natur geschlecht vergleich kultur - Neue Wege der Agrargeschichte

natur geschlecht vergleich kultur - Neue Wege der Agrargeschichte

Organisatoren
Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte des ländlichen Raumes
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
22.04.2005 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Jovica Lukovic

Denkt man an das Werk von Ernst Bruckmüller, fällt einem zunächst sein Buch "Nation Österreich" oder seine "Sozialgeschichte Österreichs" ein.1 Jedoch erschöpft sich das Opus von Bruckmüller weder in diesen zwei Werken noch spiegeln sie die ganze Bandbreite seiner Forschungsinteressen wider. Vor allem ein Thema zieht sich wie ein roter Faden durch seine wissenschaftliche Tätigkeit: die Agrargeschichte. Sie stand am Anfang seiner Laufbahn als Historiker mit der Habilitationsschrift "Landwirtschaftliche Organisationen und gesellschaftliche Modernisierung" von 1977 und gipfelte vorläufig in der Ko-Autorschaft an der zweibändigen "Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert"2 und vor allem in der Gründung des "Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes"3 in St. Pölten 2002, das er nun leitet.

Bruckmüllers Werk weist eine thematische Kontinuität auf, macht aber gleichzeitig deutlich, dass diese nur dann zu sichern ist, wenn man es in Umbruchsituationen wagt, neue Wege einzuschlagen. Und die Agrargeschichte scheint sich heute in einer solchen Situation zu befinden, da traditionelle Themen wie Landwirtschaft, Agrarverfassung und Bauernstand nicht auf die Herausforderungen antworten können, vor denen die Geschichtsschreibung insgesamt steht. Wie steht es um agrarische Lebenswelten, wie um das Selbstverständnis der Bauern und Bäuerinnen - und wie lassen sich agrarische Wirtschaftsmoral und bäuerliche Identität erschließen? Das sind nur einige der aktuellen Fragen.

Der 60. Geburtstag von Ernst Bruckmüller war ein willkommener Anlass, um mögliche neue Wege in der Agrargeschichte auszuloten. Am 22. April 2005 veranstalteten Mitarbeiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes zu Ehren des Jubilars in Wien eine Tagung unter dem Motto "natur geschlecht vergleich kultur. Neue Wege der Agrargeschichte".

In ihrem Beitrag "Agrargeschichte als Umweltgeschichte?" entwarf die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter einen Naturbegriff, in dessen Mittelpunkt das prekäre Verhältnis zwischen Mensch und Natur steht. Einerseits ist der Mensch, so Winiwarter, ungeachtet aller technologischen Entwicklungen nach wie vor grundsätzlich auf die Natur angewiesen, denn letztendlich "kann [er] nicht Chemie essen". Andererseits sei die Natur keinesfalls als "Behälter" zu verstehen, sie stelle nicht lediglich Bedingungen für das Agieren des Menschen bereit, sie verhalte sich nicht neutral zu seinen Kulturleistungen. Winiwarter macht sich vielmehr die These zu Eigen, von Natur sprechen, heiße von (Kultur-)Landschaften sprechen. Es gilt also den gewöhnlich quasi-statischen Charakter sowie die überzeichnete Autonomie der Natur in der Geschichtsschreibung zu überwinden.

Die Umweltgeschichte fasst nach Winiwarter die Natur als ein autopoietisches, also ein sich veränderndes und regenerierendes System auf. Winiwarter spricht im systemfunktionalistischen Sinne von einer "strukturellen Kopplung" zwischen Natur und Kultur, und zwar in der Form einer Co-Evolution dieser zwei Bereiche. Ganz nach der Vorstellung von Maurice Godelier wird das evolutionäre Moment in der Emergenz neuer Eigenschaften fokussiert, was nicht ohne gesellschaftliche Folgen bleibt.

Wie kann dieses mutuale Umweltmodell Winiwarters neue Wege in der Agrargeschichte weisen? Sie demonstrierte es am Beispiel der Geschichte des Bodens, genauer: des Wissens über die Bodenbebauung, der "Kodifizierung von Verfügungswissen über die Natur als Machttechnik". Der von Johannes Coler überlieferte Agrarkalender aus dem 16. Jahrhundert bezeugt eine lange Tradition von Düngetechniken bzw. von Verfahren zur Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit. Damit soll die Umweltgeschichte die Vorleistung erbringen, damit sich anschließend in interdisziplinärer Arbeit herausfinden lässt, ob diese Verfahren tatsächlich angewandt wurden und mit welchem Erfolg.

Man fragt sich, ob diese nahe liegende Fragestellung den großen theoretischen Aufwand rechtfertigt. Außerdem entsteht der Eindruck, dass Winiwarter eine relativ junge Disziplin wie Umweltgeschichte als ein schon geschlossenes System präsentiert – ohne weiße Flecken und ohne offene methodische Fragen. Auch die Potenzierung des Nachhaltigkeitsprinzips ist in diesem Zusammenhang problematisch, da Winiwarter es im normativen Sinn benutzt.

