Verzicht auf Traditionsstiftung und Erinnerungsarbeit? Narrative der europäischen Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert

Verzicht auf Traditionsstiftung und Erinnerungsarbeit? Narrative der europäischen Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Angelika Schaser, Universität Hamburg; Sylvia Schraut, Universität der Bundeswehr München; Johannes Kuber, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.03.2018 - 21.03.2018
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Von
Andre Dechert, Institut für Medien, Wissen und Kommunikation, Universität Augsburg

Die Forschung hat gezeigt: Die Geschichte der Emanzipation und Gleichberechtigung der Frau und die Geschichte der damit einhergehenden Wandelprozesse kann nicht losgelöst von der ersten deutschen Frauenbewegung um Frauen wie Louise Otto-Peters, Helene Lange, Gertrud Bäumer, Clara Zetkin oder Anita Augspurg gedacht werden. Die Aktivistinnen der zweiten Welle der deutschen Frauenbewegung vertraten hingegen aus ihrer zeitgenössischen Perspektive eine andere Meinung: In ihrem Verständnis standen sie nicht in Tradition der ersten Frauenbewegung, sie begriffen sich vielmehr als neuartige Bewegung. Vor dem Hintergrund eines solchen zeitgenössischen Selbstverständnisses wendete sich die Tagung „Verzicht auf Traditionsstiftung und Erinnerungsarbeit? Narrative der europäischen Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert“ der Frage zu, inwieweit es der ersten deutschen Frauenbewegung gelungen war, „die eigenen Ziele, Aktionen und Errungenschaften in der kulturellen Erinnerung zu verankern“ 1. Im Einführungsvortrag spezifizierte SYLVIA SCHRAUT (München) das Erkenntnisinteresse der Tagung, indem sie sechs Leitfragen formulierte: „1. In welcher Weise betrieben Akteurinnen der ersten europäischen Frauenbewegung ihre eigene Geschichtsschreibung und Traditionsstiftung? 2. Existierten transnationale Bemühungen zur Geschichtsschreibung und Traditionsstiftung der Frauenbewegung? 3. Welche Lager in den jeweiligen europäischen Frauenbewegungen waren besonders aktiv und erfolgreich in der Erinnerungsarbeit? 4. Welche Bilder von frauenbewegten Aktivitäten wurden transportiert, welche Bereiche marginalisiert oder gar tabuisiert? 5. Welche Traditionsbrüche sind in den jeweiligen Frauenbewegungen zu beobachten und wie sind diese zu erklären? 6. In welcher Weise rezipierten die neuen europäischen Frauenbewegungen die Geschichte und die Geschichtsschreibung der Vorläuferorganisationen?“

Sich nicht nur erfolgreich in die Geschichte der ersten Frauenbewegung einschreiben, sondern sogar die „Meistererzählung der Bewegung“ für viele Jahre prägen, konnten vor allem Helene Lange und Gertrude Bäumer, wie ANGELIKA SCHASER (Hamburg) ausführte. Beide Frauen, so ihre These, betrachteten Publikationen verschiedener Art (wie z.B. Handbücher, Broschüren Zeitschriftenbeiträge oder auch ihre Autobiographien) als wichtigen Baustein einer Geschichte der Bewegung und publizierten dementsprechend über lange Jahre in großem Umfang. Dies erfolgte unter Berücksichtigung strategischer Aspekte: So schrieben Lange und Bäumer zum Beispiel vermehrt über solche Personen, die sie als einflussreich erachteten, und suchten ihre Sichtweisen durch den Rückbezug auf bekannte Autoritäten wie männliche Politiker und Wissenschaftler oder auch international bekannte Feministinnen zu stützen. Insbesondere nicht-preußische Frauenorganisationen erfuhren durch die Etablierung einer Meistererzählung durch Akteurinnen wie Lange und Bäumer dahingegen einen „geschichtlichen Bedeutungsverlust“, wie SYLVIA SCHRAUT (München) argumentierte. Basierend auf im Jahr 1909 im Deutschen Reich erhobenen Statistiken legte sie dar, wie engmaschig die Frauenbewegung in Teilen Süddeutschlands organisiert war und wie einflussreich gleichheitsfeministisch argumentierende Vereine wie z.B. der Verein „Frauenbildung – Frauenstudium“ waren – auch für die Öffnung der Universitäten für Frauen.

