1968 und die Medizin

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité Universitätsmedizin, Berlin; Deutsche Gesellschaft für Krankenhausgeschichte
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.10.2018 - 13.10.2018
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Von
Paola Gozzi / Andreas Jüttemann, Institut für Geschichte der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin

Die Eröffnung der Ausstellung „50 Jahre Klinikum Steglitz“ auf dem Charité Campus Benjamin Franklin war zugleich der Auftakt für ein viertägiges Symposium. Die Begrüßung der Ausstellungsgäste erfolgte durch den Vorstandsvorsitzenden der Charité, Karl Max Einhäupl, die Bezirksbürgermeisterin von Steglitz-Zehlendorf, Cerstin Richter-Kotowski, den Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Krankenhausgeschichte (DGKG), Fritz Dross, und den Ausstellungskurator, Andreas Jüttemann.

Das inhaltliche Programm der Tagung umfasste ein Grußwort von VOLKER HESS (Berlin), dem Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin, zehn Vorträge und eine Führung. Hess merkte an, aufgrund der Feierlichkeiten zum Jubiläum und der im Südfoyer installierten Ausstellung sei zurzeit „das ganze Haus ein Museum“. Den Auftakt bildeten geschichtliche und architektonische Erläuterungen zu Themen rund um das Klinikum Steglitz.

ANDREAS JÜTTEMANN (Berlin) begann mit der Darstellung einer kleinen Zeitreise im Jahre 1948. Im Rahmen des Wiederaufbaus von Berlin wurde 1948 unter anderem auch eine voll funktionierende Gesundheitsversorgung geplant. Die wissenschaftliche Basis bildete die Gründung der Freien Universität (FU) im Jahre 1948. Für den erkrankten THOMAS BEDDIES (Berlin), der ursprünglich die Situation des Gesundheitssystems um 1948 schildern sollte, übernahm Jüttemann Teile der von ihm vorgesehenen Ausführungen. Das größte Problem stellten der Mangel an Gebäuden für die medizinische Ausbildung dar. Zunächst konnte nur eine provisorische Standortlösung angestrebt werden. Erst Ende der 1950er-Jahre wurden weitreichendere Planungen konkret. In diesem Kontext hat sich der Berliner Bürgermeister Willy Brandt besondere Verdienste erworben: Er setzte sich im Rahmen einer Amerikareise bei der Benjamin Franklin Stiftung in Washington für eine ideelle und finanzielle Förderung eines medizinischen Neubaus in Berlin ein und erhielt dafür eine Zusage. Bereits 1959 kam es zur Grundsteinlegung für das Klinikum Steglitz, doch wegen des großen Projektumfangs konnte das Haus („Europas neuestes Universitätsklinikum“) erst 1968 eröffnet werden. Vorbereitung und Durchführung des Vorhabens lagen in den Händen eines Kuratoriums. Neben den Vertretern der Benjamin-Franklin-Stiftung bestand dieses aus Architekten, Ärzten, Mitgliedern der FU Berlin und Politikern (Senat und Bundesregierung). Die Zeit war aber auch geprägt von Studentenprotesten, die sich in der Medizin vor allem gegen den autoritären Charakter der Personalstruktur an Krankenhäusern und den verschulten Charakter der Ausbildung richteten.

FLORIAN BRUNS (Halle an der Saale) untersuchte die frühe Entwicklung des Klinikums, das zu dieser Zeit von dem Medizinhistoriker Heinz Goerke geleitet wurde. Er war seit 1962 auch Leiter des neugegründeten Instituts für Geschichte der Medizin der FU und wurde 1967 zum Ärztlichen Direktor des Klinikums Steglitz gewählt. Die großen Probleme in den 1960er-Jahren waren im Bereich der Medizin Mängel in der Klinikinfrastruktur; die medizinischen Einrichtungen lagen über die ganze Stadt verstreut. Dies führte zu einer Forderung, die auch einen besonderen Namen erhielt, man sprach von „klinischer Integration“. Goerkes Bemühungen, dieses Konzept umzusetzen, kamen nicht zuletzt in der Verwirklichung des Projekts Klinikum Steglitz zum Ausdruck. Im Jahre 1969 folgte Goerke dem Ruf auf den Lehrstuhl für Geschichte der Medizin an der LMU München, wo er bis 1982 als Ärztlicher Direktor des Klinikums Großhadern eingesetzt war.

