Demokratische Übergänge. Das Ende der Nachkriegszeit und die neue Verantwortung

Demokratische Übergänge. Das Ende der Nachkriegszeit und die neue Verantwortung

Organisatoren
Zeitgeschichtlicher Arbeitskreis Niedersachsen (ZAKN)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.11.2004 - 27.11.2004
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Von
Habbo Knoch, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

I. Je mehr sich die zeithistorische Forschung den 1960er und 1970er-Jahren zuwendet, desto deutlicher wird ein Bedarf an Leitkonzepten erkennbar, um den Zeitraum seit 1945 genauer zu periodisieren und zu charakterisieren. Vor allem für die 1950er-Jahre wird die Frage der Deutungshoheit zwischen "Westernisierung" (Doering-Manteuffel) oder "Modernisierung" (Schildt) verhandelt, wohinter das deutlich ältere und Adenauer-kritische Konzept der "Restauration" nur noch als Ergänzung in Form der "konservativen Vorzeichen" präsent ist. Ulrich Herberts Konzept der "Liberalisierung" umfaßt auch die 1960er-Jahre, in denen er in Recht, Gesellschaft und Politik progressive Entwicklungen ausmacht, die den Deutschen mehr Freiheiten in einer weniger restriktiven Sozialordnung erlaubten.

Zusammen mit der einsetzenden Debatte um den deutschen Terrorismus stellt sich zur Zeit ein längerer Wertungshorizont ein, der für die "alte" Bundesrepublik die 1950er-Jahre als institutionelles Scharnier zu den 1920er und 1930er-Jahren und die beiden folgenden Jahrzehnte als soziomoralische Transformationsphase klarer hervortreten läßt. Erst die Politisierung des Spannungsverhältnisses von konservativer institutioneller und moralischer Ordnung einerseits und säkularen Prozessen gesellschaftlicher Öffnung andererseits in den 1960er und 1970er-Jahren ließ eine reflexive politische Kultur entstehen, die aus eigenen Problemlösungen (unter anderem "Westbindung" oder "Ostpolitik") autonome Handlungskonzepte und Sinnstiftungsmuster gewonnen hatte. In dieser Phase kam es auch zu einer gestauten Historisierung der Nachkriegszeit, als die Meinungsführerschaft unter den Zeichen von Wandel und Protest verhandelt wurde. Erst in den 1960er und 1970er-Jahren entstand so das grundlegende Selbstdeutungsmuster der Bonner Republik, das sich aus den Klammern "Abendland" und "Sozialismus" befreite.

Den dominierenden Deutungskonzepten des Nachkriegswandels haftet neben ihrer täuschenden Stringenz der Nachteil an, primär analytischen Charakters zu sein: Es handelt sich um weitgehend ex-post-gewonnene Begriffe mit dem Anspruch, Zeitabschnitte makrohistorisch dingfest machen zu können. Dies läßt aber genauer nach den semantischen und repräsentatorischen Modi der zeitgenössischen Selbstverständigung fragen, in denen sich die Herausforderung und Gestaltung von Kontinuität und Wandel ausdrücken und in denen sie aufgefangen wurden. Solche Konzepte müssen sich jedoch den Herausforderungen stellen, daß der beschriebene Wandel in einer Gemengelage von Tradierungen und Aufbrüchen sowie einem komplexen Ineinanderwirken von exogenen und endogenen Faktoren zustande kam. Es mag von daher sinnvoll sein, Leitkategorien zu erarbeiten, die a) sich möglichst eng an der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung orientieren, b) aus der Perspektive einer "mittleren Reichweite" zentrale Entwicklungssegmente der bundesdeutschen Gesellschaft statt einer Gesamtsicht herausarbeiten und c) die transnationalen Dimensionen säkularer Veränderungsprozesse gegenüber den deutschen Spezifika nicht vernachlässigen.

