Flucht, Vertreibung und Integration in konfessioneller Perspektive

Flucht, Vertreibung und Integration in konfessioneller Perspektive

Organisatoren
Evangelische Akademie Thüringen; Arbeitskreises Protestantismusforschung (AKPF) in Zusammenarbeit mit der Stiftung Aufarbeitung SED-Diktatur
Ort
Neudietendorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.04.2005 - 10.04.2005
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Von
Roland Löffler, Philipps-Universität Marburg

Zwölf bis 15 Millionen Deutsche mussten während und nach dem Zweiten Weltkrieg ihre osteuropäische Heimat verlassen. Etwa acht Millionen kamen in die spätere Bundesrepublik, 4,1 Millionen in die SBZ. Die nachhaltige Veränderung der Bevölkerung in der DDR, die Neuankömmlinge machten einen Bevölkerungsanteil von 24 Prozent aus, provozierte erhebliche soziale Spannungen. Die Flüchtlinge wurden zunächst in ländlichen Gebieten angesiedelt, in denen ihnen die Bevölkerung eher ablehnend gegenüberstand. Die fehlende nationale Solidarität enttäuschte die Vertriebenen. Viele wanderten in die Städte ab. Entgegen dem offiziellen DDR-Mythos der schnellen Eingliederung sprach deshalb Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte, Abteilung Berlin von einer „Integration durch heftige Konflikte“. Schwartz steckte mit seinem Einführungsreferat den zeit-, gesellschafts- und politikhistorischen Rahmen für die III. Jahrestagung des Arbeitskreises Protestantismusforschung ab, die sich in der Evangelischen Akademie Neudietendorf dem Thema „Flucht, Vertreibung und Integration in konfessioneller Perspektive“ widmete. Die sozio-politische und konfessionelle Perspektive der Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR ist – wie überhaupt die Integrationspolitik im sozialistischen deutschen Teilstaat – ein relativ neues Forschungsgebiet, das in Neudietendorf durch europäische Perspektiven erweitert werden sollte. Im Zentrum der Tagung standen die sozialen und politischen Transformationsprozesse in den unmittelbaren Nachkriegsjahren bzw. der frühen DDR, in deren Kontext die Integration der Ostvertriebenen zu verstehen ist. Die Implementierung der Klassenkampfpolitik, die Integration der SBZ/DDR in den sowjetisch dominierten Ostblock sowie die Entwicklung der spannungsreichen innerdeutschen Beziehungen berührten die Integration der Vertriebenen nachhaltig. Das trifft auch auf die Kirchen zu, die eine nicht unerhebliche Bedeutung als Integrationsinstanz besaßen. Mit einem Mix aus Überblicks- und Längsschnittsreferaten und Regionalstudien wollte die Neudietendorfer Tagung der konfessionellen Dimension der Vertreibungs- und Wiedereingliederungsproblematik nachgehen.

Seine These der konfliktreichen Aufnahme der Ostflüchtlinge führte Schwartz nicht nur auf die Sozial-, sondern auch auf die Integrationspolitik der DDR zurück, die Entgegenkommen mit Assimilationszwang verband. Der Arbeiter- und Bauernstaat beschloss einerseits schon 1950 ein Gesetz zur Verbesserung der Situation der „Umsiedler“ und verteilte 400 Millionen Ostmark Wohnungsbeihilfen an 700.000 Flüchtlinge. Andererseits anerkannte die DDR – anders als die Bundesrepublik – schon früh mit Rücksichtnahme auf die sozialistischen Bruderstaaten die Oder-Neiße-Grenze an. Die Betroffenen wurden dabei nicht gefragt. Eine Heimkehr in die ehemaligen deutschen Ostgebiete war damit ausgeschlossen. Die DDR-Vertriebenenpolitik wurde letztlich, wie Schwartz darlegte, vom Ost-West-Konflikt überlagert. Ein „Recht auf Heimat“ – wie von der Bundesrepublik gefordert – lehnte die DDR als Ausdruck „revanchistischen Denkens“ ab. Heimat war für die DDR keine geographische Größe, sondern ein politisches Projekt, so Schwartz. In der DDR-Diktion gab es deshalb auch keine „Vertriebenen“, sondern nur „Umsiedler“. Einige wenige kritische Stimmen in der DDR warfen der SED deshalb vor, die Ostgebiete verschleudert zu haben. Gegen gesellschaftliche Unterströmungen, die auch bei öffentlichen Demonstrationen ein Rückkehrrecht forderten, ging die SED-Führung gewaltsam vor. Kirchliche Stimmen bildeten subkutan eine Gegenöffentlichkeit zur verordneten Vertriebenenpolitik, leisteten jedoch auf der praktischen Ebene in den Gemeinden – von der SED-Führung meist unerkannt – einen wesentlichen Beitrag für die Integration der Flüchtlinge.