CHRISTOPH DECKER (Berlin) hielt einen kleinen Einleitungsvortrag, bevor er die Tagungsteilnehmer/innen durch das Klinikum (unter anderem die Innenhöfe, Schaltwarte und den Wasserbetrieb) führte. Er erläuterte das sogenannte Departmentsystem, das für das Klinikum charakteristisch ist. Hier befinden sich alle Bereiche „unter einem Dach“. Nach dem so bezeichneten Modell erklärte Decker die Anordnung der einzelnen Gebäudeteile und hob die besondere Bedeutung des sogenannten „Screens“ hervor. Dabei handelt es sich um eine vorgelagertes, lückenhaftes Fassadenelement, das dem Sonnenschutz dient und optisch an eine Wirbelsäule erinnert.

GUNNAR KLACK (Peenemünde) stellte den Charité Campus Benjamin Franklin als Projekt der Nachkriegsmoderne vor und ging näher auf den brutalistischen Architekturstil ein. Die Bezeichnung dieser Kunstströmung geht auf den französischen Begriff „béton brut“ zurück, da die verwendeten Materialien im Rohzustand belassen werden. Die Unverdecktheit gelte als ein Zeichen für Offenheit und Ehrlichkeit. Der Vortragende sah die Architektur des Benjamin-Franklin-Klinikums auch in Zusammenhang mit der Strömung des New Formalism. Klack beschrieb das Institut für Hygiene und Mikrobiologie mit seinem Bretterschalungsmuster und den sogennanten „Mäusebunker“ (die Zentralen Tierlaboratorien) als besonders herausragende brutalistische Bauwerke in Berlin.

Über ein besonderes Berufungsverfahren, das im Jahre 1968 durchgeführt wurde, berichtete EVA BRINKSCHULTE (Magdeburg). Es ging dabei um die Orthopädie, die damals noch im Oskar-Helene-Heim untergebracht war und um die Nachfolge des ersten Lehrstuhlinhabers Alfred Nicolaus Witt, der 1968 einen Ruf an die Universität München angenommen hatte. Erst nach einer Vakanz von sieben Monaten wurde der Berliner Lehrstuhl der orthopädischen Klinik mit Gunter Friedebold besetzt. Brinkschulte deutete an, dass die Verzögerung auch auf die Mitwirkung des Kuratoriums bei der Stellenbesetzung zurückzuführen sein könnte. Das Vorgehen stehe exemplarisch für die in der Zeit der Studentenbewegung häufig kompliziert verlaufenden Berufungsverfahren.

RALF FORSBACH (Münster), der den zweiten Tagungstag eröffnete, sprach über den Paradigmenwechsel in der medizinischen Hochschullehre, der das Label „1968“ trage. Neu war die studentische Forderung bei Berufungen auch auf die politische Vergangenheit der Bewerber zu achten, nachdem sich herausgestellt hatte, dass viele Hochschullehrer an Maßnahmen der „Euthanasie“, Zwangssterilisation und Humanexperimenten mit KZ-Häftlingen beteiligt gewesen waren. Ein Wiederaufleben faschistischer Praktiken wurde im Vietnamkrieg gesehen. In diesem Zusammenhang ging Forsbach auf den Psychiater Erich Wulff ein. Bedingt durch die Studentenbewegung befanden sich 1968 auch die Arzt-Patienten-Beziehungen in einem Wandel.

LIVIA PRÜLL (Mainz) sprach über das Entstehen der Studentenbewegung und leitete daraus auch Folgewirkungen für das Krankenhauswesen ab. Die Vortragende ging in ihrer Interpretation von den Berichterstattungen in den Nachrichtenmagazinen Der Spiegel und Stern aus. Viele Ereignisse deuteten bereits seit 1947 auf eine Entwicklung hin, die in der „68er Bewegung“ mündeten. Entscheidend wichtig ist ein allgemeines Demokratisierungsbestreben an den Hochschulen, welche vor allem die westdeutsche Medizin kennzeichnen, aber eben auch in der Berichterstattung über das Krankenhaus unter Einbindung der Politik zunehmend anzutreffen seien. Zunehmend würden die hierarchischen Strukturen in den Krankenhäusern und das Rollenverständnis der Ärzte als dringend reformbedürftig erachtet.