Die Jahrestagung des "Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen" machte im November vergangenen Jahres unter Leitung von Prof. Bernd Weisbrod (Göttingen) den Versuch, "Verantwortung" als eine solche neu gefüllte Kategorie in verschiedenen politischen und sozialen Handlungsfeldern aufzusuchen. Gefragt war nach Anzeichen einer neuen politischen Kultur, in der die Reflexion auf nationale, moralische oder globale Verantwortung zum Kern eines mentalen Ablöseprozesses vom Nationalsozialismus wurde.

II. Die Tagung war als Workshop laufender Abschlußarbeiten aus dem Einzugsbereich des ZAKN angelegt; die Kommentare wurden von Habilitanden (Frank Bösch, Thomas Etzemüller, Svenja Goltermann, Stefan-Ludwig Hoffmann, Benjamin Ziemann) übernommen. Nach einem Einführungsvortrag von Norbert Frei zur "Vergangenheitsbewältigung" in den 1950er und 1960er-Jahren standen in fünf Sektionen zur Diskussion:
- die Staatsbesuche von Bundespräsident Heuß (Till Manning) und die wechselseitigen Besuche von de Gaulle und Adenauer 1962 (Nicolas Büchse) als Beispiele für "symbolische Politik",
- die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" (Stephan A. Glienke) und die Debatte um die NS-Prozesse in den 1960er-Jahren (Georg Wamhof) als Beispiele für die Mutationen der juristischen Vergangenheitsbewältigung gegenüber den 1950er-Jahren,
- das Verhältnis von Experten und Entwicklungshilfe in deren Frühphase um 1960 (Hendrik Grote) und die Protestpraktiken bei der Besetzung des Bauplatzes des Atomkraftwerkes Wyhl (Johann Vollmer) als Beispiele für Semantiken und Praktiken von politischer Kultur im Zeichen moderner Risiko- und Interessenpolitik,
- die Debatten in der katholischen Kirche nach Einführung der Pille 1961 (Eva-Maria Silies) und der Wandel des Pfarrfrauenleitbildes in der Hannoverschen Landeskirche (Doris Riemann) als Beispiele für das Verhältnis von Religion und Gesellschaft beim Wandel sozialer Leitbilder,
- die Herausbildung eines neuen Managerleitbildes in der Harzburger Akademie unter Reinhard Höhn (Daniel-Christoph Teevs) und die Erosion des Hebammenberufes im Zeichen der Technisierung des Gebärens (Marion Schumann) als Beispiele für Transformationen professioneller Leitbilder.

III. Die wesentlichen Ergebnisse lassen sich anhand von drei Bereichen zusammenfassen: die Medialisierung symbolischer Politik; die Deutungsmuster moralischer Vergangenheitspolitik; der Wertewandel in Expertenkulturen.

1. Medialisierung symbolischer Politik
Till Manning (Göttingen) konzentrierte sich auf den Heuss-Besuch in Großbritannien 1962 und hob auf das Mißverhältnis zwischen offiziell hochwertigem Empfang und kühler bis distanzierter Reaktion in der englischen Presse ab. Anders als bei seinen Besuchen in Italien oder Griechenland zuvor gelang es Heuss in London nicht, die Vorbehalte gegenüber der deutschen Mentalität durch einen betont bescheidenen Stil und unter Verweis auf die deutsche Verantwortung zu überwinden; andererseits konnte er auch nicht wie in den USA an die Westbindung als moralische Selbstverpflichtung der Deutschen appellieren. Möglicherweise hatte die Reaktion in Großbritannien aber auch mehr mit den dortigen Pressemechanismen zu tun, die Manning nicht gesondert untersuchte. Gewiß aber wurde an diesem Beispiel, wie Frank Bösch (Bochum) in seinem Kommentar hervorhob, die nicht (mehr) politisch kalkulierbare Funktion von Medien deutlich, die sich der zeremoniellen diplomatischen Steuerung entzog.

