Historikertag 2002: Gewalt in den USA: Traditionen und Visionen in den 1960er und 1970er Jahren

Historikertag 2002: Gewalt in den USA: Traditionen und Visionen in den 1960er und 1970er Jahren

Organisatoren
44. Deutscher Historikertag
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2002 -
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Von
Juergen Martschukat, hamburg

Gewalt, so meinte der afroamerikanische Bürgerrechtler H. Rap Brown (der mittlerweile Jamil Abdullah Al-Amin heißt) im Jahr 1967, sei so amerikanisch wie Kirschkuchen: „Violence is as American as cherry pie.“ Eine solche Typisierung von Gewalt als wesenhaft amerikanisch mag in einer politischen Auseinandersetzung, wie Brown sie um die Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung führte, gegebenenfalls ein vorteilhaftes Argument sein. Auch erscheint ein Blick auf die 1960er Jahre zunächst eine solche Wahrnehmung zu bestätigen, denn es werden Bilder von brennenden Städten in Erinnerung gerufen, von weißen Polizisten, die mit ihren Schäferhunden schwarze Demonstranten angreifen, von Politikern und Bürgerrechtlern, die von Attentätern niedergeschossen werden, von napalmverbrannten Kindern in Vietnam – die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Ein zweiter Blick auf das Phänomen USA und Gewalt aus einer etwas anderen Perspektive, nämlich aus der Perspektive historischen Erkenntnisinteresses, lässt Browns Äußerung jedoch problematisch erscheinen. Denn zu behaupten, Gewalt sei so amerikanisch wie Kirschkuchen, typisiert Gewalt eben als wesenhaft amerikanisch und damit als gleichsam unabwendbar. Gewalt wird zu etwas, das Amerika schlicht und einfach ausmache und das Amerika schon immer ausgemacht habe – und eigentlich, so könnte eine inhärent logische Schlussfolgerung lauten, bedarf sie damit keiner weiteren Erklärung oder Untersuchung mehr. Großdeutungen wie die Frontierthese scheinen, wenn sie ohne genauere Bestimmung ins Feld geführt werden, ein solches generalisierendes Perzeptionsmuster zu bestätigen. Die historische Gewaltforschung der letzten Jahre hat nun eindringlich gezeigt, dass eine solche Position zu kurz greift. Denn Gewalt wird immer in historischen Zusammenhängen ausgeübt, innerhalb von Denk- und Wahrnehmungsweisen sowie von kulturell verfestigten Handlungsmustern, die Gewalttaten erst möglich werden lassen. Demnach kann Gewalt und ihre Ausübung nur dann verstanden werden, wenn sie in historisch genau markierte Zusammenhänge eingeordnet wird und ihre Bedingungen erfasst werden. 1 Im Gegensatz zur Essentialisierung der Gewalt, wie sie auch in publizistischen Betrachtungen beliebt und verbreitet ist, erfordert eine solche Historisierung einen genauen Blick, der Momentaufnahmen erfasst und diese Momentaufnahmen aber auch in eine weitere Perspektive einfügt. 2

Die Sektion über „Gewalt in den USA“ nahm diese Postulat der Historizität von Gewalt ernst. Vier Betrachtungen zu den 1960er und 1970er Jahren sollten dazu beitragen, das Verhältnis von Gewalt und Geschichte eingehender zu beleuchten und zugleich eine Diagnose des Untersuchungszeitraumes zu leisten. Im Zentrum der Sektion stand die Frage, wie sich eine Gesellschaft mit ihrer Gewalthaftigkeit auseinandersetzt und sich in diesen Auseinandersetzungen definiert. Die 1960er und 1970er Jahre sind für eine solche Leitfrage deshalb ein besonders dankbarer Untersuchungszeitraum, weil sie nicht nur eine sehr gewalttätige Phase in der US-Geschichte darstellten, sondern auch eine Zeit der Selbstreflexion, in der die US-Gesellschaft auf verschiedene Arten über ihre Gewalthaftigkeit reflektierte, nach Ursachen forschte und nach Lösungen suchte. In der Sektion wurden diese Fragen nach dem Verhältnis von Gewalt und gesellschaftlich-kulturellem Selbstverständnis in vier Feldern verfolgt: Erstens der Bürgerrechtsbewegung, zweitens dem Vietnam-Krieg, drittens der feministischen Kritik und viertens dem Strafsystem bzw. der Todesstrafe.

