Beziehungen und Netzwerke zwischen Deutschland, Ostmittel- und Südosteuropa im Protestantismus vom 16. bis 20. Jahrhundert

Beziehungen und Netzwerke zwischen Deutschland, Ostmittel- und Südosteuropa im Protestantismus vom 16. bis 20. Jahrhundert

Organisatoren
Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas/ Internationales Graduiertenkolleg "Religiöse Kulturen im Europa des 19. un 20. Jahrhunderts", Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.07.2018 - 20.07.2018
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Von
Frank Krauss, Lehrstuhl für Kirchengeschichte 2, Fakultät für Evangelische Theologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

Durch die zeitlich und räumlich umfassende Perspektive wird es möglich, lautete der Ansatz der Tagung, die intensiven Verflechtungen der thematisierten Regionen und ihre Rolle für die Geschichte des Protestantismus in den jeweiligen gegenseitigen Abhängigkeiten über Jahrhunderte besser zu verstehen.

Den Auftakt des Workshops bildeten die Grußworte von MARTIN SCHULZE WESSEL (München) sowie die Einführung von ANGELA ILIĆ (München). Schulze Wessel betonte dabei die Relevanz, die dem Protestantismus in diesem häufig unter römisch-katholischen Prämissen untersuchten Gebiet zukommt. Der Protestantismus sei zwar stark im Kontext von Nations- und Bildungsgeschichte verankert, bringe aber auch eigene religionsgeschichtliche Fragestellung in den Diskurs ein.

ANGELA ILIĆ hob in ihrer Einführung besonders die Beziehungsgeschichte hervor, die dem Tagungstitel inhärent ist, und stellte damit einhergehend und exemplarisch die tiefen Verflechtungen zwischen Protestanten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation – bzw. in seinen Nachfolgestaaten – und in den sich häufig ändernden staatlichen Konstrukten in Südost- und Ostmitteleuropa dar. Obwohl diese regionalen Konstrukte als solche Phänomene der Moderne sind, wies die Vortragende daraufhin, dass sie sich nichtsdestotrotz als Orientierungspunkte für eine geografisch fokussierte Erforschung eignen. Zugleich betonte sie den Mangel an übergreifenden Werken zum Protestantismus in übernationaler Perspektive. Denn diese Region besaß – so Ilić – eigene Lösungsprozesse für Europa umspannende Fragestellungen. Zudem bildete sie eigene Netzwerke aus, durch die ein entsprechender Gedankenaustausch zustande kommen konnte.

Das erste Panel wurde durch einen Vortrag von LUKA ILIĆ (Ev. Landeskirche Württemberg) eröffnet, der sich überblicksartig den Einflüssen der deutschen Reformationen auf den südosteuropäischen Raum widmete. Er zeigte anhand mehrerer Beispiele auf, welche Bedeutung der überregionale Austausch für die Reformationsgeschichte der Frühen Neuzeit besaß. An Primus Trubers Beispiel konnte für Slowenien, an Matthias Flacius, genannt Illyricus, für Kroatien aufgezeigt werden, dass das Luthertum – mit Ausnahme Ungarns – den zentralen Bezugspunkt für die südost- und mittelosteuropäische Reformation darstellte. Zugleich lässt sich auch ein Wandlungsprozess von der zunächst deutschen hin zu landesspezifischen Sprachen feststellen. Dem Vortragenden zufolge ist dies zum Teil aus dem Bildungsstreben der Menschen heraus zu verstehen. Gleichwohl erwiesen sich die apokalyptischen Tendenzen der radikalen Reformation sowie die Gegenreformation von altgläubiger Seite als starke Gegenspieler des regionalen Luthertums, sodass dessen Etablierung nicht von dauerhaftem Erfolg war.

