Traditionen im Wandel – neue Kulturen, neue Formen?

Traditionen im Wandel – neue Kulturen, neue Formen?

Organisatoren
Jacques Picard; Institut für Jüdische Studien (IJS) der Universität Basel
Ort
Basel
Land
Switzerland
Vom - Bis
27.06.2005 - 30.06.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Jonathan Kreutner, Universität Zürich

Vom 27. bis zum 30. Juni 2005 organisierte das Institut für Jüdische Studien der Universität Basel (IJS) einen durch das Rektorat der Universität Basel geförderten Doktorandenworkshop zum Thema „Traditionen im Wandel – neue Kulturen, neue Formen?“. Auf Einladung von Prof. Dr. Jacques Picard, dem Leiter des Instituts für Jüdische Studien, nahmen auch zwei renommierte Gastprofessoren aus dem Ausland teil, um vor rund 20 in- und ausländischen Doktoranden über die verschiedenen Aspekte der jüdischen Kultur zu referieren. Die Hälfte der Doktoranden kam aus Basel, die andere Hälfte aus anderen Universitäten in Europa und den USA. Moderiert wurden die einzelnen Sessionen der Tagung durch Corinne Susanek (Universität Zürich), Julia Richers (Universität Basel) und Kristina Tomovska (Universität Basel). Im Vordergrund des Workshops stand der Austausch unter den Doktoranden, sowie die Diskussion und die Gewinnung neuer Anregungen für das eigene Forschungsprojekt. Den theoretischen Rahmen setzten dabei Richard I. Cohen, Professor für französisch-jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem, David Biale, Professor für Jüdische Studien an der Universität von Kalifornien in Davis, und Jacques Picard, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur der Moderne an der Universität Basel. Im Zentrum ihrer Ausführungen standen Fragen des kulturellen Wandels und die Reflexion über die kulturelle Vielfalt innerhalb des Judentums in seinen Wechselbeziehungen mit den jeweiligen historischen Umwelten.

Richard I. Cohen sprach in seinem einleitenden Vortrag, den der Leo Aebisch Memorial Fund ausgerichtet hatte, über die Wandlung jüdischer Traditionen und Denkweisen. Er ging dabei unter anderem auf die Darstellungen von jüdischen Themen in der Kunst ein und zeigte anhand visueller Beispiele, wie diese sich gewandelt hatten und methodisch wie inhaltlich die Erkenntnisse des „Iconic turn“ für Jüdische Studien insbesondere fruchtbar gemacht werden kann. In seinem Workshop, den Cohen ausschließlich für die Teilnehmer der Tagung abhielt, widmete er sich dann der Untersuchung der Beziehung von europäischen und orientalischen Judentum. Besonders viel Diskussionsstoff bot das Essay „The Zionist Return to the West and the Mizrachi Jewish Perspective“ des israelischen Orientalisten Amon Raz-Krakotzkin, der dafür plädiert, von einer rein europäischen Betrachtung der Geschichte der Juden des Orients wegzukommen. In diesem Kontext wurden auch Texte des palästinensischen Orientalisten Edward Said diskutiert, der schon Ende der 70er den europäischen Diskurs über den Orient kritisierte. Die Teilnehmer unterhielten sich über diese Kontroverse angeregt mit Professor Cohen und entlockten dem Fachmann sogar einige kritische Bemerkungen zum aktuellen Forschungsstand.

David Biale diskutierte mit den Doktoranden in seinem Workshop über das Judentum und seiner Wandlung in der Moderne. Besonders interessierten ihn dabei die umstrittenen Thesen von Yuri Slezkine, wobei Biale hier gerade auch auf Marx’ „Die Judenfrage“ zurückgriff, um Parallelen in der Argumentation auszumachen. Seinen äusserst anregenden Vortrag, der die Tagung am letzten Tag inhaltlich abschloss, widmete Biale dann der Frage, ob es eine einheitliche jüdische Kultur geben und wie die verschiedenen kulturellen Aspekte dieser Kultur aussehen könnten. Er erwähnte in diesem Zusammenhang die israelische Gesellschaft, deren multikultureller Charakter seit Israels Staatsgründung sich stetig gewandelt hatte, aber auch den Einfluss der amerikanischen Juden auf die ersten Theorien der Multikulturalität. Der amerikanische Autor Horace M. Kallen benutzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Juden als Modell für sein Verständnis Amerikas. Kallen entwickelte basierend auf der Untersuchung jüdischer Einwanderer in die USA die Idee des kulturellen Pluralismus. Biale wies stets darauf hin, wie sich die verschiedenen „jüdischen Kulturen“ gewandelt hatten. Amerikas Judentum wird heute in grossem Mass auch durch israelische Juden mitgeprägt und Israels Gesellschaftsbild änderte sich in den letzten 30 Jahren ebenfalls radikal. Die Einwanderung arabischer und nordafrikanischer Juden in den 50er und 60er Jahren hatte die Bevölkerungsverhältnisse im ehemals europäisch geprägten Land entscheidend geändert, während die Masseneinwanderung sowjetischer Juden in den 90er Jahren dem kulturellen Bild des jüdischen Staates wiederum einen neuen Anstrich gab. In seinem Fazit bekräftigte Biale, er vermute, das jüdische Kultur nie autonom, vereint oder einzigartig gewesen sei; ganz im Gegenteil habe immer eine dynamische Wechselwirkung mit der Umwelt bestanden.

