Der Limes Saxoniae – Fiktion oder Realität?

Der Limes Saxoniae – Fiktion oder Realität?

Organisatoren
Oliver Auge, Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt Schleswig-Holstein, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Ort
Oldenburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.10.2017 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Henning Andresen / Stefan Brenner, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Da die Frage nach der Struktur, Beschaffenheit und Sicherung von Grenzen als Bestandteil zahlreicher politischer und gesellschaftlicher Debatten aktueller denn je ist, bietet sich vor diesem Hintergrund auch die Beschäftigung mit längst vergangenen Grenzen und Grenzräumen an. In seiner um 1075 verfassten „Hamburger Kirchengeschichte“ berichtet der Chronist Adam von Bremen vom Limes Saxoniae, der – festgelegt von Karl dem Großen – die Gebiete unter fränkischem Einfluss von dem Siedlungsraum der slawischen Abodriten als nordöstliche Reichsgrenze getrennt habe.

Die Frage nach der tatsächlichen Existenz dieser Grenze ist in der jüngeren Vergangenheit verstärkt zum Bestandteil wissenschaftlicher Diskussionen geworden. Aus diesem Anlass lud die Abteilung für Regionalgeschichte mit Schwerpunkt Schleswig-Holstein an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in Kooperation mit dem Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig zu einem eintägigen Symposium, welches von JENS BOYE VOLQUARTZ (Kiel) organisiert wurde, ein. Mit einem interdisziplinären Forschungszugang, der Beiträge von Experten aus der Archäologie, der Geschichts- und Sprachwissenschaft umfasste, wurde sich der vermeintlichen Faktizität des Limes Saxoniae kritisch angenähert.

Tagungsleiter OLIVER AUGE (Kiel) gestaltete den thematischen Einstieg und eröffnete die Veranstaltung mit einer Darstellung der Forschungsproblematik sowie einem vom 17. Jahrhundert bis heute reichenden Einblick in Forschungsstand und -geschichte zum Limes Saxoniae, dessen Existenz vereinzelt schon in Frage gestellt worden sei.

Die erste Sektion (Archäologie und Sprachwissenschaft) wurde durch DONAT WEHNER (Kiel) eröffnet, der sich in seinem Beitrag im Wesentlichen mit den Aspekten des Limes Saxoniae als fortifikatorische Grenzanlage und ethnisch-kulturelle Trennlinie auseinandersetzte. Im Diskurs mit jenen Perspektiven auf den Limes kam Wehner zu dem Ergebnis, dass der Limes archäologisch durchaus als eine durch beiderseitige Burganlagen gesicherte Grenze verstanden werden könne, jedoch eher im Sinne einer Grenzmark oder eines offen gestalteten Grenzgebietes und nicht, wie Adam suggeriert, als lineare, statische Grenzlinie. Diese Erkenntnis decke sich auch mit den Ergebnissen, die hinsichtlich des Limes als Kontakt- und Handlungszone gewonnen wurden.

Archäologische Grabungen präsentierten den Limes als Interaktionszone, was nicht zuletzt durch trans- und cisliminale Kulturfunde sächsisch-fränkischer oder slawischer Machart belegt werden könne. Im Sinne einer Conclusio müsse der Limes Saxoniae demzufolge als dynamischer Grenzraum verstanden werden, der durchaus unter Betonung der fortifikatorischen Funktion in Konfliktzeiten die Grenzregion sichern konnte, jedoch gleichermaßen auch Migration, Handel und Austausch ermöglichte.

FELIX BIERMANN (Greifswald) führte die Beiträge aus der Sektion Archäologie und Sprachforschung fort. Zunächst wurde einleitend festgestellt, dass der Limes Saxoniae nordöstlicher Bestandteil einer sich von Süden nach Norden erstreckenden im heutigen Deutschland zu verortenden Grenzsituation gewesen sei, durch die slawische Siedlungsgebiete im Osten von westgermanischen Siedlungsgebieten im Westen abgegrenzt worden seien. Anhand der bereits erforschten Grenzverhältnisse zwischen Magdeburger Börde und Hannoverschem Wendland zeigte Biermann dabei beispielhaft, dass eine Grenze am östlichen Rand des Ostfrankenreiches, dies gilt also gleichermaßen für den Limes Saxoniae, auf Basis von archäologischen Funden allerdings nicht als eine lineare, siedlungsstrukturelle oder gar politische Grenze gedacht werden dürfe, wie Adam von Bremen retrospektiv in der „Hamburger Kirchengeschichte“ suggeriert, sondern betontermaßen als dynamische Misch- und Übergangzone, an die ein komplexes Gefüge an Institutionen und Handlungsspielräumen gebunden ist, verstanden werden müsse. Wesentliche Momente solch einer Grenzrealisierung bildeten dabei eine dosierte Kriegs- und Gewaltanwendung auf der einen, eine politische Vorfeldsicherung, die exemplarisch eine Integration von Herrschaftsträgern beinhalte, auf der anderen Seite. Dieses Ergebnis stelle jedoch nicht die historische Faktizität des Limes Saxoniae per se in Frage, sondern wie Biermann hervorhob, lediglich die Annahme Adams von Bremen, die den Limes Saxoniae als eine lineare und statische Burgen- und Grenzlinie in Ostholstein präsentiere.

