„Arisierung“ in Leipzig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte

„Arisierung“ in Leipzig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte

Organisatoren
Projekt »Arisierung« in Leipzig: Dr. sc. phil. Monika Juliane Gibas (Projektleiterin), Dr. phil. Cornelia Briel, Dipl. mus. Petra Knöller; Karl-Lamprecht-Gesellschaft Leipzig e.V.
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.06.2005 -
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Von
Beate Broßmann, Leipzig

Im Leipziger Neuen Rathaus fand am 25. Juni im Rahmen der Jüdischen Woche 2005 und mit finanzieller Unterstützung des Kulturamtes der Stadt Leipzig und der Sparkasse Leipzig eine Tagung zum Thema "Arisierung" in Leipzig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte statt. Der Einladung zum ersten Forschungskolloquium der seit Oktober 2004 bei der Karl-Lamprecht-Gesellschaft Leipzig e.V. angebundenen Projektgruppe "Arisierung" in Leipzig waren neben Forscherinnen und Forschern, die sich mit dem Thema beschäftigen, auch zahlreiche interessierte Bürgerinnen und Bürger sowie Gäste der Jüdischen Woche gefolgt. Einen Tag lang wurden hier erste Forschungsergebnisse zu diesem Desiderat der Judaica-Forschung in Leipzig vorgestellt und diskutiert.

Die Vormittagssitzung eröffnete Monika Juliane Gibas (Leipzig/Jena), die Leiterin der Projektgruppe, indem sie den internationalen Forschungsstand zum Thema "Arisierung" und die Forschungssituation für Leipzig skizzierte. Sie betonte die Notwendigkeit, sich im Rahmen der "Arbeit am Gedächtnis der Stadt Leipzig" endlich auch dieser Facette des "düstersten Kapitels der Stadtgeschichte" gründlicher, als das bislang geschehen ist, zu nähern. Denn neben dem Wissen um die Leiden der Opfer sei das Wissen um das Handeln der Täter und der vielen Nutznießer in den Kommunen nötig. Erst deren Handlungen und Haltungen machten in der Summe die verhängnisvolle Dynamik des nationalsozialistischen Regimes aus, welche über die im gesellschaftlichen Raum der Kommunen praktizierte Diskriminierung, Ausgrenzung, Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bürger schließlich zum organisatorisch und technisch perfektionierten Massenmord führte. Auf die Arbeiten der einladenden Projektgruppe verweisend, betonte die Referentin, man verfolge bei den eigenen Forschungen zum Umgang mit jüdischen Kunstsammlern und ihrem Eigentum in Leipzig den Ansatz, "Arisierung" als soziale Praxis der Auslöschung des jüdischen Lebens und damit als Vernichtung eines bedeutenden Kulturfaktors der Stadt Leipzig zu betrachten, die nicht nur von "oben", also auf der Reichsebene dekretiert, sondern gleichermaßen aktivistisch auch von "unten" vorangetrieben wurde. Ihr und ihren Mitstreiterinnen Cornelia Briel und Petra Knöller (beide Leipzig) gehe es darum, im konkreten Fall für die "Arisierungen" auf dem Kultursektor, vor allem auch die Erinnerungslücke hinsichtlich der Tätergeschichte zu schließen, d.h. die Handlungen und individuellen Motivationen von den in die Enteignungsvorgänge verstrickten Beamten, Museumsleuten, Kunsthistorikern, Galeristen und Antiquaren zu erhellen.

Anschließend informierte Steffen Held (Leipzig) über seine Forschungen zur Leipziger Stadtverwaltung und deren Verstrickung in die "Arisierung". Er verwies auf die Schlüsselrolle einzelner Stadtämter, wie Fürsorgeamt, Gewerbeamt und Amt für Wohnungsförderung, bei der Diskriminierung jüdischer Bürger. Innerhalb der Leipziger Stadtverwaltungen besetzten ab 1933 sukzessive nationalsozialistisch ideologisierte Beamte wichtige Positionen. So wurden schon im März 1933 die NSDAP-Mitglieder Lissow und Köhler als Stadträte direkt mit der kommunalen "Judenpolitik" betraut. Held zeigte dann anhand der "Arisierung" des Hotels "Astoria", wie die Leipziger Stadtverwaltung mit Polizeistellen kooperierte, um den jüdischen Eigentümer zur Abgabe zu niedrigstem Preis zu nötigen. Held ging auf die "Grundstücksarisierung" ein, die in Leipzig 1938 begann und bei der das "Amt zur Förderung des Wohnungsbaus" eine maßgebliche Rolle spielte. Er verwies auf die enorme Bereicherung des Verwaltungsapparates durch Aneignung des Eigentums deportierter jüdischer Bürger ab 1941. So wurde die Stadtverwaltung durch die Gestapo von den bevorstehenden Deportationen vorab informiert und konnte aufgrund dieser Kenntnisse die Häuser und Grundstücke der Deportierten erwerben.

