Freundschaft oder "amitié"? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.-17. Jahrhundert)

Freundschaft oder "amitié"? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.-17. Jahrhundert)

Organisatoren
Dr. Klaus Oschema, Universität Bern
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
20.05.2005 - 21.05.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Nora Mathys, Universität Basel

Der vergleichende Zugriff auf "Freundschaftskonzepte" des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit in germanophonen und frankophonen Gebieten war das erklärte Ziel des Kolloquiums "Freundschaft oder 'amitié'? Ein politisch-soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.-17. Jahrhundert)", das am 20./21. Mai 2005 an der Universität Bern stattfand. Gefördert wurde die Veranstaltung durch den Nachwuchsförderungsfonds der Universität Bern.

Die kontrastierende Anlage - behandelt wurden Frankreich, das Reich und die Eidgenossenschaft - begründete der Veranstalter Klaus Oschema (Bern) einführend mit der unterschiedlichen Verwendung des Begriffs Freundschaft im französisch- und deutschsprachigen Kontext. Im Französischen liessen sich 'amitié' und 'parenté' im ausgehenden Mittelalter als differenzierbare Begriffe fassen, während in der deutschsprachigen Forschung 'Freundschaft' zur selben Zeit als gleichbedeutend mit 'Verwandtschaft' gelte1. Im Rahmen der Beiträge sollte zugleich die Epochenschwelle von 1500 überschritten werden, um mögliche Wandlungen und Kontinuitäten besser in den Blick zu bekommen, da die bisherige Forschung sich meist auf eine der beiden Epochen konzentriert habe.

Einleitend bot Klaus van Eickels (Saarbrücken) einen kenntnisreichen Überblick zu den Dimensionen des Freundschaftsphänomens im hohen und späten Mittelalter. Er wies darauf hin, dass die Begriffe Freundschaft und Liebe eng in das semantische Feld von Ehe, Verwandtschaft und Lehenstreue verwoben waren, aus dem sie nicht analytisch scharf gelöst werden können. Eine wichtige soziale und politische Funktion erfüllte der Freundschaftsdiskurs durch die Bildung eines sozialen Raums, in dem die rangfreie Kommunikation in einer agonalen Ranggesellschaft solange möglich war, wie es für sie einsichtige soziale Gründe gab. Der Bezug auf Freundschaft diente etwa der Friedenssicherung, indem mit ihm die Unversehrtheit von Körper und Besitz ("negative Konzeptionalisierung der Treue") versprochen und Hilfeleistung ("positive Konzeptionalisierung der Treue") erbittbar wurde. Van Eickels machte zudem drei Verschiebungen des Freundschaftskonzepts vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert aus: Um 1500 erweiterte sich das kategoriale System personaler Bindungen um die Option der Neutralität. Etwa um 1700 setzte eine "Privatisierung" der Freundschaft ein, welche die "Gesellschaft der Fremden" 2 ermöglichte und zugleich die Gesten der Freundschaft ins Private verdrängte. Nach 1900 wurden körperliche Nähegesten im Zusammenhang mit Freundschaft zunehmend als anstössig empfunden, wodurch homosozialen Beziehungen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.

Mit stärker ideengeschichtlicher Fokussierung ging Andrea Iseli (Bern) in den Texten von Bodin, Althusius, Pufendorf und Rousseau auf Spurensuche nach der politischen Dimension von Freundschaft. Bodin und Althusius wies sie als noch im mittelalterlichen Denken verhaftet aus, da für beide Freundschaft, verstanden als gegenseitige Achtung und Verbundenheit, in der menschlichen Natur angelegt sei und den Zusammenhalt der Gemeinschaft erklären konnte. Pufendorf hingegen zeichnete das Bild eines selbstverliebten und schwachen Menschen, der die Vergesellschaftung durch Vertrag sichern müsse. Seit dem 17. Jahrhundert nahmen damit die Aspekte Eigentum und Freiheit in der Staatslehre die zentrale Position ein, während der Erklärungswert von Freundschaft als vergesellschaftendem Bewegrund mehrheitlich verdrängt wurde.

