Historikertag 2002: Gesellschaftspolitische Zukunftsentwürfe zwischen 1890 und 1940 im europäischen Vergleich

Historikertag 2002: Gesellschaftspolitische Zukunftsentwürfe zwischen 1890 und 1940 im europäischen Vergleich

Organisatoren
44. Deutscher Historikertag
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2002 -
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Von
Moritz Föllmer, Berlin

Zwischen dem späten 19. Jahrhundert und dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Zukunftsdenken eine Konjunktur, die sich in vielfältigen Diskursfeldern und Politikbereichen manifestierte. Theoretiker und Praktiker unterschiedlicher Provenienz suchten nach radikalen Wegen, um die zunehmend als unvollkommen und zerrissen wahrgenommene Gegenwart der europäischen Gesellschaften zu überwinden. Die von Wolfgang Hardtwig (Berlin) und Lucian Hölscher (Bochum) geleitete Sektion stellte einige Probleme und Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit Zukunftsentwürfen zur Diskussion. Der deutsche Fall stand dabei - bedingt durch zwei kurzfristige Absagen von Referenten - im Vordergrund, aber der Blick richtete sich auch auf die Sowjetunion und das koloniale Afrika.

In seinem einführenden Referat stellte Hardtwig zunächst einige Beispiele des Zukunftsdenkens seit 1890 vor, die alle um das Wunschbild einer Welt ohne soziale Konflikte und kulturelle Differenzen kreisten. In einem zweiten Schritt unterschied er sechs Forschungsfelder, in deren Rahmen die Konjunktur utopischer Vorstellungen untersucht werden kann: der "Neue Mensch", der sozialwissenschaftliche Utopiediskurs, social engineering und Planungseuphorie, politische Religiosität, die Krise des Historismus und schließlich die Erweiterung der räumlichen Horizonte des Denkens in einer zunehmend global geprägten Epoche.

Rüdiger Graf (Berlin) widmete sich dem Verhältnis der Weimarer Parteien zur Zukunft und verband dies mit der These, daß die zeitgenössischen utopischen Vorstellungen nicht einseitig als Folge einer fundamentalen Krise verstanden werden dürften, sondern daß sie umgekehrt erst die verbreitete Krisenwahrnehmung produziert hätten. Bei seiner Analyse von Presseartikeln machte er unterschiedliche Zeitdimensionen, Gestaltbarkeitsannahmen und Gewißheitsgrade aus. Die Deutungskonkurrenz um die Zukunft gewannen die Nationalsozialisten nicht aufgrund bestimmter Inhalte, sondern durch ihren Aktivismus, ihre Naherwartung und ihre prophetische Grundhaltung, mit denen sie sich deutlich vom längerfristigen Erwartungshorizont der republikanischen Parteien, aber auch vom stärker an bestimmte Bedingungen geknüpften kommunistischen Utopismus abhoben. In der Diskussion wurde verschiedentlich nach Differenzierungen zwischen verschiedenen Zeitphasen und Krisenerscheinungen gefragt.

Afrika als "leerer Raum" europäischer Zukunftsvorstellungen war das Thema des Vortrags von Dirk van Laak (Jena). Mit dem Wandel des kolonialen Denkens von der einfachen Ausbeutung zu komplexeren Formen der Erschließung avancierte der Kontinent zum Experimentierfeld technokratischer Visionen, europäischer Kooperationspläne und ethnischer Umgestaltungen - eine Konstellation, die über den Zweiten Weltkrieg hinaus fortwirkte. Die Fragen aus dem Publikum bezogen sich auf den Übergang zur postkolonialen Epoche, auf den Zusammenhang mit der Kolonialpolitik in anderen Kontinenten sowie auf weitergehende ideengeschichtliche Bezüge.

Dietmar Neutatz (Düsseldorf) behandelte Bau und Eröffnung der Moskauer Metro als Exempel für den Versuch der sowjetischen Führung, das tägliche Leben umzugestalten und einen "Neuen Menschen" zu schaffen. Durch die Mitwirkung an diesem Prestigeprojekt sollten Landbewohner zu Industriearbeitern werden und dabei dem Alkohol abschwören, sich gesellschaftlich engagieren und an ihrem inneren kulturellen Wachstum arbeiten. Die Ergebnisse blieben allerdings bescheiden, denn der Eigensinn der Arbeiter ließ sich auch durch Propaganda und harte Sanktionen nicht brechen; der "Neue Mensch" war nur auf der Ebene der offiziellen Inszenierungen Realität. In der Diskussion wurde nach dem Verhältnis zu Amerika und den dortigen U-Bahnbauten sowie nach der Beziehung zwischen Diskurs und architektonischer Umsetzung gefragt.

In seinem Abschlußreferat <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2002/hoelscher_zukunftsforschung.pdf> widmete sich Hölscher einigen übergreifenden Problemen. Er betonte dabei die Zukunftsbedürftigkeit moderner Gesellschaften, in denen strukturelle Probleme einen Druck zur Produktion immer neuer utopischer Vorstellungen erzeugten, um überhaupt Veränderungen legitimieren zu können, verwies auf die Brüchigkeit historischer Kontinuitäten und etablierter Orientierungen im 20. Jahrhundert, fragte nach der Reichweite und gesellschaftspolitischen Prägekraft vergangener Zukunftsvorstellungen und skizzierte eine Historisierung des Zukunftsbegriffs, der sich seit dem 18. Jahrhundert mit einer Öffnung des Zeithorizonts verbunden habe. Abschließend schlug er vor, das utopische Denken entlang der Grundprobleme der Faktizität, der Zeitpunktbestimmung, der unterschiedlichen Methoden des Blicks in die Zukunft und der Haltbarkeit von Prognosen zu untersuchen.

In der allgemeinen Diskussion zielten einige Fragen auf die Überprüfung der vorgestellten Interpretationen, wobei auf die Schrumpfung von Zukunftsvorstellungen nach 1945 und auf Unterschiede zwischen nationalsozialistischem und kommunistischem Zeitverständnis verwiesen wurde. Eine Reihe weiterer Beiträge regte an, die Utopien noch stärker zu kontextualisieren und die Wechselbeziehungen zur Konstruktion von Kollektivität, zu neuen Formen der Massenmobilisierung, zu politischen Ereignissen, zu Deutungen der Vergangenheit, zum Menschenbild sowie zu den schwierigen Realisierungsbedingungen von Zukunftsvorstellungen im 20. Jahrhundert in den Blick zu nehmen. Abschließend betonte Hardtwig, daß das Thema der Sektion in einem weiteren Sinne die Frage nach dem Verhältnis der gegenwärtigen Gesellschaft zu Vergangenheit und Zukunft aufwerfe und damit auch das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft berühre.

Kontakt

Dr. des. Moritz Föllmer
Institut für Geschichtswissenschaften
Humboldt-Universität zu Berlin
moritzfoellmer@aol.com

http://www.historikertag.de
Redaktion
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