HT 2018: Gespalten oder zugehörig? Umgang mit Geflüchteten und Migrant/innen auf kommunaler Ebene vom 12. bis zum 21. Jahrhundert

HT 2018: Gespalten oder zugehörig? Umgang mit Geflüchteten und Migrant/innen auf kommunaler Ebene vom 12. bis zum 21. Jahrhundert

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Marcel Berlinghoff, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) / Historisches Seminar, Universität Osnabrück

Das Schlagwort, Integration finde vor Ort statt, ist häufig zu hören wenn sich Lokalpolitiker/innen, Ehrenamtliche oder andere mit den Bedingungen der lokalen Aufnahme von Geflüchteten Beschäftigte Gehör verschaffen wollten. Dass es darüber hinaus auch ein vielversprechender Ausgangspunkt für eine historische Auseinandersetzung mit Migration und Flucht sein kann, zeigte die epochenübergreifende Sektion zum kommunalen Umgang mit Migration und Flucht. Moderiert von SIMONE LÄSSIG (Washington) boten vier Vorträge Einblick in unterschiedliche Aushandlungen von als Abweichung wahrgenommener Mobilität vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Dabei sollte die epochenübergreifende Vergleichbarkeit der Erfahrungen mit Flucht und Migration ebenso in den Blick genommen werden wie Faktoren gelingender Inklusion oder forcierter Exklusion. Als gemeinsame Leitfragen sollten erstens die Wechselwirkungen zwischen der lokalen Ebene und anderen sozialen bzw. politischen Räumen, zweitens die Akteure und ihre Praktiken sowie drittens die Reflexion einer Epochenspezifik der jeweiligen Quellen und Methoden kenntlich gemacht werden.

Der Chronologie folgend machte Sektionsleiter ANDREAS RÜTHER (Bielefeld) mit einer Analyse spätmittelalterlicher Konflikte um Landflucht den Anfang. Am Beispiel von ostmitteleuropäischen Stadtgemeinden, die vielfach Landflüchtige anzogen, erörterte er Bedingungen, Deutungsrahmen und Argumente der obrigkeitlichen Kontrahenten. Im Mittelalter sei eher ökonomischer und sozialer denn politischer Verfolgungsdruck verbreitet gewesen. Tatsächliche Glaubensflüchtlinge würden erst in der Frühen Neuzeit relevant. Zwar könnten die Konflikte vordergründig durchaus auch religiösen Charakter aufweisen, wenn etwa Standesflüchtlinge, die es wagten sich über ihren Stand zu erheben, indem sie den ihnen zugestandenen gesellschaftlichen Platz verließen, der Kirchenbann traf. Ein Bann der bisweilen auch gegen ihre „Fluchthelfer“ also Werber oder aufnehmende Herrschaften ausgesprochen werden konnte. Tatsächlich stünden hier aber wirtschaftliche Motive im Hintergrund, etwa wenn sich durch den Fortzug von Leibeigenen Abgaben verringerten. Es könne für das Mittelalter also nicht von Flüchtlingen im modernen Sinne gesprochen werden, von Massenfluchten oder gar Völkerwanderungen ganz zu schweigen. Auf der lokalen Ebene jedoch würden durchaus vergleichbare Muster oder Beispiele im Umgang mit Migration bzw. „dem Fremden“ sichtbar. So werde am Verlauf und der Folgenlosigkeit der kirchen- und privatrechtlichen Verfahren, die gegenüber den Landflüchtigen bzw. Stadtflüchtlingen angestrengt wurden, die Normalität der Stadtflucht sichtbar. Die neuen Herren oder Gemeinschaften waren, so Rüther, schlicht auf die Neubürger angewiesen. Hierbei sind sie durchaus proaktiv vorgegangen, wie Beispiele von Anwerbung durch Landvergabe, Abgabenbefreiung oder andere Vergünstigungen etwa in Ungarn zeigen. Migration habe hier für die Wandernden einen Aufstieg ermöglicht, der weitere gesellschaftliche Veränderungen anstieß.