Ungleich passender fügte sich hingegen die Berichterstattung über die wechselseitigen Besuche von Adenauer und de Gaulle 1962 in das mit ihnen verfolgte Programm, wie Nicolas Büchse (Göttingen) darlegte. Daß der Besuch beider in der Kathedrale von Reims zur mythischen Ikone wurde, führte er auf eine starke zeitgenössische Emotionalisierung durch de Gaulle zurück, die durch die deutschen Berichte verstärkt wurde. Wie schon in den jüngeren Studien zu Adenauers und Brandts Wahlkampftaktiken muß noch genauer gefragt werden, wie sich Absichten des Besuchs und die Einberechnung der Medien, aber auch ein mediogenes Auftreten hier bereits zueinander verhielten, insbesondere im Zeichen des aufkommenden Fernsehens.

Auch Stephan A. Glienke (Hannover) interpretierte den Erfolg der Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" 1959 als Folge einer breiten und überparteilichen Medienberichterstattung, die aufgrund der banalen Machweise der Ausstellung nicht zu erwarten gewesen wäre. Andererseits war die Frage der Kontinuität von NS-Tätern in der Bundesrepublik in diesen Jahren vielfältig auf der Tagesordnung. An der Ausstellung entzündete sich ein Konflikt, der zur Autonomisierung von Selbstbeschreibungen im oben genannten Sinne beitrug. Ob dies allerdings, wie Glienke hervorhob, allein einen Bruch in der Bearbeitung der NS-Vergangenheit hervorrief, müßte im Kontext des erinnerungskulturellen Wandels zwischen 1955 und 1965 gegen weitere Ereignisse konturiert werden.

Waren hier Medien ein Verstärker für die sich embryonal abzeichnende politische Protestkultur, wirkten sie später explizit als Katalysator: In Wyhl, so argumentierte Johann Vollmer (Göttingen), suchten 1973 zunächst nur die lokalen Bürgerinitiativen den Bau des AKW durch eine Platzbesetzung zu verhindern. Erst die überlokale Medienaufmerksamkeit brachte Studenten und Neugierige aus der alternativen Szene in die ländliche Region. Darauf gründete eine einmalige Kooperation von bäuerlichem und studentischem Protest, in der sich die Verhandlungsbereitschaft der Einheimischen und die neoromantische Seßhaftigkeit der Proteststudenten erfolgreich, aber spontan und ungeplant ergänzten. Vollmer konstatierte einen klaren Bruch zwischen dieser ersten Platzbesetzung und den späteren Konflikten an AKW-Standorten: Erst dort habe sich die "Bewegung" wirklich erfunden - indem sie Wyhl als gewaltlose Alternative idealisierte, nachdem durch die gewalthafte Aufladung der Anti-AKW-Proteste ein Legitimationsvakuum entstanden sei. Auch hier ist das Wechselverhältnis zwischen Medien und Protest bis hinein in medial gesteuerte und autonom gewonnene Semantiken und Bildsprachen noch zu untersuchen.

2. Deutungsmuster moralischer Vergangenheitspolitik
In den Jahren um 1960 erfuhr der bundesdeutsche Vergangenheitsdiskurs eine nachhaltige Öffnung und Pluralisierung, die zur langen Vorgeschichte der 68er-Bewegung zählt. In den Beiträgen, die sich diesem Zeitraum widmeten, blieb eine Aufladung der Vergangenheitspolitik mit Kategorien der moralischen Selbstentlastung und der Suche nach einem zivilen Wiederanschluß auf Seiten der offiziellen Politik deutlich erkennbar: Heuss setzte in London auf seinen bildungsbürgerlichen Habitus, um neben der von ihm vertretenen Schamforderung auch eine unkontaminierte deutsche Tradition zu präsentieren. Adenauers Begegnungen mit de Gaulle fügten sich in das übergreifende Interpretament der deutschen Opfergemeinschaft ein, die bei diesen Staatsbesuchen nun als gemeinsame inszeniert wurde. Allerdings hob Büchse hier auf den Mythos der spannungsfreien Begegnung ab: Adenauer und de Gaulle war daran gelegen, unter Rückgriff auf die zum Opfer für Europa und Abendland erklärten Toten des Ersten Weltkriegs den in beiden Ländern sich aufdrängenden Diskurs um Täterschaft und Verstrickung symbolisch zu überdecken.