Vor dem Hintergrund des derzeit entstehenden Digitalen Deutschen Frauenarchivs 2 führte BIRGIT KIUPEL (Berlin) in ihrem gemeinsam mit JESSICA BOCK (Berlin) konzipierten Vortrag aus, dass nach offiziellen Statistiken bereits im Jahr 1909 490 von 4212 lokalen Organisationen des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) eine Bibliothek oder einen Lesesaal unterhielten. Seit dem ersten Weltkrieg, insbesondere seit den 1920er-Jahren, seien zunehmend auch Archive eingerichtet worden. Die Einrichtung von Bibliotheken und Archiven durch frauenbewegte Organisationen führte Kiupel auf die drei wesentlichen Motive Bildung, Historisierung und Mobilisierung zurück.

MIRJAM HÖFNER (München) fokussierte in ihrem Vortrag die Zeit „zwischen der ersten und zweiten Frauenbewegungswelle“. Sie zeigte auf Basis von in Frauenzeitschriften publizierten Artikeln, im Frauenfunk des Bayerischen Rundfunk ausgestrahlten Beiträgen sowie internen und öffentlichen Vorträgen, dass der Münchner Verein für Fraueninteressen, der bis heute als Begründer der bayerischen Frauenbewegung gilt, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem die Geschichte des bürgerlich-gemäßigten Flügels der ersten deutschen Frauenbewegung erzählte. Der ‚radikale‘ Flügel der Bewegung wurde von dem Verein hingegen in seinen Geschichtserzählungen ausgegrenzt. Zurückzuführen ist dies maßgeblich auf das antikommunistische Klima der Nachkriegszeit. Interessanterweise fanden dahingegen Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung in der Sowjetischen Besatzungszone Eingang in die Geschichte der Bewegung. So konnte KERSTIN WOLFF (Kassel) unter anderem zeigen, dass sich die Zeitschrift „Die Frau von heute“, das spätere Publikationsorgan des Demokratischen Frauenbund Deutschlands, in den ersten drei Jahren ihres Erscheinens (1946-48) mit frauengeschichtlichen Themen befasste, sich dabei aber nicht auf eine sozialistische Perspektive beschränkte. Die Zeitschrift präsentierte in ihren Beiträgen ebenfalls dem bürgerlichen Flügel der Bewegung zuzurechnende Frauen. Studentische Frauenverbindungen waren und sind dahingegen im Wesentlichen bis heute kein Teil der frauenbewegten Geschichte, wie SIMONE RUOFFNER (Potsdam) ausführte. Im Gegensatz zu Vereinen wie dem Verein für Fraueninteressen gelang es diesen nicht, sich erfolgreich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu rekonstituieren. Viele ihrer früheren Mitglieder besaßen mittlerweile Familien, für aktive Erinnerungs- und Geschichtsarbeit blieb ihnen in den Nachkriegsjahren keine Zeit, insbesondere auch da zahlreiche Familienväter im Krieg vermisst oder getötet worden waren.

Die zweite deutsche Frauenbewegung thematisierte JOHANNA GEHMACHER (Wien). Sie befasste sich in ihrem Vortrag mit einem in den 1970er-Jahren von einem autonomen Frauenzentrum in Westberlin veröffentlichten und unter Feministinnen der Zeit verbreiteten Buch, das die Texte zweier verschiedener Autorinnen vereinte: Ein Text stammte von der amerikanischen Feministin Anne Koedt3, der andere von der deutschen Pädagogin Mathilde Vaerting4. Gehmacher argumentierte dabei, dass die Textauswahl nicht nur als bewusste transnationale, sondern auch als historische Verortung der radikalen Strömung der zweiten Frauenbewegung in den deutschsprachigen Ländern zu betrachten ist. RITA VOLTMER (Trier) befasste sich in ihrem Vortrag mit der durch „Vergessen“ und „Neufindungen“ geprägten Geschichte des sowohl in der US-amerikanischen als auch in den europäischen Frauenbewegungen präsenten Hexen-Narratives. Dieses in männlichen Phantasien des 19. Jahrhunderts wurzelnde und trotz aller Forschungserkenntnisse auch aktuell weiter in der Gesellschaft präsente Narrativ unterstellt, dass Hebammen, Heilerinnen oder Anhängerinnen eines paganen Kultes Opfer einer von Staat und Kirche initiierten Kampagne waren, da sie gegen das Patriarchat und damit einhergehende Normen von Weiblichkeit aufbegehrten. Sie zeigte auf, dass die zweite Frauenbewegung dieses Narrativ unabhängig von der ersten Frauenbewegung für sich neu entdeckte. Die Soziologin ILSE LENZ (Bochum) legte in ihrem Vortrag dar, dass soziale Ungleichheiten entlang von Klassengrenzen ein „Leitmotiv“ für die Rezeption der ersten Frauenbewegungen durch die Neuen Frauenbewegungen in Westdeutschland darstellten. Aktuell, so führte sie aus, werde auch die Neue Frauenbewegung historisiert – der Fokus von Feministinnen, die sich selbst der dritten und vierten Welle der Frauenbewegung zuordnen, liege dabei aber vornehmlich auf sozialen Ungleichheiten entlang ethnischer Grenzen (‚race‘).

