Irrtümer und Glücksfälle in der Medizin

Irrtümer und Glücksfälle in der Medizin

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.04.2005 - 30.04.2005
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Von
Viola Balz, Abteilung für Geschichte der Naturwissenschaften mit Schwerpunkt Pharmaziegeschichte, TU Braunschweig

Das Spannungsfeld zwischen Irrtümern und Glücksfällen in der Medizin war das Thema des diesjährigen Fortbildungsseminars des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung.

Die Vorstellungen von Irrtümern und Glücksfällen in der Medizin sind dabei Bestandteil einer öffentlichen Debatte, welcher hier auch eine Multiplikatorenfunktion zukommt und in der häufig eine Legitimität von Praktiken und neuen Therapieformen verhandelt wird. In diesen Auseinandersetzungen rücken auch Vorstellungen von Heilung und Heilbarkeit in das Zentrum des Interesses. Dabei sind die Erfahrungen der PatientInnen auf der einen Seite notwendige Bestandteile dieses Diskurses, werden gleichzeitig aber auch als Störung konstitutiert und aus diesem ausgeschlossen. Auf der Seite der Erfindung neuer Therapeutika wird der Begriff der Serendipity zentral, der die Genese neuer medizinischer Errungenschaften häufig als Zufall, als Glück im Unglück, beschreibt. Dieser verdeutlicht die Suchbewegung in einem neuen Feld in der Medizin, die auf etwas zielt, was man noch nicht weiß. Mit eigenen Referaten und in Diskussionssektionen befassten sich WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen unter Leitung der Vorbereitungsgruppe - Philipp Osten (Stuttgart), Helen Bömelburg (Hamburg), Michael Geiges (Zürich) und Beate Schappach (Bern) - mit den verschiedenen Aspekten dieses Themenfeldes.

In der ersten Sektion "Debatte und Öffentlichkeit" referierte Andrea Kramarczyk (Chemnitz) über den Buchdrucker Gabriel Kantz in Zwickau zwischen Seuchenangst und Therapie um 1529. Die Debatte um die sog. englische Seuche, auch als "englischer Schweiß" bezeichnet, der sich durch ein "verworrenes Krankheitbild" auszeichnete, ist Bestandteil religiöser, medizinischer und populärer Auseinandersetzungen, Flugblättern und Handlungsanweisungen der Zeit. Ein bekanntes Pamphlet, von Kantz selber gedruckt, empfahl eine 24-stündige "Schwitzkur" mit zugenähten Bettlaken. Der schließlich selbst erkrankte Kantz hielt sich rigoros an diese Anweisung, verstarb jedoch am ersten Tag, und löste damit eine Debatte über die Sinnhaftigkeit der Therapie aus.

Katalin Czár (Budapest) sprach über Scheintodesfälle in Ungarn. Das Problem der ungenauen Unterscheidbarkeit zwischen Leben und Tod im 18. Jhd. brachte eine Debatte über die Kriterien des Todes auf. Empfahl Platon noch das Abschneiden von Gliedmassen zur Todesbestimmung, setzte sich im 18. Jahrhundert das 3-tägige Warten und Beobachten bis zum Eintritt der Verwesung als sicheres Todeszeichen durch. Die Scheintodesdebatte war dabei auch ein Thema in der Unterhaltungsliteratur. In Ungarn selbst wurden die Scheintodesfälle u.a. von den Ärzten Ferenc Flor und Ferenz Retteg literarisch verarbeitet. Diese verdeutlichten damit das Todesbild jener Zeit. Allerdings seien, so Czár, die ungarischen Todesfallbeschreibungen weniger anekdotenhaft als ihre europäischen Pendants und kämen der Realität somit wohl näher.