Das Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung verlassend, referierte NORBERT FRIEDRICH (Düsseldorf) anschließend über die Verbindung des deutschen und des südosteuropäischen Protestantismus am Beispiel der Diakonie und der Kaiserswerther Diakonissenmutterhäuser. Dabei legte er dar, wie sich im 19. und 20. Jahrhundert Diakonissenmutterhäuser in der Region etablierten und wie sie wirkten. In dieses Netzwerk eingebunden, standen sie zugleich in einem spannungsvollen Verhältnis zu den lokalen Gemeinden, die den Konzepten aus Deutschland teilweise eigene Erwartungen entgegensetzten. Wie an den Beispielen Bukarest und Budapest verdeutlicht wurde, stellten sie einen bedeutenden Faktor für die Bildungsarbeit vor Ort dar, zumal unter der deutschsprachigen Bevölkerung und den lokalen Frauen. Als zweites Arbeitsfeld, das mit dem ersten eng verknüpft war, wurde der religiöse Bildungsanspruch im Rahmen der Erweckungsbewegung betont und, damit einhergehend, das wachsende Interesse daran, die Diakonissen aus der Bevölkerung vor Ort rekrutieren zu können. Da aber die Einrichtungen – bedingt u.a. durch den Zweiten Weltkrieg und die darauf folgende sozialistische Politik – nicht die dauerhafte Unterstützung der Staaten und Bevölkerungen gewinnen konnten, blieb eine erfolgreiche Etablierung vor Ort aus.

Die Teilnehmenden folgten im zweiten Panel dem Vortrag von BÉLA MAKKAI (Budapest), der sich mit dem Spannungsfeld religiöser und nationaler Identität in ungarisch-reformierten Gemeinden in Slawonien und Fiume zwischen 1868 und 1918 befasste. Er stellte an zwei entgegengesetzten Beispielen – Slawonien und Rijeka – dar, wie die reformierte Kirche Ungarns mit der Diasporasituation und der Multiethnizität in den jeweiligen Regionen umging. Dies konnte sich in Rijeka, so betonte der Vortragende, in einem multilingualen, nicht getrennten Gemeindeleben niederschlagen. Zugleich war aber auch die zunehmende Ausgrenzung bestimmter nicht-ungarischer Gruppen wie etwa der deutschsprachigen möglich. In Slawonien dagegen funktionierten die reformierten Kirchengemeinden ausschließlich auf Ungarisch, und die ungarische reformierte Kirchenleitung unterstützte – trotz gelegentlichem Widerstand – die von der ungarischen Regierung initiierten Maßnahmen, die sich die Erhaltung und Stärkung der ungarischen Identität unter der ungarischen Bevölkerung zum Ziel setzten. Diese Aktionen waren nach Makkai aber auch durch die ablehnende Haltung des kroatischen, römisch-katholischen Klerus begründet, der der Einwanderung kritisch gegenüberstand und auf eine Kroatisierung der entsprechenden Gruppen hoffte.

Den Auftakt des zweiten Workshop-Tags bildete der Vortrag von ANNA BISCHOF (München), der die Arbeit des Gustav-Adolf-Vereins in der Slowakei in der Zwischenkriegszeit unter den Blickpunkten nationaler und konfessioneller Fragestellungen beleuchtete. Die Vortragende widmete sich zunächst der Frage, wie der Gustav-Adolf-Verein (GAV), der protestantische Gemeinden in der Diaspora unterstützte, mit den Spannungen zwischen überethnischer religiöser Identität und der Identität der Deutschen im slowakischen Luthertum umging. Als zentrales Paradigma zur Erklärung dieser Spannungen benutzte Bischof dabei den Begriff der „doppelten Diaspora“, also der Diaspora als Lutheraner und als Deutsche. Die Nähe des GAV zum „Deutschtumsbund“, in der NS-Zeit zum Auswärtigen Amt der Deutschen Evangelischen Kirche, sowie seine besondere Unterstützung deutscher Gemeinden in der Slowakei weisen auf seine Präferenz für die Deutschtumsarbeit hin. Allerdings stellte der GAV gleichzeitig seine Zahlungen an slowakisch-lutherische Gemeinden – entgegen dezidierter Forderungen – nicht ein, sodass die Vortragende die Ambivalenz der Arbeit des Vereins für diese Zeit betonen konnte.

