HT 2018: „Materialität“. Konzepte und Erkenntnispotenzial jenseits der Geschichte der materiellen Kultur

HT 2018: „Materialität“. Konzepte und Erkenntnispotenzial jenseits der Geschichte der materiellen Kultur

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Pia Eiringhaus, Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg / Stephen Foose, Philipps-Universität Marburg

In den letzten Jahrzehnten hat die Geschichtswissenschaft mit Blick auf ihre theoretischen und methodischen Programmatiken vielfältige Umwandlungen und vermeintliche Neuerfindungen durchlaufen. Die Rede ist von sogenannten turns, seien es linguistische, räumliche oder visuelle, die die Disziplin durch neue Erkenntnisinteressen in je eigener Weise zu revolutionieren vermochten. Eine aktuell vieldiskutierte Trendwende, der material turn, stellt nun erneut ein sicher geglaubtes Fachcharakteristikum, die schriftliche Quelle als Ausgangspunkt historischer Untersuchungen, zur Disposition. Der im angelsächsischen Raum entstandene New Materialism erklärt Objekte, Dinge, Gegenstände und Artefakte ebenso wie Stoffe, Materialien, Körper und Praktiken zu eigenständigen historischen Subjekten und schreibt ihnen eine gestaltende, über die Rolle des passiven Trägers von Konzepten und Diskursen hinausgehende Wirkungsmacht zu. Die theoretische Basis hierfür bilden unter anderen die Arbeiten von Bruno Latour, primär seine Abkehr von der Idee, dass ausschließlich menschliche Akteure agency besitzen. Diese Umdeutungen stellen den Ausgangspunkt für die Redefinition des Materiellen jenseits seiner Bedeutung als passive Schaufenster für Erklärung der Vergangenheit dar. Trotz erster Berührungsängste auf Seiten der deutschen Geschichtswissenschaft zeichnet sich in den aktuellen Fachdebatten ein stetig zunehmendes Interesse an materiellen Kulturen ab. Wie aber können und sollen Historikerinnen mit nicht-schriftlichen Quellen als Aktanten umgehen, was lässt sich durch sie zeigen? Welche Konsequenzen bringt die Verschiebung der Relation von Schriftlichem und Dinglichem, mithin von Subjekt und Objekt, mit sich? Kurzum: Welche Geschichte lässt sich unter dem Banner der materiellen Kulturen erzählen und welchen erkenntnistheoretischen Mehrwert hat eine solche Geschichte?

Die von MARTIN KNOLL (Salzburg) und SEBASTIAN HAUMANN (Darmstadt) organisierte Sektion zur Materialität auf dem diesjährigen Historikertag verortete sich in diesen Debatten. Sie setzte sich mit den theoretischen und methodischen Potenzialen jenseits einer Geschichte der materiellen Kultur auseinander. Fragen des Materiellen in der Geschichte und den Geschichten im Materiellen stecken in ihren Theoretisierungen noch in den Anfängen. Basierend auf den etablierten Debatten verstehe sich die Sektion als ein Experiment, so Knoll in seiner Einführung, explizit heterogene Beiträge zusammenzubringen, um den vorhandenen theoretischen Rahmen abzustecken und konzeptionell zu erweitern. Anhand diverser Fallbeispiele sei auszuloten, welches Theorieangebot in den verschiedenen Anwendungsfeldern der Geschichte materieller Kulturen vorhanden sei, welche Gemeinsamkeiten sich festmachen ließen und welche Potenziale sich für theoretische Überlegungen zum Umgang mit materiellen Kulturen in der Geschichtswissenschaft herauskristallisierten. Dabei waren die Diskussionen um Materialitäten als historische Subjekte als kleinster gemeinsamer Nenner aller Beiträge zu identifizieren, widmen sich ihnen doch alle Vortragenden in je eigener Weise.

