History goes Digital

Organisatoren
Bayerische Akademie der Wissenschaften, Arbeitskreis "Digital Humanities München" und Kompetenzverbund "Historische Wissenschaften München"
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.07.2017 -
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Von
Johannes Gleixner, Collegium Carolinum – Forschungsinstitut für die Geschichte Tschechiens und der Slowakei

Das Leitmotiv des Workshops war die Frage, ob man angesichts der Welle an Projekten in den Digital Humanities in der Geschichtswissenschaft von einer ‚digitalen Methodik‘ sprechen kann beziehungsweise welche methodologischen Fragen computergestützte Verfahren in diesem Falle mit sich bringen.

Einleitend fasste JOHANNES GLEIXNER (München) diese Intention der Veranstalter zusammen und wies darauf hin, dass Methodendiskussionen in der Geschichtswissenschaft – gerade im Hinblick auf Formalisierungsforderungen – ja nichts Neues seien. Angesichts des enormen Aufschwungs computer- und korpuslinguistischer Verfahren in den Digital Humanities dürfe man nicht übersehen, dass quantifizierende Methoden und die damit verbundenen methodologischen Debatten sich nicht in diesen Verfahren erschöpften. Etwa habe bereits die Sozialgeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre mit einer vergleichbaren Zielsetzung andere Impulse gesetzt. Vor diesem Hintergrund wolle der Workshop auch den Stand der aktuellen Debatte festhalten: Wie weit ist eine digitale Geschichtswissenschaft bisher gekommen und welche Ansprüche kann sie einlösen?

Als Eröffnung der ersten Sektion „Datenanalyse“ stellte FRANCOIS BRY (München) einige Überlegungen dazu an, was die Digital Humanities aus der Perspektive eines Informatikers eigentlich sein könnten. Entgegen allgemeiner Vorurteile befinde sich nämlich auch die Informatik ganz wie die Geisteswissenschaften in der Situation, keine Einheitswissenschaft mit einem fixen Methodenprogramm zu sein. Im Gegenteil stelle sich hier wie dort doch die Frage, wofür man welche Methoden sinnvollerweise einsetzen könne. Auch für computergestützte statistische Verfahren gelte schließlich, dass nur eine klare Formulierung von Hypothesen und Erkenntnisinteresse ein sinnvolles Forschungsergebnis ermögliche. Darüber hinaus sei es allerdings in der Tat so, dass die Forschung aufgrund der Komplexität der Materie Wert auf die Wiederverwendbarkeit von Verfahren legen müsse. Für erfolgreiche „Digital Humanities“ heiße das: Schwerpunktsetzung, auch in der Methodik. Das könne aber nur über entsprechend abgestimmte Lehre und Forschungsprogramme gelingen, die auf der Ebene von Master- und Promotionsarbeiten ansetze. In der anschließenden Diskussion wurde angemerkt, dass diese Vereinheitlichung bzw. Schwerpunktsetzung jedoch gewissermaßen bei den Daten beginnen müsse, die man erforschen wolle. Und diese sei in der Geschichtswissenschaft eben nicht gegeben.

In seinem Vortrag über die Analyse der Religion junger Gläubiger stellte DAVID SCHMIEDEL (Magdeburg) erste Ergebnisse und methodische Reflexionen des Forschungsprojekts ABR@HAMS vor. Der Daten-Crawler des Projekts durchsucht automatisiert eine feste Anzahl Internetseiten und filtert aus der Menge der erhobenen Daten begriffliche Zusammenhänge heraus, die dann qualitativ analysiert werden können. Tatsächlich ist das Programm bereits in der Lage, selbstständig semantische Kontextualisierungen vorzunehmen. Methodische Schwierigkeiten zeigen sich wiederum darin, quantitativ schwächere religiöse Überzeugungen gegenüber anderen zu gewichten (insbesondere jüdische gegenüber christlichen / muslimischen).

STEFANIE SCHNEIDER (München) sprach über mathematische Modelle zur Bestimmung von Ähnlichkeitsbeziehungen in der Kunstgeschichte. Die Leistung dieser Modelle zeige sich darin, vermutete Ähnlichkeiten solide belegen zu können, aber auch nicht vermutete, neue Ähnlichkeiten aufzuzeigen. Dabei werden Neurale Netzwerke (CNN) darauf trainiert, nicht annotierte kunsthistorische Reproduktionen zu kategorisieren.

In der zweiten Sektion „Bildanalyse“ sprach zunächst HARALD KLINKE (München) über Big Data in der Kunstgeschichte. Die Kunstgeschichte sei durch datengestützte Verfahren herausgefordert sich ihre Aufgabe neu zu vergegenwärtigen. Big Data lasse sich nicht schlicht abrufen, sondern müsse erzeugt werden. Außerdem stelle sich erneut die alte Frage nach der Grenze des Kunstbegriffs.