Andrea Lorz (Leipzig) gab in ihrem Beitrag zunächst einen knappen Überblick über ihre Forschungen zu Vorgängen und Verfahrensweisen bei der "Arisierung" von verschiedenen Leipziger Firmen, wie dem Kaufhaus Bamberger & Herz, der Buchhandlung Fock sowie der Akademischen Verlagsgesellschaft. Detailliert schilderte sie anschließend am Beispiel des Krankenhauses "Eitingon" einen Fall der "Arisierung" im medizinischen Bereich. Das von Chaim Eitingon 1928 der jüdischen Gemeinde Leipzigs gestiftete Israelitische Krankenhaus (Eitingon-Stiftung) war eines der modernsten Krankenhäuser Deutschlands und stand sowohl jüdischen als auch nichtjüdischen Patienten offen. Am 14. Dezember 1939 wurde es auf Befehl des Gauleiters von Sachsen, Martin Mutzschmann, mit allem Inventar enteignet und binnen vier Stunden zwangsevakuiert. Patienten und medizinischem Personal wurde ein einziges Haus im Krankenhauskomplex Dösen zugewiesen, wohin die Ärzte des jüdischen Krankenhauses keinerlei Diagnose- und Therapiegeräte, keine Instrumente und nicht einmal Verbandsmaterialien mitnehmen durften. Die Neueinrichtung dieser Notunterkunft hatte die Jüdische Gemeinde zu tragen. Lorz stellte in ihrem Vortrag hier auch die Frage nach der besonderen ethischen Verpflichtung des Berufsstandes und konstatierte ein "erschreckendes Maß an Entsolidarisierung" seitens der "arischen" Ärzteschaft in Leipzig.

In der anschließenden Diskussionsrunde wurde der Frage des Stellenwertes der dezidiert antisemitischen Einstellungen der an den "Arisierungen" beteiligten Täter nachgegangen. Während Gibas für ihr Forschungsgebiet auf die vorrangig materiellen und von Sammlerleidenschaft geprägten Interessen bei Kunsthändlern und Museumsbeamten hinwies und bei dieser Tätergruppe weniger ideologisch motivierte "Überzeugungstäter" als vielmehr Nutznießer der politischen und der Gesetzeslage sieht, die ihre Eigeninteressen skrupellos verfolgten, betonten Held und Lorz für ihre Untersuchungen zu den Funktionsträgern in der Stadtverwaltung und zur Unternehmensgeschichte, daß hier sowohl materielle Interessen als auch antisemitische Einstellungen der Täter zu erkennen sind.

Die Nachmittagssitzung leitete Otto Seifert (Leipzig) mit einem Beitrag zum geistigen Klima der Buchstadt Leipzig im Vor- und Umfeld der "Arisierung" ein. Er betonte eingangs, daß er für den Buchhandel, der dem Propagandaministerium unterstand, nicht von "Arisierung", sondern von "Säuberung" sprechen würde. Sein Anliegen war es, die long durée der "geistigen Aufrüstung" im deutschen Buchhandel aufzuzeigen. Das intellektuelle Klima habe sich auf diesem Feld schon lange vor der sogenannten "Machtergreifung" auf Grund des Vordringens nationalistischer und national-konservativer Positionierungen so sehr verändert, daß die Prozesse der "Säuberung" im Buchhandel nach 1933 keinen grundsätzlichen Bruch darstellten. Sie standen vielmehr in der Kontinuität der Entwicklung bis 1933 und seien als Konsequenz dieser Entwicklung zu interpretieren. Als Beispiel der "geistigen Aufrüstung" nannte er den 1932 vom Reclam-Verlag Leipzig gegründeten Verlag "Das neue Deutschland. Verlag für nationalsozialistische Weltanschauung". Seifert beleuchtete insbesondere die Rolle des Deutschen Börsenvereins, der bereits im Februar/März 1933 eigene Schwarze Listen erstellte, den Bestrebungen des NS-Regimes zur "Säuberung der deutschen Kultur" also aktiv Vorschub leistete und damit faktisch als "Hilfsorgan zur Vernichtung jüdischen Lebens" fungierte.

