Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion? Eine Bestandsaufnahme

Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion? Eine Bestandsaufnahme

Organisatoren
Detlef Pollack, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Matthias Pohlig, Humboldt-Universität zu Berlin; Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.05.2018 - 12.05.2018
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Von
Andreas Häckermann, Humboldt-Universität zu Berlin; Kai Gräf, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg

Wer heute nach der Genese „der Moderne“ fragt, ohne den Begriff in dicke Anführungszeichen zu setzen, steht schnell im Verdacht, überkommene Theorien wiederaufleben zu lassen. Schon deshalb darf mutig genannt werden, wer genau diese Frage zum Thema einer wissenschaftlichen Tagung macht, sie mit der Weberschen Gretchenfrage nach der Religion verbindet und dann zusätzlich noch mit dem metaphorischen Ballast der Nietzscheanischen „Geburt aus dem Geiste“ belädt: „Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion?“ lautete der Titel der vom Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Politik“ veranstalteten Konferenz, die Historiker, Soziologen, Germanisten, Philosophen und Theologen zusammenbrachte, um über ein so altes wie aktuelles Problemfeld zu diskutieren.

Zwar sind, wie DETLEF POLLACK (Münster) und MATTHIAS POHLIG (Berlin) in ihren Einführungen betonten, die klassischen Modernisierungstheorien inzwischen aus der Mode gekommen, die Probleme, auf die sie reagierten, jedoch „weder gelöst noch verschwunden“. Die Emergenz der modernen Welt bleibe auch dann erklärungsbedürftig, wenn man im Bewusstsein ihrer Komplexität von multiple modernities spreche und holistischen Erklärungsansätzen mit der berechtigten Skepsis begegne. Wie Pohlig und Pollack herausstellten, orientiert sich die Diskussion um den Nexus von Moderne und Religion noch immer an drei zentralen Denkfiguren: Während die These vom „Epochenbruch“ (Hans Blumenberg) die Eigenständigkeit der Neuzeit gegenüber der Religion betont, nehmen Anhänger eines evolutiven Modells im Sinne Charles Taylors eher eine Transformation des Religiösen unter den Bedingungen der Moderne an. Klassische soziologische Theorien wiederum versuchen, mit Blick auf die Mechanismen der Selbstorganisation ein Verständnis der Moderne aus sich selbst heraus zu gewinnen: Demnach verbirgt sich hinter der „Modernisierung“ der historische Prozess einer gesellschaftlichen Differenzierung, in deren Verlauf sich „Religion“ als unterscheidbare Binnensphäre überhaupt erst herauskristallisiert hat.

Letzterer Strang war auf der Tagung überaus präsent. Dabei trafen zwei wiederum klassisch zu nennende Positionen auf einander: die systemtheoretisch-strukturfunktional argumentierende und die hermeneutisch-kulturhistorische. Aus ersterer, so legte RUDOLF STICHWEH (Bonn) dar, lasse sich erst seit 1700 überhaupt von „Religion“ als einem Subsystem der Gesellschaft sprechen. Vorher seien deren Sinnkomponenten undifferenziert mit dem kulturellen Leben selbst verwoben gewesen – so habe die Vormoderne beispielsweise weder nichtchristliche Ethiken der Lebensführung noch eine atheistische Musik gekannt. Der Differenzierungsprozess der Religion habe sich dann infolge der Entstehung einer zunehmend vernetzten Weltgesellschaft vollzogen, die sich nicht anders als lateral und offen strukturieren konnte: Der universale Sinnanspruch der christianitas musste demnach angesichts der Umstellung von lokaler, hierarchisch-geschlossener zu translokaler, sachthematisch ausgerichteter Vergesellschaftung, die die kirchliche Inklusion der Gläubigen zur Kompensation ihrer ständischen Hierarchie nicht mehr benötigte, relativiert werden.

