Menschenrechte, politische Grundrechte und bürgerliche Gesellschaft in den böhmischen Ländern im 19. Jahrhundert

Menschenrechte, politische Grundrechte und bürgerliche Gesellschaft in den böhmischen Ländern im 19. Jahrhundert

Organisatoren
Historische Kommission für die böhmischen Länder; Bayerischer Forschungsverbund Ost- und Südosteuropa (FOROST)
Ort
Bad Wiessee
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.04.2005 - 24.04.2005
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Von
Nadine Keßler, Collegium Carolinum

Vom 22. bis 24. April 2005 fand in Bad Wiessee eine Konferenz zum Thema „Menschenrechte, politische Grundrechte und bürgerliche Gesellschaft in den böhmischen Ländern im 19. Jahrhundert“ statt. Die Tagung wurde gemeinsam von der Historischen Kommission für die böhmischen Länder und der Projektgruppe „Tschechische zivilgesellschaftliche Konzepte: komparative Untersuchungen zu Grundbegriffen des politischen Denkens“ des Bayerischen Forschungsverbundes Ost- und Südosteuropa (FOROST) organisiert. Das am Collegium Carolinum in München angesiedelte FOROST-Teilprojekt, dessen 2. Phase im Juni 2005 zum Abschluss gelangt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, den sich wandelnden Bedeutungsgehalt von Schlüsselbegriffen zivilgesellschaftlicher Konzepte für die böhmischen Länder herauszuarbeiten und ihn mit demjenigen in Österreich und in Deutschland zu vergleichen.

Nachdem Robert Luft (München) in seinen einleitenden Worten das lange 19. Jahrhundert als wichtigen Zeitrahmen für die Entwicklung der Traditionslinien des Begriffs der „bürgerlichen Gesellschaft“ auf der deutschen und der tschechischen Seite hervorgehoben hatte, steckte er mit seinem Vortrag über „Grundrechte, Bürgerrechte und Bürgergesellschaft im östlichen Mitteleuropa – eine Einführung in Begriffe und Entwicklungen“ den begriffsgeschichtlichen Rahmen der Tagung ab. Luft wies darauf hin, dass Grundrechte wie Freiheit, Eigentum und Sicherheit bislang kaum Gegenstand der historischen Forschung gewesen seien. Zu den wichtigsten Fragen aus diesem Bereich gehören diejenigen nach der Umsetzung dieser Rechte in die Praxis und die Frage danach, inwieweit überhaupt über Grundrechte diskutiert wurde. Der Begriff für „Bürger“ lässt im Tschechischen ebenso wie im Englischen und Französischen zwei Übersetzungen zu: „měšťan“ und „občan“. Während „měšťan“ als Bezeichnung für Kleinbürger gilt, leitet sich der Begriff „občan“ von obec (Gemeinde) ab und bezieht sich damit sowohl auf die dörfliche als auch auf die städtische Gemeinschaft. In seinem Vortrag kam Luft zu dem Schluss, dass in Bezug auf die Habsburgermonarchie bereits um 1900 von einem Rechtsstaat die Rede sein kann, allerdings nicht von einem demokratischen.

Bedřich Loewenstein (Berlin) lieferte mit seinem Beitrag über „Sozialdarwinismus und Menschenrechte“ den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Tagung. Er ging dabei insbesondere auf den Zusammenhang von Sozialdarwinismus und der Philosophie von Kant bzw. dem Marxismus ein. Eine Verbindung zwischen der Lehre Darwins und dem Marxismus sieht Loewenstein im Selektionsprinzip, das als allgemeiner Regulator rassenhygienischer Maßnahmen galt und auch von marxistischer Seite als zivilisationsfördernd wahrgenommen wurde. Freilich war der „Flirt“ zwischen Sozialdarwinismus und Marxismus nicht konfliktfrei, wie Loewenstein betonte. Das Wirken des Darwinismus in Böhmen sei anhand des Vitalismus noch detailliert zu untersuchen, was sich Loewenstein für den schriftlichen Beitrag vorbehielt.