In den von Jacques Picard eingeleiteten und moderierten Veranstaltungen wurde der theoretische Rahmen und Orientierungshorizont skizziert, aus dem sich für die Projekte der Doktoranden eine kontextbezogene Einordnung gewinnen und in Beziehung zu Forschungsprojekten anderer Teilnehmer bzw. verwandter Disziplinen herstellen lässt - und zwar besonders unter dem zentralen Gesichtspunkt der Tagung, wonach es keine simple Geschichte, sondern immer viele Perspektiven der Geschichte gebe. Als methodisch nicht unwichtigen Schritt definierte Jacques Picard die Fähigkeit des Forschenden, aufgrund von Fakten und scheinbar vorgegebenen Ereignissen und Deutungen immer wieder die Reflexion und Problematisierung eben dieser Daten zu suchen – gleichsam das Selbstverständliche wieder neu zu wenden, zu befragen und aufzudecken, um zu wissenschaftlich innovativen Ergebnissen zu kommen.

Daniel Wildmann (TU Berlin und IJS Universität Basel) erläuterte in seinem Referat die jüdischen Konzepte von Körper und Bewegung, die er anhand der jüdischen Turnerschaft, die zwischen 1898 und 1914 bestand, nachzeichnete.
Die Kunsthistorikerin Elisabeth Eggimann (IJS, Universität Basel) stellte ein Projekt vor, dass sich mit jüdischen Kunsthändlern in der Schweiz befasst. Sie untersucht dabei die Frage, weshalb die Schweizer Kunstszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts hauptsächlich von Juden geprägt war. Sie befasst sich in diesem Zusammenhang mit der Arbeit der jüdischen Kunsthändler Gustave und Léon Bollag, Toni Aktuaryus, Max. G. Bollag, Walter und Marianne Feilchenfeldt und Fritz Nathan, die alle deutsche Wurzeln hatten und in der Schweiz einen sicheren, wirtschaftlich blühenden Markt erkannten. Eggimanns Interesse gilt auch zwei Ausstellungen, die während des 16. Zionistenkongresses im Jahr 1929 in Zürich stattfanden. Der jüdische Galerist Toni Aktuaryus und der protestantische Kunsthändler Henri Brendlé widmeten ihre Ausstellungen - jeder aus anderen Beweggründen - der jüdischen Kunst.

Nitzan Leibovic (Universität von Kalifornien, Los Angeles) ging der Frage nach, ob es eine jüdische Bewegung gab, die sich mit der Denkweise der fragwürdigen „Lebensphilosophie“ beschäftigte. Ludwig Klages, der große Verfechter dieser Denkrichtung und ein vehementer Antisemit, fand Unterstützung für seine Theorie unter jüdischen links- und rechtsorientierten Intellektuellen, wie z.B. Walter Benjamin, Theodor Lessing, Ernst Cassirer und Emil Utitz. Leibovic untersucht, wie deren Bewunderung der „Lebensphilosophie“ mit ihrer politischen Ausrichtung und ihrer jüdischen Identität in Einklang zu bringen sind. In diesem Zusammenhang formulierte Leibovic den wichtigen Gedanken, man solle Denk- und Verhaltensweisen immer im Kontext ihrer Zeit werten. Man dürfe dabei nicht verkennen, dass heute problematisch erscheinende Aspekte im Umfeld ihrer Zeit üblich gewesen sein könnten.
Sarah Ross (Berlin) studiert die Ideen und Ideologien des jüdischen „Third-wave-Feminismus“, und zwar aus ethno-musikalischer Perspektive. Ihr Augenmerk richtet sie dabei auf die Frage, wie jüdische Kantorinnen ein neues Verständnis der liturgischen Musik entwickelt haben. Ihre Hypothese lautet, dass jüdisch-feministische Musik auch aus einem emanzipatorischen Anspruch der Frauen heraus zu verstehen ist, gleiche Rechte im Judentum für Mann und Frau zu erzielen.