THOMAS SCHWINN (Heidelberg) verwies demgegenüber auf die spezifisch „okzidentale Konstellation“ des Gott-Welt-Verhältnisses in der Theologie der römischen Kirche wie auch der Ethik des Protestantismus. Die Besonderheit dieses Verhältnisses, das sie von anderen Weltreligionen konstitutiv unterscheide, bestehe in der paradoxen Dualität von theologischer „Weltentwertung“ einerseits und politischem Anspruch auf universelle „Weltbeherrschung“ andererseits. So lasse sich etwa am Investiturstreit beobachten, wie die Kirche einerseits die weltliche Herrschaft radikal laisierte, ihr andererseits das Primat ihrer transzendenten Belange zu oktroyieren versuchte. Die autonome Entfaltung laizistischer Politik habe sie dadurch unfreiwillig selbst veranlasst. Dieses Muster hat sich Schwinn zufolge dann im Versuch protestantischer Ethiken wiederholt, das ökonomische Handeln einerseits als solches werthaft zu unterscheiden, es andererseits transzendenten Zwecken unterzuordnen. Insgesamt sei somit anzunehmen, dass die theologisch-kulturellen Spezifika im Transzendenz-Immanenz-Denken des westlichen Christentums die reaktive Differenzierung von Politik und Ökonomie maßgeblich veranlasst habe. Wenn also die Religion die Moderne tatsächlich geboren habe, so könne man bestenfalls von einer ungewollten Schwangerschaft sprechen.

Auch WOLFGANG LUDWIG SCHNEIDER (Osnabrück) nahm die historisch kontingenten Besonderheiten des Christentums in den Blick, indem er sich den Ursprüngen der modernen europäischen Wissenschaften in der mittelalterlichen Scholastik widmete und nach deren Entstehungsbedingungen im Vergleich zum Islam fragte. Mit Blick auf die in beiden kulturellen Entstehungskontexten erkennbaren Rekurse auf die griechische Philosophie vertrat Schneider die These, dass die zentralistische Institutionalisierung der römischen Kirche seit den gregorianischen Reformen eine theologisch auf Harmonisierung und dogmatisch-logische Widerspruchsbereinigung ausgerichtete Aneignungsform besonders der aristotelischen Texte begünstigt habe. In den dezentral koexistierenden islamischen Rechtsschulen sei hingegen der lückenlose juridisch-genealogische Beweis von moralischen Kodizes als Reflexionskultur dominant geworden. Das „griechisch-abstrakte“ Vernunftdenken früher islamischer Theologen wurde demnach im 9. Jahrhundert durch die Rechtsschulen zugunsten einer Vielzahl von Curricula, die wesentlich auf die Prüfung von Überlieferungsketten als „Instrument des Managements von Dissens“ ausgerichtet waren, marginalisiert. Hier sei die ursächliche Differenz zur Klärung der Frage auszumachen, weshalb die Entstehung einer modernen Wissenschaft im einen Fall möglich wurde, im anderen hingegen nicht.

Dem damit vorgebrachten Periodisierungsvorschlag, der die mittelalterliche Antikenrezeption als epochalen Geburtstermin der Moderne ausmachte, standen Ansätze gegenüber, die nicht den politischen Zentralisierungsprozess, sondern gerade die Bedeutung der mit der Renaissance einsetzenden „häretischen“ Bewegungen betonten, die den „Streit“ in die europäischen Gesellschaften zurücktrugen. So unternahm HANS SCHELKSHORN (Wien) den Versuch, die Formierungsphase der Moderne nach einer Überlegung von Karl Jaspers als „zweite Achsenzeit“ zu interpretieren. Ihre Entstehung müsse demnach in der Renaissance angesetzt werden, als im Gefolge der „Erosion nachachsenzeitlicher Großreiche“ religiöse Reformbewegungen und philosophische Innovationsimpulse spezifisch moderne Entwicklungen auf den Gebieten der Politik und Moral ebenso wie der Technik und Ökonomie einleiteten. Der „Streit der Schulen“, in dem Jaspers den Grund für das Scheitern der „ersten“ Achsenzeit erblickte, bleibt nach Schelkshorn auch für die „zweite Achsenzeit“ bestimmend: Auch in dieser bedrohe das aus den konkurrierenden theologischen und philosophischen Strömungen erwachsende Konfliktpotenzial die gesellschaftliche Stabilität in dauernder Latenz; das Konzept des demokratischen Rechtsstaats sei als ideengeschichtliche Antwort darauf zu begreifen.

Ebenfalls ideengeschichtlich, jedoch mit anderer historischer Verortung nahm ANSELM SCHUBERT (Erlangen-Nürnberg) die theologische „Normenkrise“ in den Blick, die ihm zufolge mit der Reformation aufbrach und bis heute nachwirkt. Als reformatorischen Kerngedanken identifizierte er die Ersetzung kirchlicher Lehrautorität durch die Setzung der abstrakten Norm des sola scriptura – einer Norm, die in ihrer Formalität allumfassend sei, inhaltlich aber unterschiedliche Konkretisierungen zulasse und damit der Zersplitterung oder Ausdifferenzierung der reformatorischen Bewegung Vorschub geleistet habe. Modern ist Luther demnach darin gewesen, die Frage nach der Norm aufgeworfen und damit den unabschließbaren „Prozess der normativen Selbstvergewisserung“ inauguriert zu haben – vormodern war er in seiner Überzeugung, die Normfrage abschließend beantworten zu können.