Hendrik Grote (Göttingen) führte die moralische Begründung der bundesdeutschen Entwicklungshilfe auf eine interessegeleitete Strategie zurück. Die Bundesrepublik präsentierte sich seit Aufnahme der offiziellen Entwicklungshilfe 1956 als Staat ohne kolonialistische Bindungen und förderte vor allem Projekte in Asien - verfolgte dabei aber erklärtermaßen auch den Zweck, den deutschen Außenhandel zu fördern. Zu einer Erhöhung der Leistungen kam es nur auf internationalen Druck; insgesamt nutzte die Bundesregierung die Entwicklungshilfe ähnlich wie die "Wiedergutmachung" als Instrument außenpolitischen Reputationsgewinns, den Staatsbesuchen von Heuss in der Absicht vergleichbar. In der öffentlichen Legitimation etwa durch Bundespräsident Lübke wie in derjenigen durch die Experten begannen humanitäre Argumente eine wachsende Rolle zu spielen - aber Grote verwies auf die Ambivalenz zwischen einer Ablehnung der NS-Rassenpolitik und der Beibehaltung rassistischer Stereotype aus der Zeit um 1900, insbesondere eines ausgesprochenen Überlegenheitsdenkens. Stefan-Ludwig Hoffmann (Berlin) band dies in seinem Kommentar in den Zusammenhang der Wertetransformation der 1950er-Jahre ein, in der es der westliche Rassismus den Deutschen ermöglicht habe, "an überkommenen Vorurteilsstrukturen festzuhalten, ohne dafür politisch in Haftung genommen zu werden".

Für die Beurteilung der Deutungsmuster der moralischen Vergangenheitspolitik muß insofern auch über die unmittelbare Suche nach Traditionsresten der NS-Zeit hinausgegangen werden. Zum einen kam es - wie bei Heuss oder den Protesten in Wyhl - zu einem Rückgriff auf Protest- und bürgerliche Traditionen des 19. Jahrhunderts; die Transformationsphase der 1960er-Jahre stellte sich insofern auch als eine Erweiterung der historischen Referenzfolien dar. Zum anderen ergaben sich durch die Melange von NS-Konzepten und vor allem US-amerikanischen Konzepten zeitgenössische Adaptionen, wie Daniel-Christoph Teevs (Göttingen) in seinem Vortrag zur Harzburger Akademie deutlich machte. Die dort mit großem Erfolg für führende deutsche Unternehmen gelehrten Managementkonzepte wurden zwar von Reinhard Höhn, bis 1937 für den Aufbau des SS-Sicherheitsdienstes verantwortlich, entwickelt, lassen sich aber nur als "Patchwork-Modell" verstehen. Höhn machte sie adaptionsfähig, indem er ausdrücklich eine Abkehr von preußischen oder "führerstaatlichen" Traditionen des Gehorsams proklamierte und auf eine Managementkultur setzte, die auf eine Semantik kooperativer Verhältnisse und die Erziehung zur Selbstverantwortung baute. Genau hier und in der spezifischen Emotionalisierung des Verhältnisses kommt nach Teevs jedoch wieder ein Führungsmodell zum Zuge, das seit Anfang der vierziger Jahre im Reichssicherheitshauptamt praktiziert wurde und sich nicht zuletzt durch eine unbedingte Orientierung am Erfolg auszeichnete.