Bei der Arbeit des GAV verbleibend, widmete sich der zweite Teil dieses Panels der Unterstützung protestantischer Gemeinden durch den GAV in Regionen im heutigen Bosnien und Herzegowina, in Kroatien sowie in Serbien und in Slowenien. ANGELA ILIĆ stellte für die verschiedenen Länder dar, wie sich der Verein jeweils für die einzelnen Gemeinden einsetzte. Sie machte dies besonders an der Unterstützung von Kirchenbauvorhaben deutlich, die der GAV finanziell bezuschusste und die die Sichtbarkeit der in Minderheit lebenden Protestanten in den jeweiligen Gesellschaften erhöhten. Zugleich bot der GAV geistliche Unterstützung und Solidaritätsgefühl an, was sich teilweise an der Vernetzung von Glaubensgenossen aus ganz Europa zeigte. Die Fragestellungen deutschnationaler religiöser Identität in einigen Kirchengemeinden standen im Mittelpunkt, diese spielten gleichzeitig jedoch in zahlreichen Kontexten bis zur Zwischenkriegszeit kaum eine Rolle, da viele der (besonders städtischen) Kirchengemeinden in der Diaspora ethnisch plural und nicht monolithisch strukturiert waren. Die Vortragende wies allerdings auch auf die noch vorhandenen Lücken im Forschungsstand zur Geschichte des GAV in der Region hin.

Das letzte Panel eröffnete der Vortrag von KARL W. SCHWARZ (Wien), der sich mit der Person und dem Wirken Gerhard Mays befasste. Der Vortragende zeigte dabei, wie der ab 1944 österreichische Bischof sich vor, während und nach der NS-Zeit verhielt. Dazu skizzierte er die Lage des Protestantismus im Königreich Jugoslawien, das nicht nur konfessionell (lutherisch sowie reformiert), sondern auch in ethnischer und sprachlicher Hinsicht geteilt war. Schwarz betonte dabei, dass die Arbeit Mays, zunächst als Kulturreferent des Schwäbisch-deutschen Kulturbundes in Cilli (sl. Celje), sich auf die Volksdeutschen hin ausrichtete und dabei stark von den Theologien Werner Elerts und Paul Althaus geprägt war. Daneben war der Kulturreferent Cillis aber auch stark vom GAV beeinflusst: Er war fromm und er war anti-slowenisch eingestellt, da er die Slowenisierung der Deutschen fürchtete. Nach seiner Ernennung zum österreichischen Bischof vollzog May eine gewisse Wende: Er trieb die Austrifizierung und Entpolitisierung der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich voran. Diese verließ die Deutsche Evangelische Kirche und gliederte sich an den entstehenden Weltkirchenrat sowie den internationalen Protestantismus an.

KARL-REINHART TRAUNER (Österreichisches Bundesheer) legte im zweiten Teil des Panels dar, wie es zu Entstehung und Niedergang der deutschsprachigen protestantischen Gemeinde in Marburg (sl. Maribor) kommen konnte. Durch die Frühindustrialisierung kam es zu verstärkter Zuwanderung deutscher Protestanten in die Gegend Marburgs, die dort eine Gemeinde gründeten. Die Stadt stand somit im Zentrum der Pastorisierung des sie umgebenden Landes. Zugleich fand sich ihre evangelische Gemeinde häufig auch im Einflussbereich politischer Interessen wieder. Die „Los-von-Rom“-Bewegung nutzte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die evangelische Identität teilweise als Gegenkonzeption zum römisch-katholischen Einfluss; zugleich fand eine Annäherung der hauptsächlich aus Reichsdeutschen bestehenden Gemeinde an die Theologie und Ideologie des Deutschen Reiches statt. Dies zeige sich auch an dem gestiegenen Minderheitenbewusstsein nach 1920, vor allem in der NS-Zeit. Aus dieser Annäherung lässt sich die Marginalisierung des deutschen Gemeindeteils nach 1945 erklären.