Nicht anhand der Neuansiedlung sondern der Verstetigung oder Sicherung von Aufenthalt und Niederlassung und ihrem Niederschlag in Verwaltungshandeln untersuchte LEVKE HARDERS (Bielefeld) die Aushandlung von Fremdheit und Zugehörigkeit in Schleswig und Holstein sowie im französischen Elsass im 19. Jahrhundert. Bei der vorherrschenden Fokussierung der Forschung auf Mobilität und Migrationssteuerung gerate Sesshaftigkeit häufig aus dem Blick. Doch gerade hier zeigten sich Aspekte und Varianzen von Migrationsregimen, als seit dem 19. Jahrhundert verstärkt Versuche staatlicher Migrationssteuerung auftraten. Besonders hervorzuheben seien dabei die unterschiedlichen Verwaltungsinteressen und -logiken auf lokaler und nationaler Ebene, welche häufig zum lokalen Unterlaufen landesweiter Vorgaben führte. Diese Widersprüche boten wiederum Handlungsmöglichkeiten für die Antragsteller/innen. Während es vor allem zu Beginn des Jahrhunderts in Schleswig und Holstein noch keine geregelten Verfahren im Umgang mit Flucht gab und insofern auch nicht von einem Migrationsregime gesprochen werden könne, fanden sich zu dieser Zeit in Frankreich – und damit auch dem Elsass – schon festgelegte Regeln und Verfahren für den Umgang mit refugiées. Diese stellten eine Unterkategorie des étrangers dar, wobei deutlich wurde, dass die Verwaltung erst durch ihre Kategorisierung „den Flüchtling“ erschaffen habe, was ähnlich wie heute nicht unbedingt deckungsgleich mit der Selbstwahrnehmung der Betroffenen war. Der bisher unterforschte Übergang vom Geflüchteten zum Sesshaften, darauf habe auch jüngst Philipp Ther hingewiesen, biete wichtige Einblicke in das Konzept des Flüchtlings bzw. der Selbstwahrnehmung der so Kategorisierten. Hier, im Bemühen um Sesshaftigkeit bzw. Einbürgerung werden die Geflüchteten nach längerer Zeit des Aufenthalts wieder in den Quellen sichtbar. Eine Perspektive, die durchaus auch einen Beitrag zu der Diskussion bieten kann, wie lange man eigentlich „Flüchtling“ ist. Die Beschäftigung mit diesen Quellen zeigten, so Harders, diverse Aspekte des lokalen Migrationsregimes im Elsass, die in Ergänzung der nationalen Regelung wirkmächtig gewesen waren: So hätten finanzielle Ressourcen (und später auch politische Präferenzen) eine große Rolle bei der administrativen Bewertung der Einbürgerungsgesuche gespielt. Zudem seien der jeweilige Beruf der Antragsteller sowie eine Heirat wichtiger gewesen als ethnische Zugehörigkeit. Weiterhin habe sich gezeigt, dass der behördliche Umgang mit persönlich bekannten Antragsteller/innen häufig in Konflikt mit nationalen Regelungen stand. Insgesamt würden hierbei Handlungsspielräume von Funktionsträgern in den Aushandlungsprozessen zwischen lokaler und nationaler Ebene deutlich. In der Frage nach Flucht als einem Spezialfall für Migration werde bei einer längeren Beobachtung jedoch deutlich, dass die Grenzen zwischen Flucht und Arbeitsmigration im 19. Jahrhundert zunehmend verschwammen und so Ambivalenzen der administrativen Betrachtung wie auch des individuellen Handelns von Migrant/innen sichtbar werden.

Administrative und zunehmend politisierte Konstruktionsprozesse beleuchtete auch ANNE FRIEDRICHS (Bielefeld/Mainz) am Beispiel der polnisch-deutschen Migrationen ins und aus dem Ruhrgebiet im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Zuwanderer polnischer Sprache aus Preußen im Ruhrgebiet stellten, so Friedrichs, einen besonders spannenden Fall dar, der nicht nur wie bisher ausführlich unter nationalen Kategorien, sondern auch außerhalb nationaler Perspektiven unter dem globalhistorischen Zugriff der Kontaktzone beobachtet werden sollte. Die Entwicklung der Konstruktion von Polen im Ruhrgebiet als Problemgruppe oder gar als Gefahr lasse sich gut anhand der preußischen Volkszählung verdeutlichen. Hatte diese 1880 die Einwohner noch nach Staatsangehörigkeit registriert und die polnisch-sprachigen Arbeiter somit als Preußen verzeichnet, erfolgte 1890 eine Erhebung nach Sprache bzw. Herkunftsgruppe, womit die Polen im Ruhrgebiet sichtbar wurden. In der Verwaltungspraxis finde sich dabei auch die (teilweise individuell begründete) Unterscheidung zwischen katholischen Polen und protestantischen Masuren. Hier zeigten sich laut Friedrichs lokal auch globale bzw. koloniale Ambitionen, die etwa dem Einfluss des Alldeutschen Verbands entsprangen. Die politisch motivierte Unterscheidung zwischen deutschen und polnischen preußischen Staatsangehörigen habe auch im Alltag ihren Niederschlag gefunden, etwa wenn mündliche Deutschkenntnisse als Arbeitsvorschrift der Bergbaukommission festgelegt wurden. In der Praxis hat dies aber nicht die Beschäftigung von polnischsprachigen Arbeitern ohne Deutschkenntnisse verhindert. Vielmehr haben sich trotz dieser Abwehrversuche Mobilitätsmuster verfestigt. Polnischsprachige Nachbarschaften entstanden, die teilweise Herkunftsstrukturen und -netzwerke widerspiegelten. Eine genauere Untersuchung könne hier lohnen. Deutlich werde die Differenzierung von mobilen Menschen als Argument und Effekt. Daher müsse eine mobilitätsorientierte Gesellschaftsgeschichte zwingend auch kulturhistorische Praktiken mitberücksichtigen. Eine relationale Geschichtsschreibung könne hier nationale Homogenitätsvorstellungen in Frage stellen. Friedrichs sah ihren Beitrag daher auch als Plädoyer für eine Kulturgeschichte des Gesellschaftlichen.