JÜRGEN UDOLPH (Leipzig) befasste sich zum Abschluss der ersten Sektion mit der „Geschichte Schleswig-Holsteins aus namenkundlicher Sicht“. Nach einer einleitenden Übersicht über Forschungsgeschichte und -stand sowie aktuelle Trends der Ortsnamenkunde, stellte der Referent in einem weit gefassten Vortrag die Siedlungsgeschichte Schleswig-Holsteins anhand der Untersuchung von Orts- und Flurnamen vor. Als Spiegel der Besiedlungsgeschichte einzelner Orte und größerer Regionen ließen diese Rückschlüsse auf die Siedlungsgebiete verschiedener Gruppen zu. So reflektierten etwa die vorherigen Namen des Tagungsortes Oldenburg, Bramnes (altsächsisch / westgermanisch) und Starigard („Alte Burg“, slawisch) die vorchristlichen Besiedlungsphasen des Ortes. Auch Wanderungsbewegungen innerhalb und außerhalb einer Sprachgemeinschaft ließen sich über die Ortsnamen nachvollziehen, wie der Referent anhand von Ortsnamen mit südslawischem Einfluss im Untersuchungsgebiet veranschaulichte. Udolph verwies ferner auf das Phänomen der deutsch-slawischen Mischtoponyme in der Region, welches erst seit jüngerer Zeit intensiver im Fokus der Forschung steht. Diese seien ein Zeichen für engen räumlichen Kontakt zwischen deutsch-und slawischsprachigen Gruppen – das Bild eines Limes Saxoniae als starr verlaufende Grenze zwischen beiden ethnischen Gruppen müsse demnach hinterfragt werden.

LUDWIG STEINDORFF (Kiel) eröffnete die zweite Tagungssektion (Geschichtswissenschaft) mit einem Vortrag über das Slawenbild Helmolds von Bosau in dessen Chronica Slavorum. Die Slawen seien in der Auffassung Helmolds deutlich die „Anderen“, der – bei Helmold allerdings nicht direkt erwähnte – Limes Saxoniae sei als Siedlungsgrenze zwischen ethnischen Gruppen im Text durchgehend wirksam und spürbar, jedoch nicht hermetisch geschlossen. Unter dem Eindruck schriftlicher und mündlicher Überlieferungen und der Reproduktion eigener Vorurteile zeichne Helmold zunächst ein negatives Bild der Slawen, das von Übertreibungen und drastischen Beschreibungen geprägt sei. Mit der zunehmenden Verarbeitung eigener Erfahrungen im Grenzgebiet verändere sich dieses Bild im weiteren Verlauf des Werkes zu einer differenzierteren und empathischeren Darstellung. Die Bewertung bleibe insgesamt jedoch ambivalent und schwanke zwischen der bewussten Abgrenzung von den ethnisch Fremden und der Annäherung an mögliche Mitchristen. Steindorff betonte zudem, dass die von Helmold schlussendlich als Erfolgsgeschichte geschilderte Christianisierung gleichermaßen eine Verlustgeschichte auf slawischer Seite gewesen sei. Demnach hätten Verdrängung, Identitätsverlust und Assimilation – anders als etwa im Fall von Polen – die Konsolidierung eines eigenen Reiches verhindert.

HANS-WERNER GOETZ (Hamburg) betrachtete in seinem Vortrag die Wahrnehmung und Bedeutung von Grenzen in der Karolingerzeit. Goetz widersprach der weithin geläufigen Meinung, dass sich feste, lineare Grenzen erst im Hochmittelalter aus den vorherigen dynamischen Grenzräumen zwischen Herrschaftsgebieten entwickelt hätten, und führte zur Untermauerung der These zahlreiche Indizien auf. So spiegelten etwa bereits karolingische Quellen deutlich das Verständnis von klar voneinander abgegrenzten Gebieten, die auch als solche wahrgenommen wurden, wider. Grenzübertritte seien demnach in alle Richtungen möglich und als solche auch zu erkennen gewesen, was für den eindeutigen Verlauf einer Grenze und die Kenntnis über diesen spreche. Auch Verhandlungen über Grenzverläufe, die Existenz von Grenzorten und Maßnahmen zur Sicherung von Grenzen seien Zeugen von der frühmittelalterlichen Vorstellung von Grenzen, die einen Grenzsaum beiderseits der Grenze überdies keinesfalls ausschließe. Goetz forderte dazu auf, auch in der Forschung zum Limes Saxoniae das frühmittelalterliche Verständnis von Grenzen stärker zu berücksichtigen und den bisherigen Forschungsstand dahingehend zu hinterfragen.