Über "Prinzipielle Irrtümer und therapeutische Glücksfalle" anhand der Kontroversen zwischen Homöopathie und Schulmedizin versuchte Nicholas Eschenbruch (Freiburg) zeitgenössischen Vorstellungen von Heil und Heilung herauszuarbeiten. Die Debatte um die Homöopathie und ihrer Beweisbarkeit im Zeitalter der naturwissenschaftlichen Medizin fokussiert sich dabei auf das Problem der Wahrheit bzw. mangelnden theoretischen Beweisbarkeit der Homöopathie einerseits, andererseits aber auch auf die Möglichkeit der Evaluierung therapeutischer Erfolge derselben. Eschenbruch analysierte, dass nicht die beweisbare Beseitigung von Krankheiten, sondern die Möglichkeit der Einordnung von Krankheit in die Lebensgeschichte, die eine eigene Krankheitserzählung der PatientInnen in der Homöopathie ermögliche, deren Erfolge bedingt und Sinnstiftung hervorbringe. Diese stehe im Gegensatz zu einer Schulmedizin, die sich genau über den Ausschluß einer solchen Subjektivität aus dem Forschungsprozess konstituiert.

In der zweiten Sektion "Heilung und Medikament in der Psychiatrie" betrachtete Salina Braun (Göttingen) die Trennung der vermeintlich heilbaren und unheilbaren PatientInnen in zwei deutschen Anstalten von 1800 - 1850, in der Gründungsphase der Psychiatrie. Am Bsp. der Anstalt Hofheim, welche die als "lebenslang geisteskrank" Definierten behandeln sollte und der Kontrastierung derselben mit der Heilanstalt Siegburg, welche nur wenigen, noch nicht lange leidenden "Heilbaren" offenstand, arbeitete Braun Kriterien der Heilung heraus. Dabei sorgten v.a. auch Probleme der Klassifikation dafür, dass weniger medizinische Kriterien der "Heilung" sondern v.a. soziale Kriterien der "Ungefährlichkeit" bzw. "sozialen Integration" über ein Verbleiben in der Reformanstalt Siegburg oder eine Entlassung entschieden und so konstitutiv für die Unterscheidung von Heilbarkeit/ Unheilbarkeit wurden.

Am Beispiel der Malariatherapie und ihres Einsatzes in der Psychiatrie zeigte Marion Hulverscheidt (Heidelberg) u.a. die Verschränkungen zwischen Tropenmedizin und Psychiatrie auf. Zu Beginn des 20. Jhd. umfasste die Gruppe der "Paralytiker" mehr als die Hälfte der PsychiatriepatientInnen, für die es kaum Behandlungsmöglichkeiten gab. Zwar zeigten die Behandelten nach Verabreichung der Malariatropika und darauf folgender Fieberanfälle nur in geringer Zahl eine Verbesserung bis hin zur Arbeitsfähigkeit, die als zentrales Kriterium der "Heilung" galt. Dennoch erhielt Wagner-Jauregg 1927 den Nobelpreis für Medizin für den Einsatz der Malariatherapie in der Psychiatrie. Vor diesem Hintergrund zeigte Hulverscheidt auch die interdisziplinären Verschränkungen einer an der Erprobung der Malariatherapie interessierten Tropenmedizin auf, die durch das Verbot deutscher Kolonien durch die Versailler Verträge einen neuen Erprobungsraum brauchte und ihn in der Psychiatrie fand.

Gleich zwei Beiträge beschäftigten sich mit der Einführung des Chlorpromazins in der Psychiatrie und fokussierten die Frage, ob sich dieses sich aufgrund seiner therapeutischen Überlegenheit durchsetzte. Thorsten Noack (Düsseldorf) zeigte die Debatte um die Einführung des Chlorpromazins vor dem Hintergrund der zeitgenössischen somatischen Verfahren in den 1950ern auf und fokussierte sich dabei auf die Schockverfahren und die Lobotomie. Eine quantitative Analyse der Verabreichung von Chlorpromazin an der ehemaligen Karl-Bonhöffer-Nervenklinik zeigte, das man dort bis ca. 1957/58 die beiden somatischen Verfahren häufiger eingesetzte, obwohl Chlorpromazin bereits 1953 eingeführt wurde. Noack machte hier weniger die Effekt des Chlorpromazins selbst, sondern vielmehr das gegenüber der Schocktherapie und der Lobotomie kritischen Klima in der Öffentlichkeit und in der Rechtssprechung zu PatientInnenrechten für den Niedergang dieser Verfahren verantwortlich. Diese Lücke sei dann durch das Chlorpromazin ausgefüllt worden.