Praktizierten Experten wie Höhn einen Schlußstrich eigener Art, indem sie sich erfolgreiche Nischen jenseits einer zunehmend kritischeren Öffentlichkeit schufen, erklärte Georg Wamhof (Göttingen) das Mißverhältnis zwischen den NS-Prozessen der 1960er-Jahre und ihrer aufklärenden Wirkung aus dem Charakter der Prozesse selbst. Sie seien als "Inszenierungen der Bewältigung" zu lesen, die nicht als Auftakt, sondern als Abschluß der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gedacht waren. Die mit ihnen produzierten Narrative werden durch die Medien verstärkt, weil die individualisierende Schuldsicht hier aufgenommen wird: Die normkonforme Volksgemeinschaft konnte so von den dämonisierbaren Mördern abgegrenzt werden. Auch auf der Ebene der Politik wurde die Verlängerung der Verjährungsfrist 1964 mit der festen Absicht vorgenommen, sie 1969 letztmalig auslaufen zu lassen. Was in der Medialisierung eine Zunahme der Thematisierung des Nationalsozialismus bewirkte, stellte sich in dieser Perspektive als Bemühen dar, dem mehrheitlichen Bedürfnis nach einem "Schlußstrich" nachzukommen. Thomas Etzemüller (Oldenburg) wies in seinem Kommentar auf die Gemeinsamkeit der von Wamhof betrachteten Prozesse und von Glienke untersuchten Ausstellung hin, die jeweils Aufklärung auf bestimmte Weisen produzierten und verstellten: Die Prozesse hätten durch Sagbarkeitsregeln Ausschlüsse produziert, die Ausstellung durch kollektive Selbstinszenierung generationelle Brüche konstruiert.

3. Wertewandel in Expertenkulturen
Teevs zeigte, wie der Führungsexperte Höhn ein Konzept des "Experten" übernahm, das sich in wechselseitiger Beobachtung und Aneignung im transatlantischen Diskurs schon vor 1945 herausgebildet hatte, aber erst nach dem Krieg weite Verbreitung erfahren sollte. Klassische Muster der Beamtenexpertokratie rückten zeitgleich ins Zwielicht, als die Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" die Kontinuität von Richtern der NS-Zeit in der Bundesrepublik herausstellte; dabei ging es nicht nur um die NS-Verbrechen, sondern wie bald darauf für die Universitäten um die Legitimität einer institutionellen Selbstverfassung, die sich im Zeichen einer Restauration bestehender Beamtenstrukturen herausgebildet hatte.
Waren bei der Denazifizierung und Wiedereingliederung vor allem Akademiker und Juristen als Experten in eigener Sache überaus erfolgreich um eine auch moralische Reintegration aufgetreten, nutzten Wissenschaftler, die sich auch vor 1945 mit den späteren "Entwicklungsländern" befaßt hatten, diese Expertise seit Anfang der fünfziger Jahre nun, sich selbst in der neuen Bundesrepublik zu platzieren. Mit wachsendem Einfluß verwiesen sie auf die "Dringlichkeit" einer westlichen Politik zur Lösung von ökonomischen und demographischen Problemen in "unterentwickelten" Regionen. Waren sie auch insofern erfolgreich, als 1956 die bundesdeutsche Entwicklungshilfe nicht zuletzt auf das Wirken ihres Netzwerks hin ins Leben gerufen wurde, kamen ihre Planbarkeitsvorstellungen bereits wenige Jahre später an ihre Grenzen. Das trug erheblich dazu bei, dieses Politikfeld an den Rand zu drängen, zumal es bereits seinen Dienst für die moralische Reintegration der Bundesrepublik um 1960 geleistet hatte.