Im Auftakt zur Sektion führte ACHIM LANDWEHR (Düsseldorf) einige theoretisch-methodische Überlegungen zur Relation von Materialität und Zeit aus, die er über zwei Argumentationslinien, die „Zeit des Materials“ und die „Materialität der Zeit“ entfaltete. Konzepte von Zeit und Zeitlichkeit und ihre Problematisierung, so Landwehr, seien die zentrale Voraussetzung für geschichtswissenschaftliches Arbeiten. Mit Rückgriff auf Hans Blumenbergs Ausspruch, Zeit zeige sich nicht, sondern mache sich bemerkbar, differenzierte Landwehr zwischen einem linearen und vielschichtigen Zeitmodell. Ersteres manifestiere sich im Konzept der Quelle. Quellen seien eigens zeitlose Fenster zur Beschreibung der Vergangenheit, da sie Zeit lediglich „zeigten“ und sich dabei, wie Landwehr problematisierte, zwangsläufig einer eigenen Historisierung entzögen. Demgegenüber mache sich Zeit im Konzept des Materials in vielschichtiger Weise „bemerkbar“. Das Material sei nicht hindurchsehbar, sondern habe eine eigene, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umspannende Zeitlichkeit inne. Zu identifizieren seien vier, im Material eingeschriebene Zeitdimensionen: erstens die zeitliche Markierung seiner Entstehung, zweitens die Zeitlichkeit seiner Überlieferung, drittens die Dimension seiner steten Aktualisierung und somit Rekontextualisierung sowie viertens die im Material transportierten Vorstellungen von Zukunft. Demnach sei die Materialität, von Landwehr als „soziokulturelle Masse“ gefasst, als konstituierendes Element von Zeit und Zeitlichkeit, folglich als gestaltende Kraft von Realitäten zu verstehen.

Im Anschluss an Landwehrs theoretisch-methodischen Aufschlag referierte HEDWIG RICHTER (Hamburg) zu Materialität im Kontext von Menschenrechten, Gleichheitskonzepten und Individualisierungsprozessen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Mit Blick auf die Debatten um dingliche agency identifizierte Richter das Materielle als konstitutiven Teil sozialer Phänomene und argumentierte für das Zusammendenken von Ideen und Realitäten. Eine Geschichte der materiellen Bedingungen der Sattelzeit, so Richter, erlaube es, vorherrschende historische Narrative von europäischen Visionen, folglich die Ideengeschichte der westlichen Modernisierung, auszudifferenzieren, zu erweitern und infrage zu stellen. Richter rückte die historische Betrachtung von Körpern und Körperregimen als Teil des Materiellen in den Fokus, um über den ihnen eingeschriebenen Herrschaftsverhältnissen den Wandel von sozialen Ungleichheiten zu untersuchen und vorherrschende historische Narrative neu zu deuten. Körperregimes und körperliche Autonomisierung seien für die Entstehung neuer Formen von Gleichheit/Ungleichheit am Ende des 18. Jahrhunderts konstituierend gewesen, wie Richter beispielhaft anhand der Abschaffung der Leibeigenschaft sowie der Produktion neuer Objekte rund um den Körper erklärte. Neue Deutungsperspektiven auf die historische Verhandlung sozialer Ungleichheiten eröffneten sich jedoch dann, wenn Widersprüche zwischen den veränderten Körperregimen und den individuellen, materiellen/körperlichen Realitäten sichtbar, folglich Ideen und Konzepte durch das Materielle herausgefordert würden. Beispielhaft verwies sie hierzu auf die verweigerten Individualisierungsprozesse von Frauen und Sklaven zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die der Modernisierungsthese widersprechen. Richters Ansatz, materielle Kulturen, Körper- und Geschlechtergeschichte in den Dialog zu bringen, zeigt den Mehrwert einer Pluralisierung von historischen Subjekten, wie sie beispielsweise durch die Geschichte der materiellen Kulturen erfolgen kann.

