„1968“ – Gesellschaftliche Nachwirkungen auf dem Lande

„1968“ – Gesellschaftliche Nachwirkungen auf dem Lande

Organisatoren
Schaumburger Landschaft e.V.; Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover; Förderverein ehemalige Synagoge Stadthagen
Ort
Stadthagen
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.02.2018 - 23.02.2018
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Von
Susanne Rappe-Weber, Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen

Während sich das geläufige Bild von „1968“ vor allem mit (groß-) städtischen Straßen und Plätzen bzw. Institutionen verbindet, wird der ländliche Raum als Wirkungsfeld für den kulturellen und gesellschaftlichen Umbruch der darauffolgenden Jahre erst allmählich entdeckt. In dieser Hinsicht präsentierte die von LU SEEGERS (Bückeburg / Hamburg) entwickelte Tagung eine ganze Reihe neuer Forschungsergebnisse und forderte zur Überprüfung gängiger Stereotype von Stadt-Land-Dichotomien heraus. Der Veranstaltungsort selbst, das „Kommunikationszentrum Alte Polizei“ in Stadthagen, das in den 1980er-Jahren als soziokulturelles Zentrum mit programmatischer Vereinssatzung gegründet worden war, steht beispielhaft für die nachhaltige Transformation der von „1968“ ausgelösten Veränderungen außerhalb der Metropolen. Im dicht besiedelten Schaumburg fanden die, solcher Transformation vorausgehenden, Aushandlungsprozesse in einer Öffentlichkeit statt, in der man sich – anders als in der Großstadt – persönlich kannte, wie Seegers einleitend herausstellte. Wechselseitige Beeinflussungen, etwa durch den Umzug vom Land in die Stadt und umgekehrt, bedingten ebenso wie der mediale Wandel eine zunehmende Entgrenzung städtischer und ländlicher Erfahrungsräume.

Die Gleichzeitigkeit der Unruhen in Stadt und Land betonte auch DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) und entwickelte in seiner Keynote von diesem Punkt aus weitere Thesen zum Strukturwandel der ländlichen Gesellschaft um „1968“. Die Jugendrevolte stützte sich auf eine veränderte Wahrnehmung der Provinz, die über Radio und Fernsehen, aber auch eine höhere Mobilität und breitere Bildungsangebote stärker als je zuvor mit „der Welt“ verbunden zu sein schien und zugleich zur Bildung einer Gegenkultur provozierte. Freiräume dafür waren im ländlich-kleinstädtischen Raum mitunter sogar leichter zu gewinnen und ließen eine Reihe von Projekten entstehen, die sich „Heimat“ neu aneignen wollten. Individuelle Entscheidungen zum Weggehen oder Dableiben beeinflussten die Nachhaltigkeit und das Ausmaß des von den „Schmuddelkindern“ ausgelösten, vor allem kulturellen Wandels.