Dem öffentlichen und administrativen Framing von Migrant/innen widmete sich schließlich LEO LUCASSEN (Leiden/Amsterdam) in einem historisch weiten Blick auf die niederländische Migrationsgeschichte und den Umgang der niederländischen Gesellschaft mit Fremdheit seit dem 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dabei verwies er einerseits auf die Geschichtsvergessenheit gegenwärtiger Migrations- und Integrationsdebatten. So hat es im als „Goldenes Zeitalter“ erinnerten 17. Jahrhundert Einwanderungsraten von bis zu acht Prozent gegeben, die in dieser Höhe erst in den 1980er-Jahren wieder erreicht wurden. Dabei kamen die Einwanderer bis 1900 überwiegend aus Deutschland und anderen europäischen Nachbarländern. Beispielhaft verglich er die Stadtbevölkerung in Leiden und Amsterdam. 1600 wurden mehr als die Hälfte (55 Prozent) der Einwohner Leidens im Ausland geboren, ebenso immerhin 40 Prozent der Amsterdamer Bevölkerung. Heute trifft dies nur noch auf neun Prozent der Leidener/innen und 30 Prozent der Amsterdamer/innen zu. Auch koloniale Eheschließungen und ethnische Gemeinschaften ließen sich für die Frühe Neuzeit nachweisen. So gibt es Berichte über die Hochzeit eines afrikanisch-stämmigen Mannes aus Südamerika mit einer Niederländerin aus dem 16. Jahrhundert. Im 17. Jahrhundert gab es bereits eine 200 Mitglieder starke afrikanische Gemeinde in Amsterdam, die in enger Verbindung mit jüdisch-portugiesischen Kaufleuten gestanden habe. Die großen Auswirkungen von Migration und Mobilität auf die Niederlande seien aber in der Erinnerung an das glorifizierte „Goldene Zeitalter“ lange marginalisiert worden. Gleichwohl, so Lucassen, könne eine Normalisierung von Migration im Kontext der kolonialen Geschichte der Niederlande festgestellt werden, die sich u. a. darin ausdrückt, dass Bürgerinnen indonesischer oder surinamesischer Herkunft (bei allen Diskriminierungserfahrungen) heute unhinterfragt Teil der niederländischen Gesellschaft sind, während sich Marokkaner/innen, Türk/innen und andere als muslimisch Markierte einem permanenten diskursiven Integrationsdruck ausgesetzt sehen. Der temporäre Aufenthalt von Expats als Militär, Teil der Verwaltung oder Händler und daraus resultierende gemischte koloniale Familien seien als Teil eines Migrationskreislaufs zwischen Niederlanden und den Kolonien stets als normal akzeptiert gewesen. Dies erkläre auch die relativ schnelle und große gesellschaftliche und politische Akzeptanz und Integration insbesondere der 300.000 postkolonialen Einwanderer aus Indonesien innerhalb weniger Jahrzehnte. Hierzu gebe es in der niederländischen Migrationsdebatte zwei Erklärungen. Während Paul Scheffer 1 von einem „Kolonialbonus“ der Eingewanderten spricht, der sich durch die niederländische Staatsbürgerschaft, die Sozialisation in niederländischer Sprache und Kultur sowie religiöser Konvergenz ausdrücke, die wichtiger seien als die Hautfarbe, wies Lucassen auf die Bedeutung der bewusst inklusiven Regierungspolitik zur Unterstützung schneller Integrationserfolge hin. Dies zeige sich etwa in der offiziellen Benennung der Einwanderer als „Remigranten“. Neben dieser frontstage policy müsse jedoch auch die backstage policy beachtet werden, also die Ansage der Regierung an die lokalen Behörden, die Rückwanderung so gering wie möglich zu halten.