Weitere Beiträge öffneten den Blick über die deutsche Frauenbewegung hinaus und befassten sich mit Frauenbewegungen in anderen, vornehmlich europäischen Staaten. Bestätigt wurde dabei, dass die Geschichte der Frauenbewegungen auch als vielfältige Verflechtungsgeschichte zu betrachten ist. DIETLIND HÜCHTKER (Leipzig) legte anhand ausgewählter Texte der Frauenbewegungen zur Frauengeschichte und Frauenbewegungsgeschichte aus Polen und der Ukraine dar, dass die Autorinnen in ihren Publikationen ein jeweils nach Kontext und Argumentation variierendes „wir“ (z.B. als Nation oder als Frauen) konstruierten. Diese variable Konstruktion des „wir“ ist dabei als Ausdruck diverser Verflechtungen der Frauenbewegungen mit anderen Organisationen und Bewegungen zu verstehen, deren Forderungen und Ziele sich mit denen der Frauenbewegungen überschnitten. TIINA KINNUNEN (Oulu, Finnland) zeigte wiederum für den Zeitraum von den 1880er-Jahren bis zum Ersten Weltkrieg am Beispiel von Finnland und Schweden, dass biografische Texte zu „bemerkenswerten Frauen“ (eig. Übers.) der Bewegungsgeschichte über nationale Grenzen hinweg zirkulierten und die Geschichte der Frauenbewegungen somit zumindest auf biographischer Ebene auch als europäische und transatlantische Verflechtungsgeschichte zu verstehen ist. Als Teil einer Verflechtungsgeschichte ist aufgrund ihrer engen Verbindungen zur europäischen Friedensbewegung, zur Kindergarten-Bewegung Friedrich Fröbels oder zur britischen Abolitionsbewegung zudem auch die bisher in der Historiografie vernachlässigte erste italienische Frauenbewegung zu betrachten, wie RUTH NATTERMANN (München) ausführte. Die geringe Aufmerksamkeit, die die Bewegung bisher in der Forschung erfahren hat, führte sie darauf zurück, dass die italienische Bewegung maßgeblich in Folge des Faschismus keine Geschichte der Traditionsstiftung aufweisen kann. Einen solchen Einfluss konstatierte SORAYA GAHETE MUNOZ (Madrid) auch für die Franco-Diktatur in Spanien.

In der abschließenden Diskussion zur Tagung wurden die nicht nur durch Ilse Lenz, sondern auch durch die Kommunikationswissenschaftlerin SUSANNE KINNEBROCK (Augsburg) eingebrachten Perspektiven anderer Fächer als Bereicherung für die geschichtswissenschaftliche Forschung zu Frauenbewegungen gelobt. So hatte Kinnebrock in einem öffentlichen Abendvortrag die Bedeutung von Medien, insbesondere Massenmedien, für das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft betont, indem sie argumentierte: „es sind die Massenmedien, die immer wieder Öffentlichkeit für gesellschaftliche Themen herstellen, bestimmte Aspekte der Vergangenheit reaktualisieren, andere dafür aber ausblenden. Dabei orientieren sich die Massenmedien weniger an der historischen Bedeutsamkeit bestimmter Figuren und Prozesse, sondern vor allem an aktuellen Relevanzstrukturen und grundlegenden Medienlogiken“. Die Tagungsteilnehmer/innen vertraten auch angesichts dieses Vortrags abschließend die Meinung, dass zukünftig die Rolle von Medien für und in der Geschichte der Frauenbewegungen, v.a. im Kontext ihrer Bemühungen um Traditionsstiftung sowie ihrer Erinnerungs- und Geschichtsarbeit, näher zu beleuchten sei. Hervorgehoben wurde in diesem Zusammenhang zudem, dass sich der Forschung hier in Zukunft neue Möglichkeiten (insbesondere auch im Hinblick auf die Zugänglichkeit der Quellen) bieten, wie zum Beispiel die Schaffung des bereits erwähnten Digitalen Deutschen Frauenarchivs. Ausgiebig diskutiert wurde zudem der in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu Frauenbewegungen präsente biografische Ansatz. Konsens war hier, dass dieser einen durchaus wichtigen Beitrag darstellen kann, die Forschenden sich aber der damit einhergehenden Gefahr bewusst sein müssten, Masternarrative zu schaffen. Auf thematischer Ebene wurde abschließend u.a. die Behandlung der folgenden Fragen als Forschungsdesiderat betont: Warum begreifen sich die Bewegungen jeweils als neu? Verdeckt die Rhetorik des Neuen möglicherweise Kontinuitäten zwischen der ersten und zweiten Frauenbewegung? Wann und aus welchen Gründen beginnen Aktivistinnen und Organisationen der Frauenbewegungen ihre Geschichte zu schreiben? Inwieweit sind in diesem Zusammenhang konkrete Zukunftsvisionen der Akteurinnen von Bedeutung? Sind primär auf nationaler Ebene aktive Akteurinnen in ihren Bemühungen ‚erfolgreicher‘, sich in die Geschichte der Bewegung einzuschreiben, als solche, die primär auf inter- bzw. transnationaler Ebene agierten?