In der ersten Sektion „Religion und Tradition“ fragten gleich zwei Beiträge nach den Bezügen der Kulturrevolte zur evangelischen Kirche. Fündig wurde CLAUDIA LEPP (München) dabei in fünf Bereichen: der Frauenbewegung, den Jugendzentren, den Dritte-Welt-Gruppen, der Ökologie- und der Friedensbewegung. Die Kontroversen über diese Themen wurden in den ländlichen Kirchengemeinden in unterschiedlichen Konstellationen zwischen Pfarrern, Gemeinderäten und Gruppierungen wie der evangelischen Jugend ausgetragen – oft unversöhnt. Dabei stützte sich die Politisierung nicht selten auf die Hauptamtlichen, die auch als „Jugendbildner“ wirkten und dazu neue Projekte und Aktionsformen initiierten. Langfristig wirksam waren vor allem ökologische Themen, die unter dem Stichwort „Bewahrung der Schöpfung“ als eigenes kirchliches Anliegen umgesetzt wurden. Das Interesse von HANS OTTE (Hannover) galt einem Jugendbund, den „BK-Jungenschaften“, die sich in der Tradition der evangelischen Jugend nach 1945 neu gründeten und bis in die 1960er-Jahre auch im Schaumburger Land einen regelrechten Boom erlebten. Gerade sie, die zuvor mit wöchentlichen Treffen, gemeinsamer Kluft usw. sehr verbindliche Strukturen etabliert hatten, setzten sich dem kulturellen Veränderungsprozess bewusst aus, diskutierten vor allem entwicklungspolitische Fragen und lösten sich in der Folge selbst zugunsten neuer Formen der Jugend-Bildungsarbeit auf. Ganz anders verlief dieser Prozess bei den Heimatvereinen, denen sich DIETMAR VON REEKEN (Oldenburg) am Beispiel des Niedersächsischen Heimatbundes widmete. Diese reagierten auf das in den 1960er-Jahren nachlassende Interesse und den Mitgliederschwund mit vorsichtigen Anpassungen. Zuvor hatte man sich, auch schon mit Blick auf die NS-Geschichte, eine Distanz zu aktuell-politischen Sachverhalten auferlegt, sodass erst allmählich das veränderte Interesse der Mitglieder insbesondere an Umwelt- und Naturschutzthemen Eingang in die Veranstaltungen und Publikationen fand, wie Reeken am Beispiel des Schaumburg-Lippischen Heimatvereins aufzeigte, der von den 1950er- bis späten 1960er-Jahren seine Mitgliederzahl verdoppeln konnte. Damit änderte sich auch die Alters- und Sozialstruktur der Mitglieder, in deren Folge es gelegentliche Proteste gab, wie z. B. gegen die Wahl des neuen Vorsitzenden, Philipp-Ernst Fürst zu Schaumburg-Lippe, der als „rückwärtsgewandt“ und einer demokratischen Gesellschaft nicht entsprechend galt. Der insgesamt nur sehr allmähliche Wandel der Heimatbewegung, für dessen Ungleichzeitigkeit weniger Stadt-Land-Unterschiede als vielmehr bestimmte Milieus standen, wurde in der Diskussion ebenso thematisiert wie der Einfluss agrarindustrieller Entwicklungen und der Übergang zu „neuen“ Heimatvereinen bzw. Geschichtswerkstätten.

Die Sphäre der Politik kam in der Sektion „Gender und Politik“ in drei Beiträgen zur Sprache. In einem systematisierenden Zugriff identifizierte JULIA PAULUS (Münster) Felder, auf denen sich die neue Frauenbewegung auf dem Land in der Folge von „1968“ artikulierte: Erwachsenenbildung, Gleichstellungspolitik, administrative Projekte. Zu beobachten waren neue Netzwerkformen (Frauenzentren oder -cafés), die frühere Vereine oder Verbände traditionellen Zuschnitts ablösten und dazu führten, dass Frauen, die besonders auf dem Land hinderlichen Regeln sozialer Kontrolle unterworfen waren, in unterschiedlichen Zusammenhängen gemeinsam für Veränderungen eintraten. Dagegen richtete LINDE APEL (Hamburg) ihr Forschungsinteresse auf die Mitglieder einer konservativen Partei, der CDU, die sie in erfahrungsgeschichtlich orientierten Interviews zu ihrer politischen Sozialisation in den 1970er-Jahren befragte. Erkennbar wird darin im Rückblick die starke Prägung der kulturellen Ausdrucksformen durch die „Linken“, auch in dazu politisch rechts stehenden Gruppierungen wie der Schüler-Union. Wie die Natur nach 1970 von einem traditionellen „Heimat“-Thema zum politischen Großthema der Linken wurde, legte BIRGIT METZGER (Freiburg) dar. Dabei zeigt sich die Anschlussfähigkeit der Ökologie für viele soziale Bewegungen, wenn etwa „das Land“ zur Projektionsfläche für Städter wird, wenn Traditionen umgedeutet werden und im Umfeld umstrittener Großbaustellen in der Provinz (Whyl, Gorleben) sich städtische Bürgerinitiativen mit Gruppen vor Ort verbinden. Ob bzw. wo und wie sich auf dem Land ein „linker Mainstream“ ausgebildet hat, wurde anschließend diskutiert, aber auch die „Lernprozesse“ in der Politik angesichts kreativer, langlebiger Protestformen.