DAVID FREIS (Münster) referierte über medizinische Zukunftsvorstellungen in der Bundesrepublik, die in den 1960er-Jahren einen ersten Höhepunkt erreicht hatten und vor allem die Visionen eines weiteren technischen Fortschritts betrafen. Die aufkommende Technikeuphorie der 1960er-Jahre erweiterte die Rolle des Arztes als Diagnostiker. Damit war auch die Frage nach einer Verbesserung der Ausstattung und einer Erhöhung der Kosten verbunden. Vorbild für den Bau moderner Großkrankenhäuser jener Zeit war dann das Klinikum Steglitz. Als entscheidende Zielsetzungen wurden Möglichkeiten eines technischen Fortschritts und der Optimierung der Arzt-Patienten-Beziehung diskutiert.

FRANK ECKARDT (Weimar) bezog die realisierten Veränderungsvorgänge um das Klinikum Steglitz auf die Unterscheidung zwischen „Fordismus“ und „Postfordismus“ als Gesellschaftsmodelle um 1968. Während Ford den Arbeiter noch einseitig als Teil eines Mensch-Maschine-Systems sah, setzten sich im Postfordismus Modelle einer flexibleren Produktionsgestaltung durch. Übersetzt stehe dies für den Übergang des Krankenhauses von einem funktionierenden Gesamtapparat zu einem Ort des gesundheitsförderlichen Wohlbefindens der Patient/innen. Erörtert wurden auch Veränderungen im Denkmalschutz: Wichtiger als die Veranschaulichung traditioneller Praxisformen werde jetzt die Pflege der „Erinnerungsorte“. Die heutige Diskussion um die Erhaltenswürdigkeit großer Bauwerke stehe stellvertretend auch für den Wandel der Gesellschaft.

Abschließend sprach UDO SCHAGEN (Berlin) über die Situation von 1968 als Rahmenbedingungen für die Medizin. Generell hervorgehoben wurden in gesellschaftspolitischer Hinsicht die Bestrebungen der Außerparlamentarischen Opposition gegen die Notstandsgesetze, die Proteste gegen den Vietnamkrieg, die mangelnde Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Diskussionen um die Hochschulreform. Es sei dabei immer um eine Überwindung der Gesichtspunkte der aufzuhebenden Vernachlässigung gesellschaftlicher Relevanz gegangen. Das Universitätsgesetz von 1969 sei in erster Linie eine Reform des Fakultätswesens gewesen; Fachbereiche ersetzten Fakultäten. Gegen die Reformforderungen der Studierenden habe sich von Seiten der Ordinarien starker Widerstand geregt. Dadurch seien zahlreiche Projekte blockiert worden.

Konferenzübersicht:

Volker Hess (Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin): Begrüßung

Andreas Jüttemann (Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin): Planung, Bau und Eröffnung des Klinikum Steglitz 1948-1969 – „Es wird dem Krankenhausbau in Deutschland neue Wege weisen“

Florian Bruns (Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Ein Medizinhistoriker als Krankenhausdirektor: Heinz Goerke (1917-2014) und das Klinikum Steglitz

Christoph Decker (Regierungsbaudirektor i.R., Berlin): Führung durch das Klinikum Steglitz (zusammen mit Andreas Jüttemann)

Gunnar Klack (Historisch-Technisches Museum Peenemünde): Zur Architektur des Klinikum Steglitz

Eva Brinkschulte (Institut für Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg): Berufungsverfahren Nachfolge Alfred Witt – „Orthopädie im Westen“

Ralf Forsbach (Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Nationalsozialismus, Faschismus, „Linksfaschismus“. Rechtes Denken als Movens der Achtundsechziger in der Medizin

Livia Prüll (Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, JGU Universitätsmedizin Mainz): Das Krankenhaus und „1968“ – Die mediale Präsentation am Beispiel von „Spiegel“ und „Stern“

David Freis (Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Medizin 2000 – Medizinische Zukunftsvorstellung in der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Kontext (ca. 1960-1980)

Frank Eckart (Professur für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung, Bauhaus-Universität Weimar): „Nicht schön, aber nützlich – und ein Denkmal?“ – Die Architektur des Klinikum Steglitz und die Schwierigkeit der Würdigung moderner Großbauten

Udo Schagen (Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin): Nach 1968: Ziel und Wirkung der Hochschulreform in der Medizinischen Fakultät der FU Berlin: Angriff auf die Ordinarienuniversität?