Den Workshop abschließend referierte DANIELA SIMON (Tübingen) zum Thema des Protestantismus im mehrheitlich römisch-katholischen, Unabhängigen Staat Kroatien zwischen 1941 und 1945. Sie stellte sich dabei der Frage, wie sich die Religion als Faktor im Legitimationssystem des faschistischen Kroatien verhielt. Die zentrale Rolle spielte dabei von Seiten des Staates der römische Katholizismus, was protestantische Repräsentanten als Benachteiligung empfanden. An der Umsiedlung und Zwangskonversion serbisch-orthodoxer Christinnen und Christen zeigte die Vortragende auf, dass es aufgrund der Mitarbeit der Deutschen Evangelischen Kirche in Kroatien an diesen Aktionen zu Spannungen zwischen ihr und der Kirche im Deutschen Reich kam. Simon führte dies auf die Kontakte der NS-Regierung zur Serbisch-Orthodoxen Kirche zurück, die sich die NS-Regierung als Bündnispartnerin gegen die serbischen Partisanen erhoffte. Zugleich bildete der Protestantismus eine Alternative für in Kroatien lebende Serben, um sich gegen ihre Kroatifizierung in der römisch-katholischen Kirche zu wenden, welche durch den Staat stärker instrumentalisiert wurde.

Zuletzt resümierte ANGELA ILIĆ als Auftakt der Abschlussdiskussion die gehaltenen Vorträge und betonte deren additiven Charakter. Sie wies daraufhin, dass deutlich geworden war, wie die einzelnen Beiträge, trotz verschiedenster Themen und Länder, ein europäisches Netzwerk sichtbar machen. Gleichwohl war auch evident geworden, dass dieses Netzwerk weiterhin breite Forschungslücken aufweist und der Workshop somit als Orientierungsgröße für weitergehende Arbeiten und Forschungsprojekte über den Protestantismus in Ostmittel- und Südosteuropa gelten kann.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung:

Martin Schulze Wessel (München) / Angela Ilić ( München)

Panel I

Moderation: Heiner Grunert (München)

Luka Ilić (Stuttgart): Deutsche Spuren in der Reformation in Südosteuropa

Norbert Friedrich (Düsseldorf): Die südosteuropäischen Mutterhäuser – ein diakonisches Netzwerk

Panel II

Moderation: Claus Spenninger (München)

Béla Makkai (Budapest): Religious and National Identity in the Protestant Mission Churches of Slavonia and Fiume in the Dual Monarchy

Panel III

Moderation: Pascal Trees (München)

Anna Bischof (München): Zwischen konfessionellen und nationalen Interessen. Überlegungen zum Engagement des Gustav-Adolf-Vereins in der Slowakei in der Zwischenkriegszeit

Angela Ilić (München): Das Engagement des Gustav-Adolf-Vereins auf dem Gebiet des heutigen Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Serbien und Slowenien, 1854-1945. Bestandaufnahme und Forschungsdesiderate

Panel IV

Moderation: Frank Krauss (München)

Karl W. Schwarz (Wien): Gerhard May und die evangelische Diaspora im Königreich Jugoslawien

Karl-Reinhart Trauner (Wien): Berührungspunkte der Evangelischen Marburgs/Maribors mit Deutschland (1862-1945)

Daniela Simon (Tübingen): „Stiefmütterliche Behandlung“ und „Zurücksetzung“. Der Protestantismus im Unabhängigen Staat Kroatien (1941 – 1945)

Resümee und Abschlussdiskussion

Angela Ilić (München)


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