In der zeitlich bedingt kurzen Diskussion der Beiträge wurde unter anderem in Bezug auf Unterscheidung von Flucht und „betterment migration“ die Frage aufgeworfen, ob es denn mit Blick auf die präsentierten Beispiele von Vorteil sei, „Flüchtling“ zu sein. Levke Harders wollte darauf keine eindeutige Antwort geben. Einerseits verspreche der Flüchtlingsstatus Schutz und finanzielle Unterstützung, andererseits habe er bei der Einbürgerung explizit keine Rolle mehr gespielt; auf ihn werde kein Bezug mehr genommen. Anne Friedrichs sah in der historischen Betrachtung einen Anlass, neu über die Begrifflichkeiten nachzudenken und sie historisch-analytisch zu kontextualisieren. Sie verwies auf das Beispiel portugiesischer postkolonialer Migrant/innen die sich selbst als Flüchtlinge sahen, seitens der Behörden jedoch nicht als solche anerkannt wurden. Lucassen wiederum betonte die positiven Auswirkungen ethnischer, religiöser oder politischer Ähnlichkeiten auf die Positionierung von Flüchtlingen und erinnerte an das Mobilisierungspotential von Migrationskategorien. Ein weiterer Kommentar fragte nach weiteren an den diskutierten Aushandlungsprozessen beteiligten Akteursgruppen, etwa Anwält/innen oder Unterstützer/innen. Harders und Friedrichs hoben für das 19. Jahrhundert (neben vermittelnden Instanzen wie Kirchen und Schulbehörden) die Bedeutung der Arbeitgeber hervor. Rüthers nannte für das Mittelalter die Kirche als wichtige Akteursinstanz, die eben auch aufgrund der Überlieferung nachweisbar ist.

Simone Lässig plädierte abschließend dafür, die Perspektive des lokalhistorischen Ansatzes auf Gesellschaft, die sich mit Blick auf Migrant/innen als äußerst fruchtbar erweise, zu erweitern und auch auf andere nicht-zugehörige Gruppen oder Minderheiten anzuwenden.

Letztlich zeigte die Sektion mit Blick vor allem auf das 19. Jahrhundert und die Zeit davor ein weiteres Mal2 die Relevanz lokaler Perspektiven auf vermeintlich nationalhistorische Phänomene wie sie die historische Migrationsforschung für das 20. Jahrhunderts schon länger offen gelegt hat.3 Dies betrifft zum einen die höhere Varianz lokalen Verwaltungshandelns im Vergleich zu nationalen Regulierungsversuchen. Zum anderen werden hier Handlungsspielräume nicht nur der Administration sondern auch der Subjekte der Migration (und Niederlassung) in historischen Quellen sichtbar, die damit an gegenwartsorientierte sozialwissenschaftliche Forschungsdiskussionen anschlussfähig sind. Und schließlich werden auch in einer historischen Perspektive gerade vor Ort die Wirkungen translokaler sozialer Räume sichtbar, welche die nationalen Logiken und Narrative von menschlicher Mobilität in Frage stellen und als wichtiger Bestandteil von Migrationsregimen mit in die Analyse einbezogen werden sollten.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Andreas Rüther (Bielefeld)

Moderation: Simone Lässig (Washington)

Andreas Rüther (Bielefeld): Bleiberecht, Zuwanderungspolitik, Willkommenskultur? Landflüchtige und Neubürger in spätmittelalterlichen Stadtgemeinden Ostmitteleuropas

Levke Harders (Bielefeld): Migration, Flucht und Mobilität. Aushandlung von Fremdheit und Zugehörigkeit im 19. Jahrhundert

Anne Friedrichs (Mainz/Bielefeld): Die polnisch-deutsche Migration ins und aus dem Ruhrgebiet (1860–1950). Plädoyer für eine relationale Geschichte des Gesellschaftlichen

Leo Lucassen (Leiden/Amsterdam): The Netherlands and its colonial ‘migration circuits’, 1600–2010

Anmerkungen:
1 Vgl. Paul Scheffer, Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt, München 2008.
2 Jochen Oltmer (Hrsg.), Migrationsregime vor Ort und lokales Aushandeln von Migration, Wiesbaden 2018.
3 Vgl. beispielhaft Barbara Sonnenberger, Nationale Migrationspolitik und regionale Erfahrung. Die Anfänge der Arbeitsmigration in Südhessen 1955–1967, Darmstadt 2003.


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