Der emanzipatorische Aufbruch von „1968“ fand auch jenseits des „Eisernen Vorhangs“ statt, wie man seit geraumer Zeit weiß, aber wie sich das im ländlichen Raum niederschlug, ist weit weniger bekannt. Diesem Thema widmete sich die Sektion „‘1968‘ in der DDR“. In der DDR stellte der 21. August 1968, die Niederschlagung des „Prager Frühlings“, das markante Datum dar, um das herum die politische Führung in der DDR jegliche Formen abweichender Politisierung mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte, wie DANIELA MÜNKEL (Berlin) vor allem anhand von Berichten der Staatssicherheit an die SED-Leitung eruiert hat. Darin wurde z. B. die Verweigerung von Unterschriften für Zustimmungserklärungen ebenso wie das Anbringen von so genannten „Hetz-Losungen“ an Hauswänden im ländlichen Raum dokumentiert. In dieser Perspektive stellt sich die Revolution von 1989 als Erfolg derjenigen dar, die in den 1970er-Jahren damit begonnen hatten, sich kulturell und mental von der Staatsdoktrin der DDR zu lösen. Einem jugendkulturellen Phänomen des politisierten Widerstands ging MATĔJ KOTALÍK (Potsdam) nach, der den Umgang mit Unruhen auf ländlichen Volksfesten in der DDR untersucht hat. Auf die Krawalle in der Provinz reagierten die Polizeikräfte überwiegend deeskalierend, während in der Bevölkerung oft ein „hartes Durchgreifen“ gefordert wurde. Von staatlicher Seite gab es ein dezidiertes Interesse daran, Jugendliche nicht durch unangemessene Härte ihrem Land zu entfremden.

Zur Einführung in die Sektion „Arbeit und Freizeit“ erinnerte die Moderatorin CORNELIA RAUH (Hannover) an den meist gesehenen Film des Jahres 1968, „Zur Sache, Schätzchen“, der das lässig-melancholische Lebensgefühl junger Leute ausdrückte. Im Unterschied dazu präsentierten sich die Anhänger der in den Folgejahren von Amerika nach Deutschland ausgreifenden „Do-it-yourself-Bewegung“ als aktiv und kompetent, wie JONATHAN VOGES (Hannover) ausführte. In einem massiven Werbeumfeld von Baumärkten und Geräteanbietern etablierte sich das Heimwerken als sinnvolle Freizeit-Betätigung für (männliche) Eigenheimbesitzer, insbesondere in ländlich-kleinstädtischen Regionen wie dem Schaumburger Land, die in diesem abgesteckten Terrain selbsttätig die eigene Wohnumgebung „behaglich“ ausgestalten konnten. Nicht der Freizeit, sondern der Arbeit als Feld der Gewerkschaften galt das Interesse von KNUD ANDRESEN (Hamburg), der dafür die Lehrlingsbewegung und Gewerkschaftsjugend um 1970 untersucht und breite Veränderungsprozesse vorgefunden hat. Insbesondere die kulturell-emanzipativen Bildungsangebote der Gewerkschaften (Austauschprogramme, Reisen, Seminare), die von jungen Leuten nachgefragt wurden, trugen dem auf Demokratie ausgerichteten Wertewandel unter den Lehrlingen Rechnung und bewirkten mittelfristig die Verrechtlichung der Ausbildungsverhältnisse. Während die Lehrlings-Bewegung in den großstädtischen Zentren in den Jahren 1971/72 bereits zerfiel, entstanden in den Kleinstädten zu dieser Zeit neue Gruppen. DAVID TEMPLIN (Osnabrück) stellte anhand einer Jugendzentrumsinitiative in Uelzen die Verbindungslinien zwischen Jugendzentren, die nach der erfolgreichen Gründungswelle mit massiven Problemen kämpften, und sozialen Bewegungen bzw. dem linksalternativen Milieu dar. Erklären lässt sich daraus der Trend zur Gründung alternativer Gemeinschaftsformen wie Kultur- und Kommunikationszentren (siehe oben der Hinweis auf den Veranstaltungsort), aber auch Festivals, Buchläden usw., nicht zuletzt durch die den Jugendzentren generationell entwachsenen, aber in diesem Umfeld sozialisierten jungen Erwachsenen.

