise ist es dem Ministerpräsidenten Ernst Albrecht gelungen, weiten Bevölkerungskreisen zu vermitteln, dass ihm - dem eigenen Anspruch nach modernen Wirtschaftspolitiker - die Geschichte Niedersachsens und die niedersächsischen Traditionen ein besonderes Anliegen waren. Unter Rückgriff auf das mittelalterliche Stammesherzogtum Sachsen und dem Anknüpfen an verschiedenes älteres Brauchtum versuchte die Landesregierung, ein angeblich historisch begründetes Landesbewusstsein zu schaffen. Dies kam dem Erhalt historisch bedeutsamer Kulturdenkmäler ebenso zugute wie der Förderung hervorragender Leistungen auf allen Gebieten von Publizistik und Wissenschaft. Ohne Zweifel lagen hier die Verdienste der Landesregierung - auch wenn ihr Engagement beim Erwerb einzelner überteuerter Objekte wie dem Jagdschloss Nienover oder dem Evangeliar Heinrichs des Löwen umstritten blieb. Deutlich wurde dabei jedoch auch, in welcher Weise das Geschichtsbild des Ministerpräsidenten selektiv war. Weniger die Identität des Landes Niedersachsen, das 1946 geschaffen wurde, stand für ihn im Vordergrund, als vielmehr dessen Vorgeschichte, in deren Konstruktion eine durchgehende Linie von Herzog Widukind zu Albrecht gezogen wurde. Gewiss erreichten solche Vorstellungen nicht das gesamte Land, in der Anhängerschaft der Regierungspartei wurden sie aber gern angenommen.

Es wurde diskutiert, ob man Albrechts Geschichtsbild als "Klientelpflege" beschreiben kann. Muss man nicht stärker betonen, dass er auf diese Weise die Integrationsdefizite des "jungen" Bundeslandes Niedersachsen beheben und durch kulturelle "weiche" Faktoren seinen Beitrag zur Wirtschaftspolitik leisten wollte? Man sollte Albrecht nicht als verunglückten Historiker, sondern als "Landesvater" ansehen. Ist die Rückbesinnung auf die Pflege der (Landes-)Geschichte und speziell der Ortsgeschichte nicht eine Folge des Optimismusverlusts in den 1970er-Jahren? Nachgegangen werden sollte auch der Frage, welche Bedeutung die Gemeindereform in den 1970er-Jahren für das neue Interesse an der regionalen und örtlichen Geschichte hat.

Mit seiner 13. Zusammenkunft hat sich der Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen erneut als Forum präsentiert, das es gestattet, Arbeitsergebnisse zur Diskussion zu stellen. Im Vordergrund steht dabei das Begleiten mit Kritik und Zustimmung, Anregungen und Impulsen. Dieser Werkstattcharakter macht eine relativ große thematische und methodische Bandbreite möglich. Auf dem Weg zur Fertigstellung des 5. Bandes des "Handbuchs der Geschichte Niedersachsens" hat die Tagung den Autorinnen und Autoren wertvolle Hinweise gegeben.

Das 14. Treffen des Arbeitskreises findet am 5. November 2005 von 10.30 bis 17.00 Uhr im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover zum Thema "Nationalsozialismus als Zustimmungsdiktatur?" statt. Nach einer Kurzvorstellung des derzeit vorbereiteten Forschungsverbundes "Nationalsozialismus in Niedersachsen" und eines in diesem Rahmen geplanten überregionalen Forschungsprojektes stehen folgende Vorträge auf der Tagesordnung: "Die niedersächsischen NS-Gaue im regionalen Vergleich" (Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann), "Regionale Eliten und Nationalsozialismus im deutschen Südwesten" (Prof. Dr. Cornelia Rauh-Kühne), "Der Nationalsozialismus als ‚Zustimmungsdiktatur' - Das Fallbeispiel Hamburg" (Dr. Frank Bajohr), "Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis" (Dr. Sabine Moller) und "Die Rolle der hannoverschen Oberfinanzbehörde bei der Judenverfolgung - ein Beispiel für den Nationalsozialismus als ‚Zustimmungsdiktatur'?" (Dr. Marlis Buchholz). Abschließend sollen Erkenntnismöglichkeiten und Perspektiven, mögliche Arbeitsfelder und methodische Probleme eines Forschungsverbundes "Nationalsozialismus in Niedersachsen" angesprochen werden. Dazu sind Kurzinformationen zu Aktenbeständen, die sich für eine Auswertung im Rahmen neuer Forschungen zum Nationalsozialismus in Niedersachsen anbieten würden (N.N.), zu bibliothekarischen Serviceleistungen für die NS-Forschung in Niedersachsen (Dr. Anne-Katrin Henkel) und zur Präsentation von Aspekten des Nationalsozialismus in Niedersachsen im Internet und Überlegungen zur weiteren Nutzung digitaler Medien (Prof. Dr. Karl-Heinz Schneider) vorgesehen.


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