Erika Bucholtz (Berlin), die eine Dissertation zur Verlagsgeschichte von C. F. Peters verfaßt hat, stellte im Anschluß daran in ihrem Vortrag die Vorgänge um die Enteignung dieses renommierten Leipziger Musikverlages als prominentes Beispiel der "Arisierung" auf dem Gebiet des Verlagswesens vor. Der von den Musikern Franz Anton Hoffmeister und Ambrosius Kühnel im Jahre 1800 gegründete Verlag wurde 1814 vom Buchhändler Carl Friedrich Peters übernommen. 1863 trat Max Abraham als Teilhaber in das Unternehmen und wurde schließlich zu dessen alleinigem Eigentümer. Er vererbte den Verlag an Henri Hinrichsen, der seit 1900 Firmeninhaber von C. F. Peters, Leipzig, war. Im Jahre 1938 erhielten er und sein Sohn Hans-Joachim im Zuge der "Entjudung der deutschen Wirtschaft" Berufsverbot und waren gezwungen, zunächst den Verlag zu verkaufen. In der Folge wurde auf Grund der gegen jüdische Bürger gerichteten nationalsozialistischen Gesetzgebung die Familie Hinrichsen ihres Eigentums weitestgehend beraubt und verfolgt, so daß ihnen nur noch die Flucht aus Deutschland blieb. Henri Hinrichsen selbst wurde schließlich in Auschwitz ermordet. Die Referentin beleuchtete das Zusammenspiel der an der Enteignung Beteiligten, des Treuhänders und Kontaktmannes zum NS-Propagandaministerium, SS-Standartenführer Gerhard Noatzke, des Verlagsbuchhändlers und Financiers Kurt Herrmann und des Mainzer Musikverlegers Johannes Petschull, des seit 1939 geschäftsführenden Gesellschafters des "arisierten" Verlages C.F. Peters.

Im unmittelbaren Anschluß an den Vortrag von Erika Bucholtz wurde die Frage diskutiert, wie anhand dieses konkreten Falles das Verhalten der Ariseure zu bewerten ist. Wollte Petschull, als er den Verlag C. F. Peters übernahm, in seinem Metier von den durch das NS-Regime geschaffenen Bedingungen profitieren, oder agierte er als "heimlicher Treuhänder" der Familie Hinrichsen? Es zeigte sich, daß es sogar auf Grund einer eingehenden Kenntnis der Quellen schwierig sein kann, solche Fragen abschließend zu klären. Zum Vortrag von Otto Seifert zur geistigen Lage im deutschen Buchhandel wurde Einspruch gegen eine zu direkte Ableitung der "Säuberungen" nach 1933 aus dem konservativen Klima im deutschen Buchhandel vor 1933 und gegen den Gebrauch des Faschismus-Begriffes zur Kennzeichnung des Nationalsozialismus erhoben.

Cornelia Briel (Leipzig) informierte in ihrem Beitrag über erste Forschungsergebnisse des Projektes "Arisierung" in Leipzig am Beispiel eines konkreten Falles, der Konfiskation der Sammlung Tietz in Berlin und der Übereignung von Teilen dieser Sammlung an die Leipziger Stadtbibliothek. Die Reichstauschstelle, vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung mit dem Wiederaufbau der durch die Luftangriffe zerstörten deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken betraut, kaufte 1943 die Privatbibliotheken aus dem eingezogenen Vermögen der Warenhausunternehmer Georg und Martin Tietz an. Briel konnte anhand dieses Falles zeigen, daß die Reichstauschstelle Bücher nicht nur auf dem freien Markt, sondern auch direkt von einer Finanzbehörde erwarb, um sie, ihrem Auftrag gemäß, an die geschädigten deutschen Bibliotheken - hier war die Stadtbibliothek Leipzig der Nutznießer - weiterzugeben. Die Bücher wurden 1944 an einem vor Luftangriffen sicheren Standort in Sachsen zwischengelagert und sind seither verschollen. An den Vorgängen um die Privatbibliotheken Tietz zeigte die Referentin exemplarisch, wie Behörden und kulturelle Einrichtungen bei der Beraubung jüdischer Bürger und der Verwertung ihres Eigentums überregional zusammenwirkten.