Gegenüber der institutionellen Verlängerung von Expertenkulturen zeichnet sich mit Höhns Managermodell und den Entwicklungshilfespezialisten eine an transnationalen Maßstäben für Effizienz und Fortschritt orientierte Expertenkultur ab. Sie ist nur im Rahmen säkularer Veränderungen von Berufskulturen zu verstehen, die mit Ausdifferenzierungen, aber auch mit Deprofessionalisierungen einhergingen. Doris Riemann (Hannover) widmete sich dem Wandel des Rollenmodells der Pfarrfrau in der lutherischen Landeskirche Hannover. Nachdem die letzten Kriegsjahre bis in die 1950er-Jahre hinein noch einmal eine Verstärkung des traditionellen Leitbildes mit sich gebracht hatten, das die Pfarrfrau an der Seite ihres Mannes und dieses Ideal als organisches Leitbild sozialen Lebens sah, führte, so Riemann, die Ausdifferenzierung des Pfarrerberufs zu einem Segment der Dienstleistungsgesellschaft zu einem radikalen Rollenwandel in den 1960er-Jahren. An die Stelle der "Pfarrbräutekurse" trat bereits Anfang der 1960er-Jahre die Trennung von Privat- und Dienstwohnung, auch Teilzeitarbeit von Pfarrfrauen galt als vereinbar. Riemann pointierte dies als progressive Frauenpolitik der evangelischen Kirche, die frühzeitig eine meinungsbildende Rolle in der "säkularisierten Geschlechterpolitik" gespielt habe. Allerdings wies Benjamin Ziemann (Bochum) in seinem Kommentar darauf hin, daß die nun erwartete Verbindung von eigenem Beruf, Haushalt und pfarramtlicher Mittätigkeit weniger Befreiung als vielmehr eine "indirekte Form der Folter" war.

Noch deutlicher betonte Marion Schumann (Hannover) die Deprofessionalisierung eines klassischen Frauenberufsstandes. Nachdem das Hebammengesetz von 1938 noch gegen den Trend zur Hospitalisierung des Gebärens seit Beginn des Jahrhunderts die Rolle der Hebammen gestärkt habe, sei es nach dem Krieg zu einem Verfall dieses Berufes gekommen, der bis Mitte der 1970er-Jahre ganz durch ein technisches Verständnis von Geburten und deren Planbarkeit abgelöst worden sei. Schumann machte dafür unter anderem die Förderung des privaten Gesundheitssektors in der Bundesrepublik verantwortlich, das Ärztepraxen und in der Folge Krankenhausgeburten gegenüber Hausgeburten privilegiert habe. Ganz auf die Verlustgeschichte der Hebammen im Sinne der "weisen" Frauen fokussierend, kamen der begleitenden Fortschrittseuphorie und den Errungenschaften der Krankenhaustechnik als erklärenden Gründen zu wenig Aufmerksamkeit zu. Für die Kommentatorin Svenja Goltermann (Bremen) spiegelte die Annahme vom Verlust einer einzigartigen persönlichen Erfahrung durch die Klinikgeburt "ebenso wie die am Schluss affirmativ aufgegriffene Behauptung vom Trauma der Geborenen wie der Gebärenden in unserer Kultur in erster Linie ein verklärtes und moralisch aufgeladenes Verständnis von Geburt wider", das zudem noch durch die unbelegte These einer gegenüber den Ärzten größeren "Vergangenheitslast" unterstützt worden sei.

Pfarrfrauen und Gebärende wurden mit der spiegelbildlichen Verschiebung im Rollenmodell von Pfarrern und Hebammen zu Expertinnen in eigener Sache auf alltagspraktischer Ebene. Insofern entstanden aus Differenzierungsdynamiken auch Individualisierungsspielräume und -zwänge. Sie spielten auch eine wichtige Rolle in der Debatte um die Einführung der Pille in den 1960er-Jahren, die Eva-Maria Silies (Göttingen) anhand der katholischen Kirche in Deutschland untersucht. Die Debatte um diese "technische" Verhütung spaltete die Kirche nicht in Amtsträger und Laien, sondern erodierte im Lauf der 1960er-Jahre auch diese Trennung. Aus der Frage der moralischen Verwerflichkeit im Sinne einer Verfehlung gegenüber kirchlichen Traditionen erwuchs eine viel gewichtigere Auseinandersetzung um das Selbstbestimmungsrecht der Frau. Hatte 1966 noch das Mehrheitsgutachten einer päpstlichen Kommission die Empfängnisregelung als Teil der "verantworteten Elternschaft" gesehen, lehnte die päpstliche Enzyklika "Humanae vitae" dies 1968 ab, woraufhin Teilnehmer des Deutschen Katholikentages sich in einer Erklärung gegen dieses Verbot unter Berufung auf "Einsicht und Gewissen" aussprachen. Hier kamen - bar jeder Protesthaltung wie bei den 68ern - die Infragestellung institutioneller Gewißheiten und soziomoralische Autonomisierung zusammen. Denn es standen mit der Zuständigkeit des kirchlichen Lehramtes und der individuellen Verantwortung zwei Prinzipien unterschiedlicher Werteordnungen im Konflikt. Damit waren hier - wohl erstmals in diesem Ausmaß für die katholische Kirche der Bundesrepublik - zwei Wertemodelle gesetzt, die sich aus unterschiedlichen Quellen speisten, beide ihre Anbindung an die Entwicklung der Bundesrepublik und im öffentlichen Raum suchten, und verstärkt durch ein nachhaltiges Medieninteresse an der "Pille", verhandelt wurden.