Flankierend dazu legte auch BRAD S. GREGORY (Notre Dame) sein Augenmerk auf die Reformation. Ähnlich wie Stichweh betonte er, das moderne Verständnis von Religion sei überhaupt erst mit den frühneuzeitlichen konfessionellen Differenzierungsprozessen entstanden. Während die mittelalterliche christianitas nämlich noch sämtliche gesellschaftlichen Sphären durchwirkt habe, beschreibe die nachreformatorische Rede von Religion diese als ein gesellschaftliches Teilsystem neben anderen. Erst mit und durch die Reformation hat sich demnach die „Erfindung“ der Religion in einem modernen Sinn vollzogen – eine Position, die PETER BEYER (Ottawa) aus systemtheoretischer Perspektive unterstützte. Aus seiner Sicht sind es allerdings weniger die Glaubensinhalte der Religion, die Modernisierungsprozesse angestoßen hätten, sondern das strukturelle Moment in der Organisation dieses religiösen Systems, das auf gesellschaftliche Differenzierungsvorgänge schrittmachend gewirkt habe.

Als neben Renaissance und Reformation dritten Datierungsansatz für die Genese der Moderne griff die Tagung die von Reinhart Koselleck vorgeschlagene Orientierung an der Wahrnehmung der Neuzeit als neue Zeit in der Perspektive der Zeitgenossen auf. Als Kennzeichen der Moderne ist demnach das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zu begreifen, das Koselleck in der von ihm sogenannten Sattelzeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verortet. Diesem Ansatz folgte im Grundsatz DANIEL FULDA (Halle), der mit Koselleck die Öffnung des Zukunftshorizonts als spezifisch modernes Phänomen annahm, diese gegen ihn aber auf den Beginn des 18. Jahrhunderts vorverlegen wollte. Anhand des Bildprogramms der Frühaufklärung – Beispiele boten Frontispize aus dem Umfeld der politisch-prudentistischen Prognostik und der historia litteraria – machte er plausibel, wie bereits um 1700 die Zukunft als eine kontingente und durch den Menschen gestaltbare wahrgenommen wurde. Bereits hier sei eine Abkehr von religiösen Geschichtsauffassungen und der Ersatz der vormals leitenden Differenz von Immanenz und Transzendenz durch jene von Vergangenheit und Zukunft zu beobachten. In der Spätaufklärung hingegen erkennt Fulda eine Reformulierung religiösen Zukunftsdenkens, wenn bei Hölderlin, Herder und Kant optimistische Zukunftserwartungen durch die Reintegration religiöse Denkmuster abgesichert werden – so etwa in Kants naturteleologischer „Vorsehung“. Diesen neuerlich erklärungsbedürftigen Befund interpretiert Fulda als Streben nach „Sinnsicherheit“, wie sie der Säkularismus nicht habe bieten können.

Die „Vorsehung“ war auch für JONATHAN SHEEHAN (Berkeley) ein zentraler Begriff, der sich in seinem Vortrag der Ideengeschichte von Organisation im 18. Jahrhundert widmete. Deren Ursprung verortete er in der frühaufklärerischen Naturphilosophie, die sich dem Rätsel zu stellen hatte, dass sich die Funktionsweise von Organismen nicht gänzlich über die Interaktion ihrer Bestandteile erschließen ließ – womit auch das Ideal einer durchweg kausalanalytisch verstehbaren Welt infrage gestellt worden sei. In den daran anschließenden Reflexionen über das Rätsel von organisierter Ganzheit habe das christliche Konzept der Vorsehung eine Art Baldachin dargestellt, unter dem etwa die Theorie der Keime als mysteriösen Produktionszentren von organisierten Strukturen formuliert worden sei. Hier sah Sheehan auch den Ursprung eines Denkens in offenen Systemen, das nicht von geschlossenen Kausalitäten ausgegangen sei, sondern im Wissen um die irreduzible Autonomie organisierter Ganzheiten nunmehr einer kontingenten Zukunft entgegengesehen habe.