Im zweiten Beitrag "Agrargeschichte als Geschlechtergeschichte?" hob Gertrude Langer-Ostrawsky das "Geschlecht" als agrarhistorische Kategorie hervor. Zugleich machte sie deutlich, dass neue Wege in der Agrarhistorie sich auch durch eine Erweiterung der alten bahnen lassen. Denn die traditionelle Agrargeschichte hatte zwar den Bauernstand thematisiert, dabei aber die Geschlechterproblematik vollkommen ausgeblendet.

Auch im methodologischen Sinne verfolgt Langer-Ostrawsky die Strategie einer behutsamen Eröffnung, indem sie sich die Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung zunutze macht. Dabei ist sie sich sehr wohl bewusst, dass auch der Geschlechterbegriff mittlerweile seine eigene Geschichte hat und dass er heute im Zusammenhang mit anderen relevanten Kategorien am fruchtbarsten wird: ethnische und Klassenzugehörigkeit, Religion, Alter, Bildungsgrad usw.

Wie sich die Genderproblematik für die Agrargeschichte gewinnbringend anwenden lässt, zeigte Langer-Ostrawsky – neben den Themen Konflikt und Besitz – am Problem der Arbeit in der frühen Neuzeit. Hatte die Sozialgeschichte die agrarische Arbeitswelt zwar auch nach der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung geordnet, so geht es jetzt darum, die gegenseitigen, komplementären Abhängigkeiten der Geschlechter hervorzuheben. Dafür nimmt sie eine Anleihe beim Arbeitspaar-Modell von Heide Wunder, wonach erst die Zusammenarbeit von Mann und Frau das Überleben in der agrarischen Mangelgesellschaft garantieren konnte.

Darüber hinaus wirft der Eigenwert der Frauenarbeit erneut die Frage der Arbeit im vorindustriellen Zeitalter überhaupt auf. Die Grenzziehung zwischen produktiver, außerhäuslicher, "schwerer" Männerarbeit und nichtproduktiver, häuslicher, "leichter" Frauenarbeit verliert den Nimbus einer anthropologischen Konstante. Auch das bisher so einflussreiche Modell vom "ganzen Haus" erscheint in einer neuen Perspektive. Nicht nur dass Frauenarbeit eine Neubewertung erfährt - es geht vor allem darum, bisher unbeachtete Bereiche weiblicher Tätigkeiten zu entdecken, wie im Falle der so genannten "Agrarpionierinnen" im 16. Jahrhundert.

Dass Langer-Ostrawsky die Stärkung der Geschlechterperspektive in der Forschung auch für eine politisch motivierte hält, soll auf den außerwissenschaftlichen bzw. "zeitgeistgebundenen" Zusammenhang aufmerksam machen. Diesen Faden nahm Michael Mitterauer dankbar auf, als er von der Agrargeschichte als einer interkulturell vergleichenden Globalgeschichte sprach. In dem sich rapide beschleunigenden Globalisierungsprozess muss, so Mitterauer, auch die Agrargeschichte mit global ausgerichteten Fragestellungen konfrontiert werden, zumal die agrarischen Basisstrukturen keineswegs ihre Bedeutung verlieren. Aber wer kann schon die Agrarregionen rund um den Globus kompetent vergleichend analysieren? Der Gefahr der Überforderung tritt Mitterauer durch das Postulat entgegen, globale Geschichte beginne schon dort, wo man über den eigenen kulturellen Kreis hinaus anfange zu reflektieren.

Dies führte Mitterauer am Beispiel der "Zivilisationspflanzen" Weizen und Mais aus, die paradigmatisch für Brot- und Breikultur – in den USA und in Mittelamerika – stehen. In ihnen wurzelte die gesellschaftliche und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bei der Produktion, der Bearbeitung und im Konsumverhalten; nicht zuletzt dienten sie als Vehikel der gewerblich-industriellen Entwicklung - oder auch nicht. Wie folgenreich dies für eine Gesellschaft sein kann, zeigte sich in dem Krieg zwischen USA und Mexiko 1848, in dem Amerikaner die Karte der Armeeversorgung deswegen geschickter ausspielen konnten, weil Brotproduktion, -transport und -lagerung mit einem verhältnismäßig geringen Aufwand zu bewerkstelligen waren.

Auf diese Weise weist die vergleichende Globalgeschichte auf das Phänomen parallel existierender Agrarkulturen hin, die in keinem Austausch miteinander stehen. Das wirft etwa die Frage auf, warum sich in Mittelamerika keine Weizenanbaukultur entwickelte oder warum nicht überall, wo es Getreideanbau gibt - etwa in China oder in der Arabischen Welt - die Wassermühle ihren Siegeszug feiern konnte; ähnliches gilt auch für die Durchsetzung des Fuhrwerks.