Der Vortrag von Karel Malý (Prag) beschäftigte sich mit den „Menschenrechten, den politischen Grundrechten und der bürgerlichen Gesellschaft in Österreich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts“. Da er krankheitsbedingt an der Tagung nicht teilnehmen konnte, wurde sein Beitrag verlesen. Malý nahm die Bürgerrechte, die nur in den Reichsratsländern in Kraft getreten waren, in den Blick und verwies auf die Abhängigkeit der Bürgerrechte von Ministerialverordnungen. Malý beleuchtete außerdem die Polizei- und Gerichtspraxis in Österreich und kam zu dem Schluss, dass die festgeschriebenen Rechte und vor allem ihre Durchsetzung, wie beispielsweise im Bereich des Presserechts und der Zensur, pessimistisch zu beurteilen sind, weil die Gesetzgebung die Durchsetzung der Bürgerrechte nicht gewährleistete, was unter anderem daran zu sehen war, dass Schöffengerichte nicht zugelassen waren.

In seinem Beitrag über die „Zivilgesellschaftlichen Elemente und die Programmatik in der politischen Publizistik Karel Havlíček Borovskýs“ thematisierte Stefan Zwicker (München/Mainz) anhand der Texte „Co jest obec?“ (Was ist die Gemeinde?), „Proč jsem občan?“ (Warum bin ich ein Bürger?) und „Nečo o zakonním odporu“ (Etwas über den gesetzlichen Widerstand), die in den Jahren zwischen 1846 und 1851 entstanden, Havlíčeks Auffassung von dem Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft. Havlíček zufolge kann die Gemeinde für Sicherheit und Fortschritt bürgen. Das Bewusstsein des Einzelnen für die Gemeinschaft ist hierbei die Grundvoraussetzung. Als „Gemeindemobiliar“ bezeichnet Havlíček Individuen, denen der Sinn für die Gemeinschaft abgeht, ein Umstand, der seiner Meinung nach in erster Linie fehlender Bildung zuzuschreiben ist. Die Notwendigkeit der Partizipation des Bürgers, insbesondere die Wahrnehmung seiner Rechte, hält Havlíček gerade im Hinblick auf den Gemeinsinn für äußerst wichtig. Zwicker wies am Ende seines Referats auf die Problematik der nationalen Mythisierung Karel Havlíček Borovskýs hin.

Den abschließenden Vortrag hielt Peter Haslinger (Wien/München) über das „Verhältnis von Individuum, Staat und Nation: Die tschechische Debatte um die Kreisverfassung 1880-1914“. Seit den 1880er Jahren mehrten sich Klagen über die Lage in Böhmen, in denen unter anderem die Passivität des Staates kritisiert wurde. Zudem wurden Forderungen nach einer bürgernahen Verwaltung laut. Die Kreise als neue Ebene zwischen den Bezirken und den Ländern sollten für ein neues Vertrauensverhältnis zwischen dem Staat und den Bürgern sorgen, Kompetenzen der Länder einschränken und Streitigkeiten zwischen den einzelnen Verwaltungsebenen zurückdrängen. Von deutschböhmischer Seite wurde zunächst eine Teilung in zwei Gebiete gefordert, die mit den regionalen Sprachenverhältnissen in Einklang stehen sollte. Ein späterer Vorschlag sah die Errichtung von 243 Kreisen vor, von denen – abgesehen von 10 zweisprachigen – 138 einsprachige tschechische und 95 einsprachige deutsche nationale Kreise sein sollten. Diese Ideen setzten sich nicht durch, da sie sowohl von der deutschböhmischen als auch von der tschechischen Seite verworfen wurden. Die Kreisverfassung hätte aber gerade aus tschechisch-nationaler Sicht aufgrund der Beteiligung der Bürger an der staatlichen Verwaltung eine Verbesserung ihrer Situation zur Folge gehabt. Eine solche bürgernahe Administration hätte jedoch gleichzeitig die Nationalisierung der Verwaltung bedeutet.
In der Abschlussdiskussion, die sich insbesondere mit der Problematik des Gemeinwohls, das einer der zentralen Begriffe der Tagung war, und der Frage nach dem Zusammenhang von Menschenrechten und Gemeinwohl beschäftigte, wurde nochmals die Brisanz des Themas deutlich. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Tagung nicht nur Historiker, sondern auch Wissenschaftler anderer Fachdisziplinen versammelte, kam es zu regen und kontroversen Diskussionen. Die Veröffentlichung der Tagungsbeiträge ist in Vorbereitung.


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