Wie die neue Zeit und ihre Begleiterscheinungen mit der Religion vermittelt und verarbeitet wurden, war das Thema zweier wissenschaftsgeschichtlicher Beiträge. Entgegen der säkularistischen Konkurrenzannahme von Religion und Naturwissenschaft wurde dabei deutlich, dass beide Systeme in der Frühen Neuzeit nicht gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander zu vereinen gesucht wurden. In diesem Sinne legte KASPAR VON GREYERZ (Zürich) eine Begründung der unter anderem von Robert K. Merton beobachteten protestantischen Affinität zur new science vor: Am Beispiel der Physikotheologie des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts beleuchtete er deren Versuch, den Nachweis über die Kompatibilität der neuen Wissenschaft mit der biblischen Überlieferung und den Beweis für der Existenz Gottes zu erbringen. Der Physikotheologie komme dabei mehr als eine bloß apologetisch-erbauliche Rolle zu, vielmehr sei ihr Beitrag zur Förderung des Interesses an naturwissenschaftlichen Fragen innerhalb eines breiteren gebildeten Publikums nicht zu unterschätzen.

Etwas anders gelagert widmete sich CHRISTOPHER VOIGT-GOY (Mainz) dem Verhältnis von Puritanismus und Naturwissenschaft. Die Frage nach den religiösen Einflüssen bei der Durchsetzung der new science in Neuengland illustrierte er am Beispiel des Bostoner Geistlichen Cotton Mathers. An dessen frömmigkeitstheoretischer Argumentation für die Pockenimpfung sei eine Verschiebung des religiösen Vorstellungsraums hin zu einem am Mitleid orientierten moralischen Providenzialismus zu beobachten, der letztlich zur Durchsetzung der modernen Naturwissenschaften in Neuengland entscheidend beigetragen habe.

Einen eigenen inhaltlichen Strang bildeten schließlich jene Vorträge, die sich spezifisch dem Verhältnis von Protestantismus und Moderne widmeten. Zwei Beiträge konzentrierten sich dabei auf die Haltbarkeit von Max Webers These vom Ursprung des Kapitalismus in der „protestantischen Ethik“. In einer vergleichenden empirischen Studie zu frühneuzeitlichen Kaufmannsfamilien in verschiedenen rheinischen und westfälischen Städten machte STEFAN GORISSEN (Bielefeld) dazu die Probe aufs Exempel. Ausmaß und Bedeutung religiös legitimierter Lebensführung, so betonte er, seien zwar im Einzelfall kaum messbar, die wenigen Quellenaussagen zeigten aber keineswegs auffällig asketische Orientierungen – womit Webers Kausalbehauptung wohl widerlegt sei. Umgekehrt heiße das jedoch nicht, dass der Protestantismus für den wirtschaftlichen Erfolg keine Rolle spielte, habe doch der konfessionelle Raum Vergesellschaftungs- und Vernetzungseffekte gezeitigt, die für den ökonomischen Erfolg des Einzelnen eine kaum überschätzbare Bedeutung besessen habe.

In einem zweiten ökonomiegeschichtlich orientierten Vortrag erörterte ULRICH PFISTER (Münster) die Webersche These im Horizont der heutigen Forschung zur Wirtschaft der frühen Neuzeit. Auch er hielt Webers Schluss für überholt, verwies aber auf bemerkenswerte Zusammenhänge. So sei etwa zu beobachten, dass protestantische Familien eine wesentlich „rationalere“ Familienplanung aufwiesen, also weniger Kinder zeugten und damit wohl zur Überwindung des „malthusianischen Zirkels“ im 18. Jahrhundert beitrugen. Auch habe der hohe Stellenwert individueller Bildung im Protestantismus langfristig die Bildung von Humankapital und damit Produktivitätszuwächse ermöglicht. Und schließlich seien Protestanten überdurchschnittlich häufig in wenig regulierten Handels- und Exportgeschäften tätig gewesen, wo ihre binnenkonfessionelle Vertrauensnorm mutmaßlich zur langfristigen Senkung von Transaktionskosten und damit zur Integration von Handelsstrukturen beigetragen habe. Hier seien also diverse Anschlussstellen vorhanden, die von Weber ausgehend über Weber hinausführten.