Konferenzübersicht:

Angelika Schaser (Hamburg) / Sylvia Schraut (München): Begrüßung und Einführung

Sektion 1: Traditionsstiftung, Erinnerungs- und Geschichtsarbeit

Beate Wagner-Hasel (Hannover): Die Schriftstellerin Lily Braun und die Frauen der Antike. Traditionsbildung mit begrenzter Reichweite

Rita Voltmer (Trier): Tremate, tremate, le streghe son tornate. Über die Wirkmacht des Hexen-Narrativs in den europäischen Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts

Johanna Gehmacher (Wien): Macht/Lust. Wege und Brechungen von Tradierungslinien des radikalen Feminismus

Mirjam Höfner (München): „Geistvoll – doch nicht aufregend“? Geschichte(n) zur Ersten Frauenbewegung im Münchner Verein für Fraueninteressen und Frauenarbeit, 1945 – 1959

Kerstin Wolff (Kassel): „Nicht Haussklavin, nicht Mannweib, weiblicher Vollmensch“. Zur historischen Traditionsbildung in sozialistischen Frauenzeitschriften zwischen Kaiserreich und Nachkriegszeit

Sektion 2: Hinein- und Hinausschreiben. Traditionsstiftung durch Ein- und Ausgrenzungen

Simone Ruoffner (Potsdam): Verlorene Erinnerung. Frauenstudium, Frauenbewegung und Damenverbindungen im Deutschen Reich vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus

Angelika Schaser (Hamburg): Helene Langes und Gertrud Bäumers Umgang mit konkurrierenden Konzepten der Frauenbewegungsgeschichte vom Kaiserreich bis zum Zweiten Weltkrieg

Sylvia Schraut (München): Konfessionelle und regionale Brüche in der Traditionsstiftung der Frauenbewegung

Jessica Bock (Berlin) / Birgit Kiupel (Berlin): Die Geschichte und Bedeutung von Frauen-/Lesbenarchiven und -bibliotheken für die Traditionsarbeit innerhalb der Frauenbewegungen

Ilse Lenz (Bochum): Zwischen ‚Rasse‘ und Klasse. Zu den Debatten um Ungleichheiten in der Neuen Frauenbewegung in Deutschland ab 1970

Sektion 3: Creating tradition and reminiscence work in the European Women’s Movements

Dietlind Hüchtker (Leipzig): History and truth. Tradition and legitimation of women's politics in Central Europe during the 19th and 20th centuries

Tiina Kinnunen (Oulu, Finnland): Feminist biography as a tool of history politics. Late 19th and early 20th century Finland and Sweden in a comparative and transnational analysis

Ruth Nattermann (München): Unrecognized Transnationalism. A counter history of the early Italian women's movement

Soraya Gahete Munoz (Madrid): The feminist movement in Spain. Forgetfulness and disagreements

Öffentlicher Abendvortrag

Susanne Kinnebrock (Augsburg): Warum Frauenbewegungen in Vergessenheit geraten oder auch nicht. Die Rolle von aktivem Gedenken und Medien

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Verzicht auf Traditionsstiftung und Erinnerungsarbeit? Narrative der europäischen Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, 19.03.2018 – 21.03.2018 Stuttgart, in: H-Soz-Kult, 22.11.2017, <www.hsozkult.de/event/id/termine-35791>.
2 Digitales Deutsches Frauenarchiv, www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/start (04.06.2018).
3 Anne Koedt, The Myth of the Vaginal Orgasm, 1970.
4 Mathilde Vaerting, Frauenstaat und Männerstaat, 1921/23.


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