SABINE LANG (Heidelberg) zeigte anhand ausgewählter Beispiele wie Ordnungsbetrachtungen im digitalen Kontext funktionieren können. Sie griff dabei die schon im Vortrag von Stefanie Schneider genannte Frage auf, welche neuen Kategorisierungen durch ‚computer vision‘ entstehen können. In der Diskussion wurde angemerkt, dass die Frage bestimmter Mengenstrukturen (Clustering) allerdings eine sehr hohe Schwelle an massenhafter Datenerzeugung erreichen müsse, die durch reine benutzergenerierte Kategorien oft nur schwer zu erreichen sei.

SIMON DONIG (Passau) stellte stellvertretend für ein größeres Forschungsteam (Maria Christoforaki, Bernhard Bermeitinger, Siegfried Handschuh) die Entwicklung einer auf Deep Learning-Algorithmen beruhenden Einordnung einheitlich abgebildeter klassizistischer Möbel. Im Laufe der Entwicklung ließ sich durch gezieltes Training die Treffergenauigkeit der Kategorisierung durchschnittlich an 80 Prozent heranführen. Dem Algorithmus gelang schließlich auch die korrekte Einordnung gezeichneter Objekte, wenn auch mit der Einschränkung, dass ihm bestimmte Formen perspektivischer Darstellungen (in Fotografie und Zeichnung gleichermaßen) Schwierigkeiten bereiteten. Zudem trat eine Verzerrung zugunsten der zahlreichsten Klassen auf, denen der Algorithmus ihm unbekannte Objekte oftmals zuordnete. Weitere Herausforderungen für die Zukunft seien die Zuordnung mehrerer Objekte auf einem Bild sowie die Identifizierung einzelner ästhetischer Motive eines Objektes sein.

In der Sektion „Geodaten und Visualisierung“ sprach zunächst ANDREAS DIX (Bamberg) über das im Aufbau befindliche historische Geoinformationssystem zu den Staatenwelten Mitteleuropas in der Frühen Neuzeit (FNZ GIS). Das GIS versuche die kartographische Lücke zu schließen, die durch die aufgrund der komplexen Territorialstruktur des Alten Reichs verursachten uneinheitlichen Überlieferung von Karten entstand. Diese Komplexität und Uneinheitlichkeit im Quellmaterial erschwere überdies die Visualisierung der Geodaten im Zeitverlauf. Als Lösung biete das System Oberflächen für ausgewählte Zeitabschnitte an.

Von der methodischen Verknüpfung von Datenbestand und Forschungsfrage durch Visualisierung handelte der Vortrag von ANDREA LINDMAYER-BRANDL und CAROLINE ATZL (beide Salzburg) zu „VDM Maps: Frühe deutsche Musikdrucke in Raum und Zeit“. Auf der Grundlage einer beständig wachsenden Datenbank gedruckter Musikquellen könne das Projekt auf eine detailliert strukturierte Datengrundlage zurückgreifen. Für die Analyse räumlich-zeitlicher Fragestellungen müssten jedoch gezielt Visualisierungsanwendungen entwickelt werden, um eine sinnvolle Filterung erst zu ermöglichen.

Dass eine heterogene, aber dennoch dichte Quellenbasis einheitliche Schlussfolgerungen zulässt, konnte ALBERT WEBER (Regensburg / Gießen) anhand seiner quantitative Analysen historische Mythenbildung rund um die Figur des Vlad Dracula belegen. Zu diesem Zweck kombinierte Weber mehrere Quellengattungen und Datenbestände (Ausstellungsorte und -frequenzen von Urkunden, Biogramme politischer Eliten) mit der einheitlichen Fragestellung, inwiefern die Herrschaft Vlads III. disruptiv auf die Geschichte der spätmittelalterlichen Wallachei gewirkt habe. Diese mythengestützte Annahme konnte er anschließend aus mehrfacher Perspektive zurückweisen.

Die letzte Sektion widmete sich schließlich der Netzwerkanalyse. PAUL THURNER (München) stellte seine politikwissenschaftlichen Analysen der Entwicklung des Waffenhandels in der Nachkriegszeit (1953–2013) vor. Die steigende Komplexität der Daten verlange dabei neben der klassisch deskriptiven Statistik auch inferenzstatistische Verfahren, um bedeutsame Merkmale herauszuarbeiten, die Netzwerken endogen gegeben sind. Erst hier spiele die Netzwerkanalyse ihre eigentlichen Stärken aus. Auf die Empirie übertragen lieferte Thurner über die Analyse transitiver Rüstungsbeziehungen zwischen Staaten dann einen Beleg für die Polarisierung der Welt im Kalten Krieg der 1950er-Jahre.

MARK SVEN HENGERER, ISABELLA HÖDL-NOTTER und JULIAN SCHULZ (alle München) sprachen über ihr Projekt der „Dynastie im Raum“. Es sei unter anderem ein einschlägiges Beispiel für die Einbindung disziplinenübergreifender Gruppenarbeit in der Lehre, da es in mehreren Hauptseminaren vorangetrieben wurde und wird. Die Darstellung dynastischer Grabstätten der Habsburger ermögliche einerseits eine schlagkräftige räumliche Darstellung, biete andererseits aber auch die Möglichkeit nach den Erkenntnisgrenzen von Visualisierungen zu fragen.

