Gedächtniskultur und Erinnerungspolitik im ostmittel- und südosteuropäischen Kontext

Gedächtniskultur und Erinnerungspolitik im ostmittel- und südosteuropäischen Kontext

Organisatoren
Forum Ostmittel- und Südosteuropa (FOSE)
Ort
Basel
Land
Switzerland
Vom - Bis
23.04.2005 -
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Von
Stefan Wiederkehr, Deutsches Historisches Institut/Universität Konstanz

Unter dem Titel „Gedächtniskultur und Erinnerungspolitik im ostmittel- und südosteuropäischen Kontext“ führte das Forum Ostmittel- und Südosteuropa (FOSE) am 23. April 2005 sein viertes Arbeitstreffen durch. Das FOSE setzt sich zum Ziel, Nachwuchsforschende verschiedener Disziplinen, die sich in der Schweiz mit dem Gebiet Ostmittel- und Südosteuropa beschäftigen, zusammenzuführen und international zu vernetzen.1 Organisatoren des aktuellen Treffens, das am Historischen Seminar der Universität Basel stattfand, waren Kaspar Näf (Basel) und Daniel Ursprung (Zürich).

Das Vorgehen, den ersten Teil der FOSE-Arbeitstreffen als Diskussion über einschlägige Theorietexte 2 zu gestalten, bewährte sich einmal mehr. In der intensiven Debatte stellten einige Teilnehmende die Möglichkeit eines „kollektiven Gedächtnisses“ im Namen des Individuums grundsätzlich in Frage. Während über die Bedeutung der Historiographie als Teil der Erinnerungskultur Konsens herrschte, blieben die Konsequenzen, die sich daraus für die wissenschaftliche Arbeit und die Forschungspraxis von Historikerinnen und Historikern ergeben, kontrovers.

Den zweiten Teil bildeten vier Referate zu Fallbeispielen. Stefan Rohdewald (Passau), der an einer größeren Studie über religiöse Erinnerungsorte der Südslawen arbeitet, machte deutlich, wie Heilige im Hinblick auf gegenwärtige nationale Interessen instrumentalisiert werden können. Als Beispiel dienten ihm Reden und Fachpublikationen bulgarischer Historiker der 1930er und frühen 1940er-Jahre über Kliment von Ochrid und die Slavenapostel Kyrill und Method, die ein von deutschen Vorbildern inspirierter nationalistischer Diskurs durchzieht. Auch in der sozialistischen Periode verloren die Nationalheiligen ihren Platz in der bulgarischen Erinnerungspolitik nicht. Der Umbruch der späten 1980er-Jahre führte jedoch zu einer Reintensivierung religiös-nationaler Erinnerungsfiguren. Orientieren sich einzelne Vertreter der heutigen bulgarischen Geschichtsschreibung unkritisch an nationalistischen Positionen aus der Zeit vor der Sowjetisierung, lassen andere Publikationen einen reflektierten Umgang mit dem historiographischen Erbe der 1930er und 1940er-Jahre erkennen.

Am Beispiel des jüdischen Generalobersten David Abramovič Dragunskij (1910-1992), der im 2. Weltkrieg eine Panzerdivision der Roten Armee befehligte und schwer verwundet wurde, beschäftigte sich Carmen Scheide (Basel) mit der Aufarbeitung der Judenvernichtung in der Sowjetunion. Von 1943 bis zum Ende der Sowjetzeit wurden die verschiedenen Opfergruppen in der offiziellen Erinnerungspolitik nivelliert, d. h. ein besonderes Schicksal der Juden geleugnet. Daher konnte das „Schwarzbuch“, das Il’ja Ėrenburg und Vasilij Grossman im Auftrag des Jüdischen Antifaschistischen Komitees vorbereitet hatten, um die Judenvernichtung auf dem Gebiet der Sowjetunion zu dokumentieren, erst während der Perestrojka erscheinen.3 Nur in der Belletristik und in jiddischsprachigen Publikationen mit kleinen Auflagen war die Erinnerung an die Vernichtung der sowjetischen Juden möglich. Auch Dragunskij, der sich bei Kriegsende mit einem Brief an das Jüdische Antifaschistische Komitee um die Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden seiner Heimatstadt – darunter seine eigene Familie – bemüht hatte, musste die offizielle literarische Norm erfüllen, damit seine Memoiren 1980 erscheinen konnten.4 Bei einer präzisen Analyse des Textes von „Jahre im Panzer“ wird jedoch immer wieder der Konflikt zwischen der offiziellen Gedächtniskultur und dem unterdrückten Teilgedächtnis deutlich.