MATTHIAS HARDT (Leipzig) versuchte in seinem Vortrag ein Bild des Limes Saxoniae als slawischer Außengrenze zu präsentieren und nahm damit eine polabisch-abodritische Perspektive auf diese Grenzregion ein. Unter Verwendung vieler verschiedener Beispiele aus Früh- und Hochmittelalter, die von den Awarenringen über die Befestigungs- und Verteidigungsanlagen der Ungarn bis zu den Grenzsicherungsbauten der Böhmen reichten, präsentierte Hardt die Hage, unpassierbare Verhaue aus verkeilten Baumstämmen und Dornendickicht, als effektive und häufig anzutreffende Form der slawischen Grenzorganisation in Ostmitteleuropa. Als zentrale These seines Vortrags lässt sich die Annahme herausarbeiten, dass diese Form der Grenzanlage auch hinsichtlich der slawischen Grenzrealisierung am Limes Saxoniae Verwendung gefunden habe, auch wenn dafür, nicht zuletzt aufgrund der Vergänglichkeit jener Materialien, kaum archäologische Beweise herangezogen werden könnten. Als Beleg dafür zog Hardt slawische Toponyme heran, welche auf Mannhagen, Presieken und andere Bezeichnungen verwiesen und an rekonstruierten Verläufen des Limes Saxoniae anzutreffen seien.

Der letzte Vortrag wurde von GÜNTHER BOCK (Großhansdorf) gehalten, der damit nicht nur die Sektion Geschichtswissenschaft abschloss, sondern zugleich auch die Reihe der Tagungsbeiträge beendete. Zentrales Moment seiner Ausführungen war die These, dass Adam von Bremen im Auftrag von Erzbischof Adalbert oder dessen Nachfolger Liemar den Limes-Text, der angeblich auf Grundlage einer Urkunde von Karl dem Großen entstanden sein soll, seiner Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum gezielt und bewusst erfunden habe und dieser somit als Fälschung zu charakterisieren sei. Vielfache Parallelen zeigen sich in der gleichfalls von Adam überlieferten, Kaiser (!) Karl dem Großen zugeschriebenen Stiftungsurkunde des Bistums Bremen von 788. Zentral ist hier, dass der Limes-Text Adams nach Bocks Interpretation versuche, die Ostgrenze des Erzbistums Hamburg-Bremen nicht länger an der Bille enden zu lassen, sondern – gemäß seines postulierten Limesverlaufs – weiter östlich an der Delvenau. Als Kalkül hinter dieser Fälschung benennt Bock die Absicht Adalberts und des Erzbistums, das eigene Territorium auf Kosten der rivalisierenden Billunger zu erweitern, nicht zuletzt, um von den dadurch gesteigerten Einnahmen zu profitieren. Der von ihm exemplarisch näher untersuchte Limes-Abschnitt des Trave-Walds zeigt sich im Gegensatz zum Limes-Text vom 9. bis zum 12. Jahrhundert stets als intensiv besiedelte Region. Bocks These wurde im Nachgang kontrovers diskutiert.

Wenngleich die im Titel der Tagung aufgeworfene Frage nach der Fiktion oder Realität des Limes Saxoniae auch am Ende der Veranstaltung nicht abschließend zu beantworten war, so gaben die Vorträge doch zahlreiche Anregungen für eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema. Insbesondere der Appell für interdisziplinäre Zusammenarbeit und das kritische Hinterfragen gängiger Narrative war aus allen Beiträgen herauszuhören. Über das Inhaltliche hinaus zeigte zudem die hohe Zahl an Besucherinnen und Besuchern sowie die überaus positive Resonanz aus dem Publikum erneut die Bedeutung von Fachtagungen als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit und bekräftigte die Veranstalter, auch in Zukunft entsprechende Veranstaltungen „in der Region“ stattfinden zu lassen.

Konferenzübersicht:

Oliver Auge (Kiel): Begrüßung und Einführung

Sektion 1: Archäologie und Sprachforschung

Donat Wehner (Kiel): Archäologische Grenzgeschichten. Sachsen, Slawen und der Limes Saxoniae

Felix Biermann (Greifswald): Archäologische Beobachtungen zur westlichen Grenze slawischer Besiedlung im Mittelalter

Jürgen Udolph (Leipzig): Geschichte Schleswig-Holsteins aus namenkundlicher Sicht

Sektion 2: Geschichtswissenschaft

Ludwig Steindorff (Kiel): Die Slawen bei Helmold von Bosau: Vorwissen, Vorurteil und eigene Erfahrung

Hans-Werner Goetz (Hamburg): limes, confinia, marca. Zur Wahrnehmung und Bedeutung von Grenzen in der Karolingerzeit

Matthias Hardt (Leipzig): allenthalben verhaget: über das Aussehen slawischer Außengrenzen

Günther Bock (Großhansdorf): Eine Grenze Karls des Großen, um 1075 von Adam konzipiert? Zur möglichen Motivlage eines Fälschers