Schließlich stellte EMANUELE SBARDELLA (Berlin) seinen Atlas der Numismatischen Landschaften im Nationalsozialismus vor. Die 'Landschaft' dient dabei als Modell einer Netzwerktopographie zwischen den verschiedenen Handelspunkten, über die u. a. jüdische Münzsammlungen zunächst ihren Besitzern entzogen und über ein weiträumiges Gebiet abgewickelt wurden.

Den Abschluss der Tagung bildete eine von ECKHART ARNOLD (München) moderierte Paneldiskussion mit RAMÓN REICHERT (Wien), Paul Thurner und NICOLE SAAM (Erlangen-Nürnberg). Hier ging es nochmals um die übergreifende Frage nach dem tatsächlichen Neuigkeitswert der Digital Humanities und der Rolle formaler Methoden in den Geistes- und Sozialwissenschaften in diesem Feld.

Ramón Reichert kritisierte die bisherigen Versprechungen einer formal gestützten Geisteswissenschaft, die dann zur unhaltbaren Aussagen führe, wenn die Wertgeladenheit von Methoden unter- und der Objektivitätsanspruch von Wissenschaft überschätzt werde.

Nicole Saam wandte wiederum den Blick auf die Erwartungshaltung der Digital Humanities und zog klare definitorische Trennlinien: ‚Digitale‘ Methoden zu verwenden sei in den Sozialwissenschaften kein Novum. Allerdings habe auch die mit quantitativer Forschung vertraute Soziologie keine Erfahrung mit Big Data, da die Größe der üblicherweise operationalisierbaren Datensätze dem schlicht nicht entspreche. Angesichts einer deutlich größeren, heterogenen und ihrer Herkunft nach uneindeutigen Art von Datenmaterial, dürfe man nicht die empirische Überprüfbarkeit vergessen.

Paul Thurner stimmte seiner Vorrednerin zu, wies aber auch auf die Leistungsmöglichkeit und Fruchtbarkeit quantitativer Verfahren hin, solange man sich innerhalb ihrer Prämissen bewege. Auch müsse man ihren universellen methodischen Anspruch ernst nehmen.

In der abschließenden Plenumsdiskussion stand die Empirie erneut im Vordergrund. Das Postulat empirischer Überprüfbarkeit müsse auch außerhalb formaler Modellierbarkeit als Maßstab für deren Ergebnisse anerkannt werden. Diese Grenze zwischen Modell und Empirie möglichst sinnvoll und anschlussfähig zu ziehen, bleibe eine neue alte Aufgabe – auch unter digitalen Bedingungen.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Datenanalyse

Francois Bry (München): Worum es bei „Digital Humanities“ eigentlich geht – Ein Denkanstoß

David Schmiedel (Magdeburg): Analysing Beliefs Religion and Hallowing Attributions in Modern Society

Stefanie Schneider (München): Mathematische Modelle zur Bestimmung von Ähnlichkeitsbeziehungen in der Kunstgeschichte

Sektion 2: Bildanalyse

Harald Klinke (München): Big Data in der Kunstgeschichte

Sabine Lang (Heidelberg): Ordnungsbetrachtung im digitalen Kontext

Simon Donig / Maria Christoforaki / Bernhard Bermeitinger / Siegfried Handschuh (alle Passau): Visual Artefacts Through the Black Box: Analysing Deep Learning Classifcation of Neoclassical Furniture Images

Sektion 3: Geodaten und Visualisierung

Andreas Dix (Bamberg): FNZ GIS – Historisches Informationssystem zu den Staatenwelten Mitteleuropas in der Frühen Neuzeit

Andrea Lindmayr-Brandl / Caroline Atzl (beide Salzburg): VDM Maps: Frühe deutsche Musikdrucke in Raum und Zeit

Albert Weber (Regensburg / Gießen): Quantitative Analysen zum dokumentarischen und narrativen Quellenbestand zur Herrschaft des Vlad Dracula (1431-1476)

Sektion 4: Netzwerkanalyse

Paul Thurner (München): Network Interdependencies and the Evolution of Arms Trade 1953-2013

Mark Sven Hengerer / Isabella Hödl-Notter / Julian Schulz (alle München): Dynastie im Raum. Die Grabstätten der Habsburger

Emanuele Sbardella (Berlin): Atlas der Numismatischen Landschaften im Nationalsozialismus (#AtNuL_NS)

Paneldiskussion: Möglichkeiten und Grenzen formaler Methoden in den Geistes- und Sozialwissenschaften

Paul Thurner (München): Warum sind formale Methoden in den Sozialwissenschaften sinnvoll und nützlich?

Ramón Reichert (Wien): Digital Humanities & Critical Visual Literacy

Nicole J. Saam (Erlangen-Nürnberg): Sind formale Methoden der Sozialwissenschaften auf die Geisteswissenschaften übertragbar?


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