Zunächst hat sich Norbert Finzsch aus Köln dem Thema „Die ‘National Advisory Commission on Civil Disorders‘ und der Diskurs um Gewalt in den USA, 1968“ zugewandt. Die sogenannte Kerner-Kommission befasste sich mit den gewalttätigen Ausschreitungen, die im Zuge des afroamerikanischen Kampfes um die Bürgerrechte ab der Mitte der 1960er Jahre viele US-amerikanische Städte erschütterten und innerhalb von drei Jahren 300 Tote und 8.000 Verletzte forderten sowie zu 60.000 Festnahmen und Sachschäden in dreistelliger Millionenhöhe führten. Die Kommission versuchte, die Ursachen der Unruhen zu ergründen und Lösungswege aufzuzeigen. 3 Einerseits erscheint der Kommissionsbericht als typisches Element einer liberalen Innenpolitik der Regierung Lyndon B. Johnson, definierte er doch die Armut weiter Teile der afroamerikanischen Bevölkerung und die historisch verankerte Rassendiskriminierung als Faktoren von Unzufriedenheit und Frustration. Vorschläge zur Gegensteuerung wurden entworfen, die aber nie vollständig umgesetzt wurden. Auf der anderen Seite war das eindeutig definierte Ziel der Kommissionsarbeit die Unterdrückung von Protesten und Gewalt. Folglich befasste sich ein anderer, wesentlicher Teil des Berichtes mit Vorschlägen zum Ausbau der Polizeien und der Reform der niederen Justiz. Nicht die Beseitigung der Ursachen von Gewalt, sondern deren Repression stand letztlich im Vordergrund, und die rassistisch geprägte Teilung der Gesellschaft wurde derart reproduziert. Ein vereinfachendes Bemühen um die Unterdrückung von Gewalt durch die Kommissionsarbeit war schon deshalb wenig verwunderlich, weil sich die Kerner-Kommission nicht nur aus Sozialwissenschaftlern und Politikern zusammensetzte, sondern auch aus Juristen und Vertretern der Versicherungsgesellschaften.

In einem zweiten Vortrag mit dem Titel „Violence Hits Home“ näherte sich der Hamburger Historiker Bernd Greiner Kriegsverbrechen in Vietnam an, wobei Greiner sich insbesondere mit der inneramerikanischen Debatte über die Ursachen von Gewalt und Destruktivität befasste. Der brutale Überfall auf My Lai im März 1968, bei dem US-Truppen circa 500 vietnamesische Zivilisten töteten, zog ab Ende 1969 eine umfassende öffentliche Debatte nach sich, „einer jener seltenen Momente in der Geschichte, in denen eine kriegführende Gesellschaft sich ihrer eigenen Gewalttätigkeit stellt,“ wie Greiner betonte. Doch die zunächst mutige Auseinandersetzung über My Lai wandelte sich bald in eine defensivere, apologetische Betrachtung, und Solidaritätsbekundungen aus Politik und Öffentlichkeit für den vor Gericht wegen Kriegsverbrechen Hauptangeklagten Lt. William Calley hatten zunehmend Konjunktur. Die Demoskopen verkündeten, dass über 70 Prozent der Bevölkerung die sofortige Freilassung Calleys forderten. Ähnliche Ergebnisse brachte auch die einzige seriöse sozialwissenschaftlichen Studie über die Wahrnehmung der Geschehnisse in My Lai und ihrer Verhandlung vor Gericht zu Tage, die Herbert Kelman, Soziologe aus Harvard, im Mai und Juni 1971 durchführte. 4 Die Untersuchungsergebnisse signalisierten, dass die Befragten eine individuelle soldatische Verantwortung mehrheitlich zurückwiesen, einen Widerwillen gegen das juristische Verfahren an den Tag legten und die Angeklagten moralisch unterstützten. Insgesamt sprach aus der Untersuchung eine Solidarität der Bevölkerung mit den angeklagten GIs, die sich aus einem Gefühl der Bindung unter gesellschaftlich Machtlosen sowie dem Glauben an die Notwendigkeit staatsbürgerlicher Pflichterfüllung speiste. Greiner kommt zu dem Schluss, dass sich der um My Lai entbrannte Streit letztlich weniger um Kriegsverbrechen drehte, sondern dass hier vielmehr eine Auseinandersetzung um das politische Selbstverständnis und das gesellschaftliche System geführt wurde.

Danach richtete die Bonner Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sabine Sielke den Blick auf sexuelle Gewalt in den USA. Auch Sielke verhandelte in ihrem Vortrag über „Die Politik der starken Trope: Vergewaltigung und feministische Kritik in den USA“ nicht primär tatsächliche Gewalt, sondern die gesellschaftliche und kulturelle Verständigung darüber. Im Zentrum ihrer Betrachtung stand die feministische Kritik der 1960er und 1970er Jahre an der patriarchalen Gesellschaftsordnung, in der sexuelle Gewalt zur „Meistermetapher“ für weibliche Unterdrückung in der US-Geschichte und Gesellschaft avancierte. Durch eine historische Verankerung ihrer Betrachtungen bis in das 18. Jahrhundert hinein machte Sielke zunächst deutlich, wie sehr Auseinandersetzungen über Sexualität und Gewalt auch immer an Definitionen ethnischer und geschlechtlicher Identität gebunden waren und sind. Bei allen positiven Errungenschaften der feministischen Kritik der 1960er und 1970er Jahre verwies Sielke auch auf die Ambivalenz eines geradezu obsessiven Redens über Sexualität und Gewalt in den USA. Die Gräben der Geschlechterdifferenz wurden so weiter zementiert, und die Dämonisierung männlicher Sexualität und die Reduktion weiblicher Subjektivität auf die Position des Opfers schuf zwar kurzfristig Schutzräume, schränkte jedoch langfristig die Mobilität von Frauen in den USA wieder ein. 5