Eine Geschichte des Materials im engeren Sinne präsentierte sich in STEFANIE GÄNGERs (Köln) Beitrag zur Wissensgeschichte der Chinarinde als expandierende materia medica in der iberischen Welt. Chinarinde als historisches Subjekt, so Gänger, eröffne neue Deutungsperspektiven auf die Entstehung, Ausweitung und globale Verbreitung von medizinischen Wissensformationen und Praktiken, folglich neue Erkenntnisse zur Globalgeschichte des Wissens. Dies erfordere, wie sie im Vortrag argumentierte, eine integrative Untersuchung des Materials: die Chinarinde als natürliches Heilmittel, ihr kulturspezifisches Vorkommen, die jeweiligen Vorstellungen von ihrer Nützlichkeit und ihres Gebrauchs sowie die ihr zugrundeliegenden Raumkonzepte, Infrastrukturen und Zirkulationswege. Argument ist, dass sich über die Chinarinde und die unterschiedlichen Wahrnehmungen ihrer medizinischen Verwendung Rückschlüsse auf kulturspezifische Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, Medizin und Naturheilmittel schließen ließen. Gänger führte aus, wie sich die in Südamerika bereits etablierte Heilsubstanz zum beliebten Importprodukt der iberischen/europäischen Welt des 18. Jahrhunderts entwickelt und welche Rolle die Materialität der Rinde dabei gespielt habe. Nicht nur mache die Rinde die Zirkulation und Transformation von medizinischem Wissen und ihren Praktiken sichtbar, sondern auch zeigten sich rekonstruierbare globale Similaritäten in der Art und Weise, wie die Rinde zubereitet und konsumiert werde. Gänger erläuterte, die Exportentwicklung der Rinde sei auf ihre unveränderliche, im Stoff selbst begründete medizinische Eigenschaft zurückzuführen. Global geteilte Wissensformationen und Praktiken seien somit nicht zwingend aus dem vorangegangenen Austausch medizinischer Ideen, sondern auch aus der Beschaffenheit und Wirkung der Substanz selbst zu erklären. Mit Blick auf die etablierten agency Debatten verdeutlicht Gängers Forschung den Erkenntnisgewinn, der aus der Verschiebung der Relation von Diskurs und Material, Idee und Praxis hervorgehen kann.

In der letzten Präsentation der Sektion rückte Materialität im technikhistorischen Kontext in den Blick. SEBASTIAN HAUMANN (Darmstadt) plädierte dafür, das vorherrschende Verständnis von Roh- und Gefahrenstoffen um die Dimension ihrer eigenen Wirkungsmacht zu erweitern. In seinem historiographischen Abriss des Untersuchungsgegenstands führte er aus, dass den umwelt-, technik- und wirtschaftshistorischen Arbeiten zu Stoffen eine starke „Externalisierung“ des Materials zugrunde liege. Dies reduziere die Stoffe auf passive Entitäten. Von Interesse sei, wie das Material verwendet, bearbeitet, gehandelt oder bewegt werde, auf welche Weise es folglich für menschliche Akteure nutzbar gemacht werden könne. Demgegenüber sprach sich Haumann für die stärkere Betrachtung der Eigenschaften von Rohstoffen, genauer ihre Wirkungen und Effekte jenseits menschlicher Handlungen, aus. Materielle agency werde beispielhaft in der Art und Weise sichtbar, wie die natürlichen Eigenschaften und physikalischen Einschränkungen von Rohstoffen menschliche Interaktionen mitbedingen. Zur Frage der methodischen Realisierbarkeit dieser Herangehensweise nahm Haumann auf die Konzeptionalisierungen aus dem New Materialism sowie der Science and Technology Studies Bezug. Allem voran eine gesteigerte disziplinäre Offenheit gegenüber Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, so Haumann, biete der Geschichtswissenschaft eine Chance, die Wirkungsmacht des Materiellen bzw. die agency of things für historische Forschungen greifbar und handhabbar zu machen. Gleichsam differenzierte er aber zwischen agency und autonomy und betonte die beschränkte Nutzbarkeit der ANT für die Untersuchung von Netzwerken und sozialen Interaktionen. Anhand der Debatten um die Trennung von Natur und Kultur betonte er erneut die Relevanz der Integration von Materialitäten, zeigte aber gleichsam Problemlinien epistemologischer Konsequenzen auf. In versöhnlicher Manier schloss Haumann mit der Feststellung, Wissensproduktionen als Teil kultureller Strukturen sowie das Wissen über die Natur in seiner kulturellen Konstruiertheit zu fassen, folglich die unauflösbare Interdependenz von Kultur und Natur anzuerkennen. Haumanns anwendungsbezogene Konsequenzen blieben aber auf den Vorschlag begrenzt, vermehrt Mikrostudien zu spezifischen Praktiken durchzuführen und somit einen minimalen Erklärungsanspruch zugunsten der pragmatischen Begrenzung in Kauf zu nehmen.