Gegenstand des Beitrages von Kaspar Näf (Basel) war der 16. März, der Gedenktag der Veteranen der lettischen Waffen-SS, an dem sich die ausschließenden Erinnerungskulturen von Letten einerseits, sowie Russen und westeuropäischen Beobachtern andererseits aufeinanderprallen. Der Referent machte zunächst deutlich, dass es sich bei der Aufstellung der so genannten Lettischen SS-Freiwilligen-Legionen in Wirklichkeit um eine Zwangsmobilisation handelte, die die Haager Konvention von 1907 verletzte. Dem ist entgegenzuhalten, dass die lettische Nationalhistoriographie bisher der Frage auswich, inwieweit die lettischen Legionäre
der Waffen-SS an der Ermordung von Juden bei der Auflösung von Konzentrationslagern beteiligt waren. Der umstrittene Gedenktag erinnert an die Schlacht vom 16. bis 19. März 1944, in der die lettischen Legionäre die Hochebene am Ufer der Velikaja gegen die vorrückende Rote Armee halten konnten. Da die Kampfhandlungen außerhalb der Grenzen Lettlands stattfanden, kann die lettische Interpretation, dass die Legionäre das Vaterland verteidigt hätten, nur bedingt übernommen werden. Im Exil beging die Veteranen-Organisation Daugavas Vanagi (Dünaer Habichte) den 16. März seit 1952, seit 1989 dann auch in Lettland selbst, ohne damit Aufsehen zu erregen. Erst Ende der 1990er-Jahre richtete sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Umzug – nachdem Russland diesen am 20. März 1998 als „Faschisten-Ehrung“ angeprangert und wenige Tage später am deutsch-französisch-russischen Gipfel den Sukkurs des deutschen Bundeskanzlers erhalten hatte. Dieser Schritt Moskaus ist freilich vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Russland und Lettland um die lettische Minderheitenpolitik zu sehen, die kurz zuvor eine neue Eskalationsstufe erreicht hatten. Seitdem das lettische Parlament 1999 den 16. März zum Gedenktag für sämtliche am 2. Weltkrieg beteiligten Veteranen erklärte, kommt es unter den Augen der internationalen Medien jeweils zu Demonstrationen und Gegendemonstrationen. Seit 2002 verzichteten die lettischen Waffen-SS-Veteranen auf ihren Umzug zum Freiheitsdenkmal in Riga. Ihren Part übernahmen jedoch inzwischen jüngere rechtsextreme Gruppierungen, so dass sich am 16. März weiterhin unvereinbare Erinnerungen auf der Strasse manifestieren. Bemerkenswert ist dabei, dass die meisten westeuropäischen Beobachter die russische Empörung über die kollektive Erinnerung der Letten und damit letztlich die sowjetische Interpretation des 2. Weltkrieges im Baltikum übernommen haben.

Der Literaturwissenschaftler Claudio Habicht (Zürich) untersuchte den dokumentarischen GULag-Roman „Andere Welt“ des polnischen Exilautors Gustaw Herling-Grudziński.5 Herling-Grudziński, der 1939 in Litauen verhaftet und anschließend die Zeit bis 1942 als Zwangsarbeiter in Sibirien verbrachte, bemühte sich in seinem Bericht, die Lagerhaft in distanzierter Kühle zu beschreiben. Im Kontext des Kalten Krieges war „Andere Welt“ zweifellos ein antikommunistischer Text: Die „andere Welt“ war der GULag – nach Auffassung Herling-Grudzińskis Produkt, Spiegel und Modell der sowjetischen Gesellschaft zugleich. Da diese den Menschen insgesamt verachtete, lässt sich bei Herling-Grudziński keine Privilegierung der polnischen Opfer erkennen. Vielmehr entwirft der Autor ein differenziertes Russlandbild, in dem er zwischen dem sowjetischen Herrschaftssystem, an dessen Ablehnung er keinen Zweifel lässt, und der positiven Begegnung mit einzelnen russischen Menschen unterscheidet. In Herling-Grudzińskis Lagerroman stehen somit persönliche Erfahrung, intertextuelle Bezüge zu Dostoevskijs „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ und kollektive Russlandbilder der polnischen Romantik in einem komplexen Wechselverhältnis.

Insgesamt trat am Arbeitstreffen deutlich hervor, dass kollektive Erinnerungsprozesse in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa durch die über vierzigjährige Unterdrückung von gesellschaftlichen Teilgedächtnissen geprägt sind. In der Zeit der sowjetischen Herrschaft fehlten die Voraussetzungen für die Artikulation unterschiedlicher Gruppengedächtnisse. Nach jahrzehntelangem erzwungenem Schweigen bleibt der Pluralismus der Erinnerungen im europäischen Osten beschädigt. Eine gemeinsame Publikation der Beiträge ist nicht geplant.

Anmerkungen:
1 Zu den Aktivitäten des FOSE vgl. www.osteuropa-wissenschaften.ch/fose/
2 Cornelißen, Christoph: Zur Erforschung von Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa. Methoden und Fragestellungen. In: Ders. / Holec, Roman / Pešek, Jiří (Hg.): Diktatur, Krieg, Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945. Essen 2005, S. 25-44; Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. In: Nünning, Ansgar und Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen, Ansätze, Perspektiven. Stuttgart 2003, S. 156-185.
3 Grossman, Vasilij Semenovič / Ėrenburg, Il’ja Grigor’evič (Hg.): Černaja kniga. O zlodejskom povsemestnom ubijstve evreev nemecko-fašistskimi zachvatčikami vo vremenno-okkupirovannych rajonach Sovetskogo Sojuza i v lagerjach uničtoženija Pol’šej vo vremja vojny 1941-1945 gg. Jerusalem 1980. Sowjetische Erstausg.: Kiev 1991. Dt. Erstausg.: Grossman, Wassili / Ehrenburg Ilja (Hg.): Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden. Reinbek 1994.
4 Dragunskij, David Abramovič: Gody v brone Moskva 1973. Dt. Ausg.: Jahre im Panzer. Berlin 1980.
5 Herling-Grudziński, Gustaw: Inny świat. Zapiski sowieckie. Kraków 2000 (erstmals London 1953). Dt. Ausg.: Welt ohne Erbarmen. München 2000.

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Daniel Ursprung
Forum Ostmittel- und Südosteuropa (FOSE)
daur@access.unizh.ch

www.osteuropa-wissenschaften.ch/fose/
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