In einem vierten Vortrag der Sektion lenkte Jürgen Martschukat (Hamburg) den Blick auf die Geschichte der Todesstrafe. Diese Geschichte war im Sommer 1976 deshalb besonders prekär, weil zwar seit 1967 keine Hinrichtung mehr vollstreckt und die Todesstrafe 1972 in ihrer bestehenden Form sogar für verfassungswidrig erklärt worden war, der US-„Supreme Court“ nun – im Sommer 1976 – aber zurückwich: Unter bestimmten Bedingungen, so die Entscheidung, stehe die Todesstrafe mit der Verfassung in Einklang. Es entfaltete sich eine umfassende öffentliche Debatte, die vor allem um das Verhältnis von Zivilisation, Humanität, zielgerichteter, tödlicher Gewalt und den Entwicklungsstand einer Gesellschaft kreiste. 6 Diese Auseinandersetzung verschärfte sich, als im November 1976 die erste Hinrichtung nach über neun Jahren unmittelbar bevorstand. Die US-amerikanische Öffentlichkeit schaute gebannt auf das Geschehen in Utah, wo der Todeskandidat Gary Gilmore den Vollzug seines Urteils einforderte. Gilmore faszinierte insbesondere durch ein hypermaskulines Gebahren die Öffentlichkeit und auch die grundsätzlich gewalt- und todesstrafenkritische liberale Ostküstenpresse. Er stellte eine Form von Maskulinität zur Schau, die in den USA der 1970er Jahre eigentlich als verschüttet galt und die ihm, dem verurteilten Doppelmörder, tatsächlich eine Art Heldenstatus zutrug. In diesem Sinne wurde im Fall Gilmore Gewalt an eine positiv konnotierte Form von Männlichkeit gekoppelt und auf diesem Wege auch als Konfliktlösungsmittel sanktioniert.

Insgesamt konnte die Sektion zeigen, wie die Wahrnehmung und Verhandlung von Gewalt nicht nur von unmittelbar konkretisierbaren Interessen abhängt, sondern wie sie auch in historisch verankerte Perzeptionsmuster eingebunden ist und mit den Kategorien „Rasse“ und „Geschlecht“ und ihren Deutungen korrespondiert. Zudem ist in den Vorträgen wie Diskussionen deutlich geworden, wie sich eine Gesellschaft über ihre Positionierung zu verschiedenen Formen der Gewalt selber definiert. Herausgearbeitet wurde auch die Ambivalenz, die der Auseinandersetzung über Gewalt in aller Regel innewohnt, und „last but not least“ – und hier liegt ein ganz entscheidender Punkt auch für weitere Forschungen – wie die Art und die Inhalte der Auseinandersetzung die Wahrnehmung und auch den Umgang mit Gewalt prägen und sie somit ganz konkrete, wirkliche Konsequenzen haben.

Anmerkungen:

1 Vgl. zusammenfassend z.B. Peter Burschel/Götz Distelrath/Sven Lembke, „Eine historische Anthropologie der Folter: Thesen, Perspektiven, Befunde,“ in: Dies. (Hg.), Das Quälen des Körpers: Eine historische Anthropologie der Folter. Köln/Weimar/Wien 2000: 1-26.

2 Gianna Pomatas Postulat, „close-ups“ und „long shots“ zu verbinden, gilt freilich auch über die Geschlechtergeschichte hinaus; Gianna Pomata, „Close-Ups and Long Shots: Combining Particular and General in the Writing of Histories of Women and Men,“ in: Hans Medick/Anne-Charlott Trepp (Hg.), Gesschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte: Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998: 98-124.

3 United States. National Advisory Committee on Civil Disorders: The Kerner Report: The 1968 Report of the National Advisory Commission on Civil Disorders; with a Preface by Fred R. Harris and a New Introduction by Tom Wicker. New York 1988.

4 Herbert C. Kelman/V. Lee Hamilton, Crimes of Obedience: Toward a Social Psychology of Authority and Responsibility. New Haven/London 1989; Herbert C. Kelman/Lee H. Lawrence, „Assignment of Responsibilty in the Case of Lt. Calley: Preliminary Report on a National Survey,“ in: Journal of Social Issues 28,1 (1972): 177-213; dies., „Reactions to the Calley Trial: Class and Political Authority,“ in: Worldview 16,6 (1973): 34-40.

5 Sabine Sielke, Reading Rape: The Rhetoric of Sexual Violence in American Literature and Culture, 1790-1990. Princeton, NJ 2002.

6 Genauer bei Jürgen Martschukat, Die Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika: Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart. München 2002: 130-163.

Kontakt

Dr. Juergen Martschukat, Universitaet Hamburg, Fachbereich Geschichtswissenschaften
E-Mail: <juergen.martschukat@uni-hamburg.de>

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