Viola Balz (Berlin/Braunschweig) verfolgte die Einführung des Chlorpromazins anhand einer Analyse der Broschüren der Firma Bayer, in denen bis ca. 1958 andere Indikationen als Psychiatrische im Vordergrund standen. Vor diesem Hintergrund diskutierte sie die in der Sekundärliteratur zu Chlorpromazin viel diskutierte Serendipityhypothese: nicht nur ob der Einsatz in der Psychiatrie zufällig erfolgte, sondern aufgrund welcher technischer Neuerungen und Experimentalsysteme sich schließlich ein Begriff der Wirkung herausbildet, rückte dabei ins Zentrum des Interesses. Die Diskussion verschiedener Wissenschaftlergruppen über neue Experimentalsysteme zur Evaluierung der psychotropen Wirkung müssten dabei notwendig die subjektiven Erfahrungen der PatientInnen ausschliessen, obwohl diese in der Psychiatrie eigentlich Bedingung ihrer Erkenntnis ist. Balz stellt die Frage, ob man diesen nicht in die Wirksamkeitsanalyse mit einbeziehen müsse.

Die Sektion "Medizin und Menschenbild" (Diskursanalyse von Denkmustern) wurde mit einem Beitrag von Borbala Csoma (Prag) eröffnet. Sie diskutierte die Debatte um die Therapie des Hydrotherapeuten Vinzenz Priegnitz zwischen Scharlatanerie und Genie in der ersten Hälfte des 19. Jhd. Dieser fand in Deutschland viele Jünger, blieb jedoch in Frankreich als gefährlich verschriehen, da sich seine Behandlungsmethoden nicht auf wissenschaftlichen Fakten berufen konnten. Wasser als Therapeutikum wurde von Priegnitz sowohl in Form von Bädern, aber auch als Getränk verwand. Seine Lehre beruhte dabei auf der Behandlung von gestörten Kräften im Körper, die durch die kurative Kraft des Wassers ins Gleichgewicht gebracht werden sollten. Priegnitz Fokussierung auf die gesamte Person des Kranken sorgte dafür, dass ihm viele PatientInnen über ihren Gesundheitszustand in Briefen berichteten und so Behandlungsirrtümer und Glücksfälle sichtbar wurden.

Über den "dressierten Menschen" in der Arbeitsmedizin sprach Julia Schäfer (Düsseldorf). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildete sich das Bild des Menschen als Mensch -Maschinen - System heraus. Gleichzeitig etablierte sich mit der Entwicklung der Psychotechnik jedoch auch ein Verständnis, dass die Maschine dem Menschen angepasst werden müsse. Die daraus folgende Standardisierung der Leistungsbewertung und die Erprobung neuer leistungssteigernder Pharmaka wie dem Pervitin in der Fabrik führte Schäfer dabei zu der Frage, ob die Fabrik so auch zum Labor wurde und der menschliche Körper - als boundary objekt - ein Austragungsort von Rationalisierungs- und Identifizierungsdebatten unter dem Deckmantel medizinischer Heilsversprechen.