Mitterauer macht deutlich, dass auch dann, wenn Fragen aus einer globalen Perspektive formuliert werden, ihre Beantwortung weiterhin im begrenzten lokal-regionalen Rahmen erfolgen muss: Der Historiker soll sich bei der Beantwortung seiner Fragestellung auf Lokalstudien stützen. Vor allem bietet das aber die Chance, neue Quellenarten zu erschließen, wie zum Beispiel in der Archäobotanik. Letztendlich kann die Agrargeschichte neue Wege dann bestreiten, wenn sie, so Mitterauer, vor allem den Weg vom Problem zur Quelle sucht - oder, was in ihrem Falle angemessener erscheint, zur Wurzel, zum ager.

Was es mit der Nutzung von Forschungsliteratur auf sich hat, zeigte in gewisser Weise abschließend der Kulturanthropologe Norbert Ortmayr. Er hat sich im wortwörtlichen Sinne in die Fußstapfen von Robert Redfield und Oscar Lewis begeben und den von ihnen seit den dreißiger Jahren immer wieder untersuchten mexikanischen Ort Tepoztlan besucht. Und da ihre Arbeiten mittlerweile selbst den Rang einer Quelle erreicht haben, die Ortmayr mit eigenem Material kombiniert, versteht er sein Unternehmen als restudy.

Aus der Aufeinanderfolge dieser "seriellen" Mikrostudien ergibt sich eine Langschnittperspektive, die den Einbruch der modernen Lebensweise in die mexikanische Provinz in wünschenswerter Anschaulichkeit darstellt. Prägten das indianische und das spanische Kulturerbe in den 1930ern gleichermaßen das Dorfleben, konnte Ortmayr 2004 feststellen: Auf dem Weg in die Moderne ließ Tepoztlan den größten Teil seiner indianischen Kultur hinter sich; sie ist nun im örtlichen Museum zu bewundern und Tepoztlan ist heute auch kein Dorf mehr. Die Vehikel dieses schleichenden Prozesses waren die üblichen Faktoren wie Elektrifizierung, Verkehrserschließung, die Arbeitsmigrationen durch die "bracero-Programme" in die USA sowie die touristische Erschließung des Ortes.

Diesen facettenreichen Überblick setzt Ortmayr zugleich als Folie ein, auf der sich die Geschichte der amerikanischen Anthropologie abbildet. Heute zeichnet sie sich zwar durch eine große Diversifikation an Themenfeldern und Methoden aus, ohne jedoch den agrarischen Zusammenhang zu vernachlässigen. Die Erkenntnisse über die Vielfältigkeit einer ländlichen Ökonomie – über ihre Marktpräsenz, die Rekrutierung von Arbeitskräften oder das ethnosoziale Profil der Bevölkerung, über Migrationen, Integration u.ä. – können, so Ortmayr, als Basismaterial für eine vergleichende Agrargeschichte dienen. Die Kulturanthropologie bietet die heuristischen Mittel für die Tiefeneinsicht der dichten Beschreibung und öffnet zugleich den Weitenblick für die Verteilung gesellschaftlicher Phänomene in ein und demselben Raum.

In vier Vorträgen konnte freilich nur ein Teil aus dem breiten Spektrum an Herausforderungen angesprochen werden, vor denen die Agrargeschichte heute steht. Alle Beitragsredner waren sich einig – und der Jubilar pflichtete ihnen bei: Neue Wege gehen, müsse keineswegs eine radikale Erneuerung der Disziplin heißen; Mitterauer sprach von "altem Wein in neuen Schläuchen". Neue Wege gehen, bedeute vor allem Gelassenheit im Umgang mit manchen Themen; wer sich heute der Raumforschung widmet, habe deren ideologischen und politischen Schatten ernst zu nehmen; damit mache man sich aber nicht automatisch des geographischen Determinismus verdächtig. Ähnliches gilt für die vermeintliche Gefahr des Ökonomismus der Landwirtschaft. Alles in allem wurde mit der Tagung der erste Schritt auf einem neuen Weg in der Agrargeschichte gemacht – der zweite sollte nun nicht schwer fallen.

Anmerkungen:
1 Bruckmüller, Ernst, Nation Österreich. Sozialhistorische. Aspekte ihrer Entwicklung, Wien 1984 (eine zweite Auflage erschien 1996); Sozialgeschichte Österreichs, Wien 1985 (eine zweite Auflage erschien 2001).
2 Bruckmüller, Ernst, Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert. Politik - Gesellschaft - Wirtschaft (Band 1), Wien 2002; Geschichte der österreichischen Land- und Forstwirtschaft im 20. Jahrhundert. Regionen, Betriebe, Menschen (Band 2), Wien 2003.
3 Informationen zum Institut auf der Website http://www.ruralhistory.at. Das "Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes (JGLR)" wird vom Institut und Bruckmüller als Ko-Herausgeber seit 2004 veröffentlicht.

Kontakt

Ernst Langthaler

Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte des ländlichen Raumes
A-3109 St. Pölten
Kulturbezirk 4

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+43-(0)2742-9005-16275
ernst.langthaler@noel.gv.at