Wie der „weite Raum“ auf dem Land genutzt wurde, um alternative Lebensformen auszuprobieren und langfristig einzurichten, zeigten die beiden Vorträge der letzten Sektion. Die Organisatorin der Tagung, LU SEEGERS (Bückeburg / Hamburg), griff dafür Beispiele aus dem Schaumburger Umland auf und dokumentierte anhand von Zeitzeugen-Interviews den langen Weg von zwei, anfangs kritisch aufgenommenen Landkommune-Gründern, die ein selbstbestimmtes Leben anstrebten, zu weithin anerkannten „Alternativ-Honoratioren“ im Dorf. Kriterien dafür waren unter anderem der Respekt vor dörflichen Werten wie der Handarbeit, die Beteiligung am Vereinsleben und die Ausübung anerkannter Berufe seitens der „Kommunarden“. Die von REBECCA MENZEL (Potsdam) geführten Interviews zeigten die unterschiedlichen Bedingungen für die mit Systemkritik verbundenen, alternativen Lebensentwürfe in ländlichen Wohngemeinschaften in der DDR und der Bundesrepublik auf. Gemeinsam war ihnen das schnell nachlassende Interesse am ideologischen Überbau dieser Gründungen zugunsten pragmatischer Ansätze unter den Bewohnern. Unter dem Begriff „Muddling through“ fasste Rebecca Menzel eine kennzeichnende Lebensform, bei der es darum ging, sich unterhalb des Radars staatlicher Zumutungen in Ost und West gewissermaßen „durchzuwurschteln“.

In der Abschlussdiskussion wurde das Forschungspotential der aufgeworfenen Fragen betont, wobei gerade die Wissensdefizite zum sozioökonomischen Strukturwandel des Landes nach 1970 zur Sprache kamen. Problematisiert wurde die Verwendung des „Jugend“-Begriffs, da die kulturelle Transformation letztlich von immer neu erfassten Jugendlichen mitgetragen wurde. Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang auch auf die Verbindung der „neuen sozialen Bewegungen“ mit älteren Anregungen, nicht zuletzt aus der historischen Jugendbewegung. Insgesamt sei doch eher von „Jugendrevolte“ statt „Studentenbewegung“ zu sprechen. Für die Wahrnehmung der ländlichen Räume als Heimat, die neu angeeignet werden kann, gaben diese Prozesse einen entscheidenden Schub.

Konferenzübersicht:

Religion und Tradition
Moderation: Stefan Brüdermann (Bückeburg)

Claudia Lepp (München): Auswirkungen von „1968“ auf die evangelische Kirche im ländlichen Raum

Hans Otte (Hannover): „Unruhige“ Jugend in einer „ruhigen“ Kirche? Die evangelische Jugend in den 1960er Jahren

Dietmar von Reeken (Oldenburg): Das „verdammte Fernsehen“. Niedersächsische Heimatbewegung im Spannungsfeld von Traditionswahrung, Wertewandel und Generationswandel

Gender und Politik
Moderation: Wiebke Lisner (Hannover)

Julia Paulus: (Neue) Frauenbewegung auf dem Lande

Linde Apel (Hamburg): Provinzen der Mobilisierung. Reaktionen auf „1968“ im „Schwarzen Jahrzehnt“

Birgit Metzger (Freiburg): Aufstand der Bäuerinnen und Förster? – Die Umweltbewegung der 1970er und 1980er Jahre zwischen Stadt und Land

„1968“ in der DDR
Moderation: Lu Seegers (Bückeburg / Hamburg)

Daniela Münkel (Berlin): „Im Herbst brennen die Scheunen“ – „1968“ auf dem Lande im Blick der DDR-Staatssicherheit

Matĕj Kotalík (Potsdam): Vom Feind lernen? Polizeitaktische Sicherung ländlicher Volksfeste in der DDR nach „1968“ am Beispiel des Umgangs mit „Rowdytum“

Arbeit und Freizeit
Moderation: Cornelia Rauh (Hannover)

Jonathan Voges (Hannover): „Samstags ist Basteltag“. Heimwerken als gesellschaftliche Praxis in der „Freizeitgesellschaft“ ab den 1960er Jahren

Knud Andresen (Hamburg): Politisierung am Rande? Lehrlingsbewegung und Gewerkschaftsjugend um 1970 in Norddeutschland

David Templin (Osnabrück): Jugendzentrumsbewegung und linksalternatives Milieu im Niedersachsen der 1970er Jahre

Alternative Lebensformen
Moderation: Adelheid von Saldern (Hannover)

Lu Seegers (Bückeburg / Hamburg): Landkommunen in Schaumburg

Rebecca Menzel (Potsdam): Hoffnungsloses Hinterland? Die Provinz als Möglichkeitsraum und „reality check“ für alternative Lebensmodelle in BRD und DDR


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