"Von blühenden Leibern und syphilitischen Prostituierten" handelte der Beitrag von Katja Sabisch (Bielefeld). Sie arbeitete anhand der Debatte um die Syphilisexperimente des Breslauer Dermatologen Albert Neisser den Status der Versuchsperson im medizinischen Menschenexperiment heraus. In Neissers Versuchsprotokollen bekam die Versuchsperson, so Sabisch, die epistemische Position eines technischen Dinges und wurde so unsichtbar. Diese käme erst in den Diskursen der Versuchsperson als politisches Ding wieder zum Vorschein, werde hier aber von den beteiligten Fraktionen erzeugt. Im Streit um die Frage, ob es sich bei Neissers Syphilisexperimenten um legitime Versuche handelte oder um gefährliche Menschenexperimente, wurden die Versuchspersonen von den Befürwortern als bereits infizierte, syphilitische Prostituierte bezeichnet von den Gegnern hingegen als "Knaben mit blühenden Leibern" identifiziert und so erst in der öffentlichen Debatte konstruiert.

Über die Hartnäckigkeit eines wissenschaftlichen Irrtums in dem Diskurs zu Gebärmutterkrebs und "sexueller Ausschweifung" referierte Karen Nolte (Würzburg). Im Kontext der mangelnden Behandlungsmöglichkeiten in der ersten Hälfte des 19. Jhds etablierte sich ein medizinischer Diskurs, der sich vor allem auf die Prävention von Gebärmutterkrebs bezog und hier Regeln für ein richtiges Sexualverhalten jenseits eines quantitativen und qualitativen "Zuviels" aufstellte. Hier konnte Nolte die Prozesse einer sexuellen Normierung der Frau aufzeigen. Nicht nur der außereheliche Verkehr, sondern auch das Lesen von erregender Literatur, die die sexuelle Phantasie erhitzten, wurden als krankheitserregend identifiziert. Erst mit der Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten Ende des 19. Jahrhunderts verschwindet dieser Diskurs aus der offiziellen Literatur und findet sich nur noch in Ratgebern, Verweise auf den Zusammenhang von sexuellen Fehlverhalten und Krebserkrankungen finden sich jedoch auch noch bei zeitgenössischen Selbsthilfegruppen.

Im letzten Abschnitt des Seminars "Definitionsmacht aus dem Labor" sprach Frank Stahnisch (Mainz) über "Erratum et fortuna" in Rudolf Virchows (1821-1902) Vorstellungen zu Neuroglia. Virchows Beschreibung der Neuroglia Zelle im Gehirn als Nervenkitt konstituierte lange die Lehrmeinung der Neurologie, obwohl sie bereits zeitgenössische Kritiker fand. Erst mühsam setzte sich in den 1920ern die Erkenntnis durch, das es sich bei der Neuroglia nicht um passives Nervenkitt, sondern um aktives Gewebe handelte, was wohl auch mit Virchows großer Reputation und Autorität zu Lebzeiten zu tun hatte. Stahnisch beschreibt dieses ondulieren zwischen dem Glücksfall der Erstbeschreibung durch Virchow und dem Irrtum des Nervenkitts als Stützgewebe jedoch als produktiven Fehler, der zu weiterer Forschung anregte und erst ein Wissen über die Neurogliazelle hervorbrachte.

Abschließend verortete Jan Steinmetzer (Würzburg) das Medikament Cyclosporin A je nach Standpunkt des Betrachters zwischen Glücksfall und Irrtum. Für die von Transplantationen betroffenen PatientInnen und das produzierende Unternehmen, so Steinmetzer, stellte sich die Genese des Wirkstoffes als Glücksfall dar, die Fokussierung und Investitionspolitik in diesen kleinen Teilbereich der Medizin sei für andere "Volkskrankheiten" jedoch wiederum als Irrtum zu betrachten. Die Durchsetzung eines Medikamentes hänge wiederum nicht davon ab, ob es sich als wirksamer Glücksfall erweise, vielmehr seien hierfür marktpolitische Beweggründe ausschlaggebend.

Im Ganzen zeichnete sich das Fortbildungsseminar durch eine sehr kollegiale Atmosphäre, ein hohes Maß an gemeinsamen Denken an einer Problemstellung und einer großen begrifflichen Klarheit aus und wurde von allen Beteiligten als sehr anregend für die weitere Forschung und potentielle weitere Kooperation angesehen.


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