Eine ideengeschichtliche Perspektive nahm wiederum ALBRECHT BEUTEL (Münster) ein, der den unterschiedlichen Detailanalysen eine longue-durée-Betrachtung des Verhältnisses von Protestantismus und Moderne seit dem 18. Jahrhundert an die Seite stellte. Seiner Ansicht nach ist die Moderne dabei als „Projektion und Problem des Protestantismus“ zu sehen: Einerseits habe auch die protestantische Theologie des 18. Jahrhunderts die offene Zukunft als gestaltungsoffenes Hoffnungsfeld für bessere Zeiten für sich entdeckt. Während diese Zukunftshoffnungen im Pietismus dabei jedoch stets innerekklesiologisch verblieben, habe die aufklärerische Neologie diese durch die konsequente Verzeitlichung theologischer Traditionsbestände und die programmatische Ausrichtung auf die religiöse Bedürfnislage der gläubigen Zeitgenossen in ein anthropologisches Perfektibilitätsmotiv gewandelt. Eine so begründete „liberale und modernitätsaffine“ protestantische Theologie sei einerseits in der Lage gewesen, mit den Herausforderungen der Moderne umzugehen und sie als Projektionsfläche theologischer Innovation zu betrachten. Andererseits stehe sie jedoch vor dem Problem, dass bei dieser theologischen Weiterentwicklung der Verlust des eigenen Identitätskerns drohe.

In seinem Schlusskommentar unternahm LUDWIG SIEP (Münster) einen Syntheseversuch und stellte heraus, dass weder eine „Herkunftsverpflichtung“ der Moderne noch eine mono-kausale Verursachung der modernen Welt durch die Religion bestehe. Allerdings gebe es eine „mannigfaltige Bedingung, Vorbereitung, Beeinflussung“, die es im Einzelnen aufzuklären gelte. Wenn in der Schlussdiskussion der Gedanke aufkam, ein Spezifikum der Moderne sei ihre Selbstreflexivität, dann war die Tagung in diesem Sinne tatsächlich „modern“ – insofern nämlich, als sie die Schwächen und Schranken ihrer Analyse stets mitbedachte. Der zu wenig beachtete interkulturelle Aspekt gehört dazu ebenso wie die zu starke Konzentration auf den Protestantismus. Nichtsdestoweniger hat die Tagung ihren Anspruch, eine Bestandsaufnahme zu liefern, erfüllt – und zugleich einen Problemaufriss für künftige Forschungen präsentiert.

Konferenzübersicht:

Matthias Pohlig (Berlin), Detlef Pollack (Münster): Einführung

Religion in der Frühen Neuzeit – auf dem Weg in die Moderne?

Brad S. Gregory (Notre Dame, USA): Constraining Christianity and Inventing Religion: The Reformation Era and Western Secularization

Carlos Eire (Chicago): Protestantism, Disenchantment, and the Birth of Modernity: A Reassessment [abgesagt]

Aufklärung, Sattelzeit, Moderne – und Religion?

Jonathan Sheehan (Berkeley): The Organization of Enlightenment: From Closed to Open Systems

Daniel Fulda (Halle): Weltverbesserung oder existentielle Steigerung? Säkulare und religiöse Zukunftserwartungen in der Formierungsphase der Moderne

Was ist die Moderne – und wie ist sie entstanden? Soziologische und philosophische Perspektiven

Thomas Schwinn (Heidelberg): Religion und Moderne: Historische Genese und heutige Struktur

Rudolf Stichweh (Bonn): Der Beitrag der Religion zur Entstehung einer funktional differenzierten Gesellschaft

Wolfgang Ludwig Schneider (Osnabrück): Islam und funktionale Differenzierung

Peter Beyer (Ottawa): The Historical Co-Construction of Religion and Modernity: Causality, Correlation, Contingency

Hans Schelkshorn (Wien): Anbruch einer Zweiten Achsenzeit: Zur Genese der Moderne durch religiöse Reformen und philosophische Innovationen

Gegenperspektiven: Wissenschafts- und Wirtschaftsgeschichte
Kaspar von Greyerz (Basel): Religion, Wissen und Wissenschaft. Physikotheologie, Frühaufklärung und Pietismus im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert

Christopher Voigt-Goy (Mainz): Puritanismus und Naturwissenschaft: Cotton Mather

Stefan Gorißen (Bielefeld): Konfessionelle Orientierung und ökonomische Rationalität bei rheinisch-westfälischen Unternehmern in vor- und frühindustrieller Zeit

Ulrich Pfister (Münster): Religion in der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung Europas 1500–1900: eine Übersicht

Noch einmal: Frühe Neuzeit, Säkularisierung und Religion?

Anselm Schubert (Erlangen-Nürnberg): Die Bedeutung der ‚Reformation‘ für die ‚Moderne‘. Zwischen Geschichtstheologie und Dekonstruktion

Albrecht Beutel (Münster): Die Moderne als Projektion und Problem des Protestantismus

Ludwig Siep (Münster): Schlusskommentar


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