Freundschaft im Kontext der Friedenssicherung diskutierte am Beispiel des spätmittelalterlichen Frankreich Nicolas Offenstadt (Paris). In den diplomatischen Verhandlungen zu Beginn des 15. Jahrhunderts (Armagnakenkriege im Inneren und Hundertjähriger Krieg gegen England im Äusseren) waren Bezüge auf Freundschaft, Liebe und Brüderlichkeit ('fratérnité') omnipräsent. Freundschaft und Liebe sollten die Basis für Friedensschlüsse bilden - analytisch schlug Offenstadt das Bild des "Schenkens" beider vor, das die Auffassung der Zeitgenossen geprägt habe. Unter Rückgriff auf Überlegungen Luc Boltanskis 3 sprach er von einem Ideal der Agape - eines reinen Friedenszustands, in dem frühere Konflikte aus dem Gedächtnis gelöscht würden. Als öffentlichkeitsorientiertes Phänomen musste diese Freundschaft durch Symbole, Gesten und rituelle Handlungen deutlich sichtbar gemacht werden.

Jérémie Foa (Lyon) widmete sich dann einer Zeit, als derlei symbolische Handlungen problematisch geworden waren: In zahlreichen Städten schworen sich während der französischen Religionskriege Katholiken und Protestanten Freundschaft in Form eines Vertrags. Dessen Abschluss geschah öffentlich, jedoch ohne feierliche rituelle Einbettung, da zwischen den beiden Konfessionen die hierzu nötige Grundlage entfallen war. Die vor allem aus kleinen und mittleren Städten des Rhonetals bekannten Verträge garantierten die Unterlassung jeglicher Schadenszufügung an Körper und Besitz und wurden zur Bekräftigung lediglich unterschrieben. Sie begründeten keine persönliche Freundschaft, sondern eine kollektive, die in der Wendung gegen "Fremde" - Soldaten und Diebe - geschlossen wurde. Sie diente zugleich dazu, dem König die harmonische Einheit der Einwohner zu demonstrieren und somit ein regulierendes Eingreifen zu verhindern, so dass sie zur inneren wie äusseren Sicherung der Stadt geschlossen wurde.

Ohne Feindschaft gibt es auch keine Freundschaft, so Claudia Garnier (Münster). Die von ihr untersuchten, urkundlich fixierten Freundschaftsbündnisse im Reich des 13. Jahrhunderts nannten häufig die potentiellen Gegner einer geschlossenen Allianz. Diese Freundschaften waren daher politisch-strategisch, situativ bedingt und zumeist zeitlich begrenzt; sie konnten sowohl vertikal als auch horizontal strukturiert sein, wobei eine vertikale Ausrichtung zumeist eine Auszeichnung für den Rangniederen bedeutete. Die öffentliche Sichtbarkeit war auch hier zentral, da Freundschaft nur als Auszeichnung funktionieren und den Unterstützungswillen stimulieren konnte, wenn sie von Aussenstehenden wahrgenommen wurde. Vor allem die Kombinationsmöglichkeiten zwischen Freundschaftsbünden und Verwandtschaft durch Eheschluss, die das Kumulieren mehrerer Bindungsebenen erlaubten, sprechen gemäss Garnier dafür, Freundschaft und Verwandtschaft im Reich des 13. Jahrhunderts als nahezu identische Begriffe zu betrachten.

Das Mittelalter dachte, so Klaus Oschema (Bern), in einem dualen Freund-Feind-Schema, konnte also die für uns heute so geläufige Dreiheit Freund-Feind-Neutralität nicht kategorial greifen. In religiös-theologischen, historiographischen und literarischen Texten des Mittelalters wird das "ne uter" als Unentschlossenheit verstanden und damit negativ besetzt. Die Unentschiedenheit förderte für die Zeitgenossen das Misstrauen; Liebe und Freundschaft hingegen setzten eine klare Haltung voraus, die auch von aussen erkennbar sein sollte. Eine eigene Kategorie der "Neutralität" ist im Französischen erst im Laufe des 15. Jahrhunderts zu fassen und wurde als politische Option zumal aus bürgerlicher Perspektive modelliert. Sie erweiterte damit langsam ein Denksystem, das zuvor faktische Neutralität nur als Ergebnis vorgängiger Mehrfachbindungen gekannt hatte, die sich gegenseitig aufhoben. Der kategoriale Wandel habe dabei den Rahmen des Politischen überschritten und Rückwirkungen auf die Wahrnehmung personaler Bindungen allgemein gehabt.