Eckhardt Braun legte danach in seinem Referat "Recht und Moral: Restitution von Kunstobjekten der Stadt Leipzig am Beispiel der Sammlung Hinrichsen" die Position der Stadt Leipzig zum Umgang mit NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut dar. Er beschrieb zunächst den Lebensweg von Henri Hinrichsen und dessen soziales und kulturelles Engagement für seine Heimatstadt Leipzig. Danach ging er auf die Vorgänge um die Enteignung des Kunstbesitzes der Familie Hinrichsen ein. Er konnte an diesem Fall zeigen, wie Teile ihrer Kunstsammlung in städtischen Besitz genommen wurden. Einen Teil der Kunstsammlung erwarben das Leipziger Museum der bildenden Künste und die Stadtbibliothek Leipzig. Schwerpunkt seiner Darlegungen bildete die Restitutionsgeschichte der Sammlung Hinrichsen, die 1946 begann sowie der Umgang der Stadt Leipzig mit den 2002 erfolgten Rückgabeforderungen der so genannten Hinrichsenschen Schenkung. Der Sohn Henri Hinrichsens, Walter Hinrichsen, stiftete dem Museum der bildenden Künste Leipzig im Mai 1946 aus dem rückerstatteten Besitz seines Vaters drei bedeutende Gemälde, u.a. das Gemälde von Carl Spitzweg " Der Hagestolz". Braun informierte auf Grundlage der städtischen Akten und der erschienenen Literatur über diesen Sachverhalt sowie über das ab 2002 laufende Restitutionsverfahren und das vermögensrechtliche Verfahren bis zum 22. April 2004. Er legte dar, daß die Stadt Leipzig, nicht unumstritten innerhalb der Stadtverwaltung und in anderen Kommunen, den Standpunkt vertritt, Kulturgut, das NS-verfolgungsbedingt aus jüdischem Besitz entzogen wurde, unabhängig von den formalrechtlichen Kriterien, den Erben zurückzugeben. Der Leipziger Oberbürgermeister und der Beigeordnete für Kultur beriefen sich dabei auf die Washingtoner Erklärung und die dort geforderte faire und gerechte Lösung.

In der nachfolgenden Diskussionsrunde wurde die Herangehensweise der Stadt Leipzig zu Restitutionen gewürdigt. Die möglicherweise zu starke Ausrichtung auf einen konkreten Restitutionsfall entkräftete Braun mit dem Hinweis auf die bisherigen Provenienzforschungen in den Museen, andere Restitutionsfälle und die Meldungen des Museums der bildenden Künste an die Lost Art Internet-Datenbank der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg. Cornelia Briel machte in der Diskussion noch einmal deutlich, daß die Provenienzrecherchen bezüglich konkreter Objekte nur sinnvoll und effektiv sind, wenn man sich zugleich mit den Strukturen, das heißt mit dem Zusammenwirken von Gesetzeslage, privaten Profiteuren, Behörden und öffentlichen Einrichtungen beschäftigt und sie als Täter-Netzwerke erforscht. Eine Hintergrundforschung sollte mit den Provenienzrecherchen zu konkreten Objekten Hand in Hand gehen.

Die abschließende Podiumsdiskussion mit Beate Berger (Direktorin des Stadtarchivs Leipzig), Andrea Baresel-Brandt (Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste Magdeburg), Monika Juliane Gibas (Projektgruppe "Arisierung" in Leipzig, Karl-Lamprecht-Gesellschaft) und Marcus Kirchhoff (Simon-Dubnow-Institut Leipzig) bekräftigte die Notwendigkeit des künftigen vernetzten Arbeitens der Leipziger Forscherinnen und Forscher an der Thematik.


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