In SIGRID KÖHLERS (Tübingen) Kommentar zur Sektion stand die Frage, was Materialität mit Blick auf gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse letztlich zeigen könne, im Fokus. Die Verschiebung von agency und ihre Konsequenzen, für die Bruno Latour wiederkehrend zum zentralen Referenzpunkt wurde, ließen sich dabei als Kern der Debatten herausstellen. Köhlers Forderung nach der Auflösung der starren Dichotomie von Form und Geist, Material und Diskus, erscheint als sinnvolle Herangehensweise, um Materielles produktiv für historische Forschungsvorhaben nutzbar zu machen. Es müsse neu verhandelt werden, so Köhler, in welcher Relation letztlich Subjekt und Objekt, Natur und Kultur, soziale Gefüge und raumzeitliche Strukturen zueinander stünden. Köhler identifizierte das Zusammendenken, den produktiven Dialog beider Elemente als gemeinsame Linie aller Beiträge und betonte, dass erst diese Integration zu neuen Perspektiven und somit Schlussfolgerungen über die Vergangenheit führe. Über den Begriff des „materiellen historischen Raumzeitgefüges“ ließe sich die Relation von Idee und Körper, medizinischen Wissenskulturen und Substanz, Stoff und Umwelt genauer beschreiben und erklären, wie sich diese Relation im historischen Kontext verändert habe.

Die Debatte um materielle agency und ihre erkenntnistheoretischen Chancen und Grenzen dominierte auch die Abschlussdiskussion des Panels. Die Frage, inwiefern sich über Materialien, Dinge und Stoffe vorherrschende Deutungsmuster herausfordern ließen, stellte sich beispielhaft anhand der möglichen Sperrigkeiten und Probleme des „historisch-materiellen Schauplatzes“ von Chinarinde. Gleichsam griffen die Diskussionsbeiträge die Problematiken bei der praktischen Umsetzung einer Geschichte materieller Kulturen auf. Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie stelle zwar eine mögliche Theoretisierung für dingliche agency dar, jedoch resultiere eine konsequente Anwendung seiner ANT in der vollständigen Auflösung historischer Subjekte in unendliche Relativitäten. Richters Kommentar zu diesem Wortbeitrag, Latours Deutungsangebot sei als Anregung, nicht aber als Methodenkorsett zu verstehen, erscheint in diesem Kontext fruchtbar. Zusammenfassend hat die Sektion deutlich gemacht, dass die Frage nach dem Erkenntnispotential der Geschichte materieller Kulturen nur dann gelingen kann, wenn das starre Disziplindenken überwunden, die Mentalität des “entweder-oder“ abgelegt und mehr Offenheit für zielgerichtete, eklektische Herangehensweisen zugelassen wird. Demnach erscheint es sinnvoll, Trendwenden weniger als ablösende, ersetzende Programmatiken mit Anspruch auf absolute Deutungshoheit zu verstehen, sondern als ergänzende, horizonterweiternde Zugänge, die erst im kritischen Dialog mit dem Bestehenden zu neuen Erkenntnissen führen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Martin Knoll (Salzburg) / Sebastian Haumann (Darmstadt)

Achim Landwehr (Düsseldorf) : Zeit der Materialität - Materialität der Zeit. Geschichtstheoretische Erkundungen

Hedwig Richter (Hamburg) : Menschenrechtsdinge. Materielle Bedingungen von Individualisierungsprozessen um 1800

Stefanie Gänger (Köln) : Materia Medica in der iberischen Welt. Materialität in der Globalgeschichte des Wissens, 1750 – 1820

Sebastian Haumann (Darmstadt) : Rohstoffe und Gefahrenstoffe. Materialität als Herausforderung der Umweltgeschichte

Sigrid Köhler (Tübingen) : Kommentar


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