Zusammenfassung
Versucht man, die 1960er-Jahre als Prozeß zu erfassen, in dem sich autonome Muster der Selbstverständigung im Spannungsverhältnis von institutioneller Entwicklung und soziomoralischer Pluralisierung ausbildeten, lassen sich aus den Beiträgen der Tagung drei Triebkräfte dafür gewinnen: 1. Wesentliche Teile der Selbstverständigung wurden um 1960 nicht nur in den öffentlichen Raum und damit über Expertendebatten hinaus verlagert, sondern auch durch endogene mediale Prozesse initiiert. 2. Innere Transformationen der Expertenkultur, die sich an Sachzwängen wie Semantiken der moralischen Reintegration orientierte, verhalfen Konzepten einer Dienstleistungsgesellschaft zum Durchbruch, die Individualisierungspotenziale mit all ihren Ambivalenzen frei setzte. 3. Erst in der Ablösung einer moralischen Wertefundierung aus den Traditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, von der die 1950er-Jahre noch stark geprägt waren, durch eine Reflexion auf die Spannungen zwischen institutionellen Ordnungen und sozialer Pluralisierung in weit mehr Bereichen als nur den universitären oder politischen Strukturen entwickelte sich in den 1960er-Jahren eine Diskursformation, in der die Bundesrepublik zu sich selbst kam.

Diese soziomoralische Autonomisierung setzte wesentliche Transformationskräfte, aber auch konservative Widerstände frei und mutierte mit der Zeit zu einer politischen Moral der allseitigen Zivilität. Vielleicht bietet dieser Rahmen die Möglichkeit, weiterhin nach zeitgenössischen Leitkonzepten zu fragen, wie dies mit der "Verantwortung" beabsichtigt war. Zwar ergab sich in Vorträgen und Diskussion dieser Begriff noch nicht als zwingende Kategorie, die auch im Blick auf Periodisierungen der politischen Kultur andere Konzepte ablösen könnte, aber dies hatte möglicherweise zum einen mit der weitgehenden zeitlichen Beschränkung der Tagung auf die späten 1950er und frühen 1960er-Jahre zu tun. Zweitens blieb der Begriff selbst als zeitgenössischer opak und war nur an wenigen Stellen explizit präsent. Drittens müßte konsequenter nach dem Selbstbild der handelnden Akteure gefragt werden, als dies in den meisten Papieren geschah.

Die nächste Jahrestagung des ZAKN im November 2005 knüpft hier an und wird von Dr. Habbo Knoch unter dem Titel "Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den 1960er und 1970er-Jahren" organisiert. In ihr soll der Frage nachgegangen werden, ob sich in den Protestbewegungen und der politischen Kultur nach dem "Übergangsjahrzehnt" der 1960er-Jahre ein neues Leitbild und Selbstverständnis des politischen Bürgersinns in der Bundesrepublik etablieren konnte, das den kulturbürgerlichen Stil der "konservativen Modernisierung" ablöste.

Kontakt

Georg Wamhof
Zeitgeschichtlicher Arbeitskreis Niedersachsen (ZAKN)
Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte
Universität Göttingen
Platz der Göttinger Sieben 5
37073 Göttingen
gwamhof@uni-goettingen.de


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