Arndt Engelhardt (Simon Dubnow Institut, Leipzig) sprach über die „Encyclopedia Judaica“ und ihre Rolle für die jüdische Identität. Seine These untermauert, dass der Boom jüdischer Enzyklopädien zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine Krise innerhalb der jüdischen Gesellschaft zurückzuführen ist. In dieser Zeit der Wandlung, so Engelhardt, boten die mehrbändigen Enzyklopädien nämlich den interessierten jüdischen und nichtjüdischen Lesern einen Überblick über jüdische Traditionen. Die vielfältigen Referate über jüdischen Körperkult, Kunst, Philosophie, Musik und Wissen wurden durch Ursulas Zeller (IJS, Universität Basel sowie James Joyce Foundation Zürich) Beitrag über die amerikanisch-jiddische Literatur abgerundet.

Ron Epsteins (ETH Zürich und IJS, Universität Basel) Erklärungen zur Basler Synagoge und ihrer Architektur krönten schließlich die Tour d’Horizon über die vielfältigen Aspekte jüdischer Kultur. Epsteins Referat, das er in der Basler Synagoge vortrug, zeigte bildhaft, wie nahe sich europäisch-jüdische und christliche Kultur eigentlich sind. Besonderes Interesse weckten die von ihm geschilderten Parallelen zwischen der Bauweise jüdischer und christlicher Gotteshäuser. So hatte die Basler Synagoge in einem frühen Stadium gar eine Kanzel. Und ein Opferstock ist sogar bis heute im hinteren Teil der Synagoge zu erkennen. Über diese Details hinaus versteht aber Epstein den Bau, den Stil und die liturgische Funktion als einen Ausdruck öffentlicher Inszenierung eines sich verbürgerlichenden und urbanisierenden Judentums, das hier die Krisen des Wandels in eine neue Selbstvergewisserung überzuleiten versucht und damit zwischen Tradition und Moderne eine Kontinuität und Kontingenzbewältigung zu formen sich anschickte.

Ausblick

In der Abschlussdiskussion, an der sich alle Dozenten und Teilnehmer beteiligten, konnten die Doktoranden Tipps und Tricks zum Verfassen von akademischen Arbeiten aus erster Hand erfahren und passend zur zentralen Fragestellung der Tagung weitere, neue Aspekte zur Thematik erörtern. Diese Tagung bot allen Mitwirkenden die einmalige Möglichkeit, theoretisches Zusatzwissen und neue Anregungen für ihre Projekte zu gewinnen. Besonders bereichernd war jedoch der persönliche Kontakt zwischen den Teilnehmern. In privaten Gesprächen konnten die Doktoranden somit nicht nur Lücken in ihrer eigenen Arbeit schliessen, sondern auch wichtige Bausteine für die Forschung zusammentragen. In der gegenseitigen Vernetzung und durch den informellen Austausch konnten auf diese Weise innovative, neue Fragen entstehen, die künftig der historischen Forschergemeinschaft als Anregung dienen könnten. Die Tagung stärkte in den Teilnehmern auch das Bewusstsein für interdisziplinäres Arbeiten. Geweckt wurde zudem die Erkenntnis über die Wichtigkeit der Begriffe „Wandlung“ und „Vielfalt“ für die Forschung im Bereich „Jüdische Studien“ im Besonderen und der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen.

Weiterführende Literatur:
Biale, David, Cultures of the Jews: A new history, New York, 2002.

Biale, David, Galchinsky, Michael, and Heschel, Susannah, Insider/Outsider: American Jews and Multiculturalism, Berkley, 1998.

Cohen, Richard I., Jewish Icons: Art and Society in Modern Europe, Berkley, 1998.

Raz-Krakotzkin, The Zionist Return to the West and the Mizrachi Jewish Perspective, in: Davidson Kalmar, Ivan, Penslar, Derek J., Orientalism and the Jews, Hannover und Lodon, 2005, S. 179-181.

Said, Edward, Orientalism, Western Conceptions of the Orient, New York, 1978.

Slezkine, The Jewish Century, Princton, 2004.


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