Standen bisher Frankreich und das Reich im Vordergrund der Betrachtungen, so wandten sich die letzten beiden Vorträge der Eidgenossenschaft zu. Michael Jucker (Münster) charakterisierte die Freundschaften in der mittelalterlichen Eidgenossenschaft als Zwangsgemeinschaften, denn Freundschaft wurde in asymmetrischen Beziehungen auch eingefordert und als Druckmittel eingesetzt. Die Freundschaft deutete dabei in die Vergangenheit als der Tradition verpflichtend und in die Zukunft als Hoffnung auf harmonische Kooperation. Die Formel "lieb freunde und eidgenossen" wurde nicht nur in den Korrespondenzen mit Angehörigen der Eidgenossenschaft verwendet, sondern nahm im Umgang mit denjenigen, die nicht an der Tagsatzung vertreten waren, eine Brückenfunktion zur stärkeren Bindung ein.

In den staatsrechtlichen Verträgen, die die Aussenbeziehungen der Eidgenossenschaft in der Frühen Neuzeit umfassen, war der Begriff Freundschaft in allen vier Sprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch und Latein) omnipräsent und wurde in einer vergleichbaren Weise verwendet, so Andreas Würgler (Bern). Das Wort erschien häufig in Kombination mit "Vertrag", "Allianz" und "Bündnis" und wurde mit "Nachbarschaft", "Friede", "Treue" und "Liebe" ergänzt, wobei die letzteren Begriffe aus der Burgrechts-Terminologie herzuleiten seien. Die Freundschaft erschien in der Korrespondenz als asymmetrische Anredeformel: Diplomaten, die für die Interessenswahrnehmung bezahlt wurden, bezeichnete man als Freunde. Die solchermassen Angesprochenen waren in der Eidgenossenschaft teilweise auch negativ als "Kronenfresser" bekannt. Die Beziehungsgeflechte wurden, ähnlich wie von Garnier für das Reich beschrieben, mit Verwandtschaftsbeziehungen gefestigt, etwa durch Patenschaften. Aufgrund der konfessionsübergreifenden Struktur der Eidgenossenschaft wurde die Freundschaft nach Innen nicht gemeinsam eidlich befestigt, sondern in der Begrüssungszeremonie der Tagsatzung als Element des Zusammenhalts heraufbeschworen. Würgler betonte die Offenheit des Freundschaftsbegriffes und seine aufscheinende emotionale Bedeutung.

In den ausführlichen Diskussionen wurde auf die Freiwilligkeit und Emotionalität als zentrale Aspekte der Freundschaft über die Zeit hinweg hingewiesen. Dabei sei, so van Eickels, die Frage nach der Echtheit oder Falschheit der Emotionen wenig ergiebig, da die Demonstration und Interaktion in Ritualen der Freundschaft auch Emotionalität erzeugten. Der ritualfeindliche Zug der Reformation führte hier zu einem Bruch, da das Referenzsystem insgesamt in Frage gestellt wurde. Mit der 'Verstaatlichung' und Verrechtlichung verlor die Freundschaft ihre politische Funktion zunehmend, was zugleich zu ihrer "Entlastung" führte. Die Freundschaftsterminologie ist auf der Völkerrechtsebene aber bis heute präsent, wobei im zeitlichen Verlauf die Differenzierung zwischen personalen und institutionellen Bindungen immer markanter aufscheint. Die Diskussion um die Begriffe der Verwandschaft und Freundschaft wird auch noch weiter intensiv zu führen sein: Im französischen Sprachgebrauch sind 'amitié' und 'parenté' eng verwobene, aber nicht identische Konzepte. Die deutschen Entsprechungen bereiten, so zeigten die Voten der DiskutandInnen deutlich, wesentlich grössere Deutungsprobleme. Die begrenzte Teilnehmerzahl, der enge thematische Fokus und vor allem die Konzeption als Workshop, die engagierte Diskussionen ermöglichte, erwiesen sich als sehr ergiebig, so dass man auf den geplanten Tagungsband gespannt sein darf.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Simon Teuscher, Bekannte - Klienten - Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln/Weimar/Wien 1998 (= Norm und Struktur, 9).
2 Gerhard Vowinckel, Verwandschaft, Freundschaft und die Gesellschaft der Fremden. Grundlagen menschlichen Zusammenlebens, Darmstadt 1995.
3 Luc Boltanski, L'Amour et la Justice comme compétences. Trois essais de sociologie de l'action, Paris 1990.

Kontakt

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Universität Bern
Historisches Institut
Abt. für mittelalterliche Geschichte
Unitobler
Länggassstr. 49
CH - 3000 Bern 9