Im Kontext der Rekonstruktion des Vertriebenschicksals plädierte der Karlsruher Historiker Rolf-Ulrich Kunze für eine Re-Evaluierung der von 1951–1961 erschienenen Vertriebendokumentation Theodor Schieders. Da Schieder die Ostforschung im Dritten Reich mitbegründete, wurde seine zeithistorische Leistung nach 1945 von verschiedenen Fachkollegen besonders auf dem Frankfurter Historikertag von 1998 in Zweifel gezogen. Die Dokumentation stand in bestimmten Spektren der westdeutschen Geschichtswissenschaft unter dem Verdikt, Teil des deutschen Nationalismusprojekts und vom Vertriebenenministerium aus politischen Gründen initiiert worden zu sein. Kunze wies allerdings darauf hin, dass Schieder politischen Einflussnahmen widerstanden und sich um ein hohes Maß an Objektivität bemüht habe, was sich an der Kritik verschiedener Vertriebenenverbände zeige. Offensichtlich sei die Vertriebenen-Dokumentation aber Teil eines politischen Kampfes um die deutschen Ostgebiete gewesen.

Die von Schwartz beschriebene Zwangsassimilation hatte zur Folge, dass das Schicksal der Vertriebenen in der DDR tabuisiert wurde. Die traumatisierenden Erfahrungen des Heimatverlustes, der Gewaltexzesse der Roten Armee, die massenhaften Vergewaltigungen der flüchtenden Frauen – über das alles, so Clemens Vollnhals vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden, konnten und durften die Betroffenen nie öffentlich sprechen. Nur im privaten Umfeld und auch in den Kirchen gab es begrenzte Möglichkeiten, eine Kultur der Erinnerung zu entwickeln. Diese Erfahrung führte zu Abgrenzungserscheinen, weshalb die SED als „Partei der Russenfreunde“ bis zum Mauerbau 1961 nie breitere Bevölkerungskreise für sich gewinnen konnte. Für viele Menschen in der DDR passten das humanitäre Pathos der SED und das gleichzeitige Verbot von Vertriebenorganisationen nicht zusammen.

Der Wunsch nach Erinnerung suchte andere Wege. Die katholischen „Umsiedler“, die im fast ausschließlich protestantisch geprägten Mitteldeutschland nach 1945 ein Drittel der Bevölkerung stellten, trafen sich etwa zu Wallfahrten, um ihre heimatlichen religiösen Tradition weiterzuführen. Die SED-Regierung stand den katholischen Pilgern recht hilflos gegenüber. Selbst Massenverhaftungen bei Vertriebenentreffen zeigten wenig Wirkung. Die SED setzte deshalb auf die langfristige Umerziehung der Jugend.

Auch die evangelischen Landeskirchen nahmen sich karitativ und seelsorgerlich der Opfer der größten ethnischen Säuberungen der europäischen Geschichte an. Mit der Integration taten sich die protestantischen Gemeinden aber schwer. Auf der Insel Rügen, so der Historiker und Pfarrer Martin Holz (Schaprode), waren die dort angesiedelten, pietistisch geprägten Ostpreußen von der in ihren Augen „toten“ Volkskirchlichkeit der Einheimischen enttäuscht. Die Pfarrer freuten sich zunächst über die rege Beteiligung der Flüchtlinge am Gemeindeleben. Allerdings entstand nach kurzer Zeit ein erhebliches Problem: Mit ihrem starken Engagement prägten die Ostpreußen manche Gemeinden konfessionell derart um, das sich in ihnen fast nur noch Vertriebene, aber kaum mehr Insulaner einfanden – ein erhebliches Hindernis für eine zügige und reibungslose Integration.

Dagegen konnte die Berliner Theologin und Historikerin Katrin Rudolph darlegen, dass die Integration der Vertriebenen in der Region Wittenberg weitaus besser gelang als in anderen Teilen der SBZ/DDR. Sie führte dies auf eine relative gute Zusammenarbeit zwischen dem Kirchlichen Hilfswerk, dem Konsistorium und der Volkssolidarität nach 1948 zurück. Deshalb gelang es der Kirche auch – trotz der Antikirchenpolitik der DDR –, eine wichtige Rolle bei der gesellschaftlichen Integration der Vertriebenen in Sachsen-Anhalt einzunehmen.

Der Leipziger Doktorand Christian Lotz wies in seinem Beitrag zur Erinnerungspolitik im geteilten Deutschland am Beispiel der schlesisch evangelischen Kirche in der Region Görlitz und der „Gemeinschaft evangelischer Schlesier“ in Hannover darauf hin, dass es bei den in Niedersachsen angesiedelten evangelischen Schlesiern zunächst gar keine Erinnerungsdiskurse gegeben habe, weil von einer zügigen Rückkehr in ihre Heimat ausgegangen wurde. Das „Zwischenstadium“ der Vertreibung wurde – anders als im Vertriebenenministerium oder in der „Landsmannschaft Schlesien“ – nicht politisch, sondern theologisch als Gericht Gottes gedeutet. Gleichwohl kritisierten einzelne schlesische Pfarrer, die inzwischen in Westdeutschland lebten und arbeiten, die vorsichtige Haltung der „Gemeinschaft“ und votierten für Annäherung an die vom Ministerium und der Landsmannschaft verfochtenen heimatpolitischen Perspektive. In der Region Görlitz entwickelte sich dagegen eine andere Sicht der Dinge, weil diese Region der letzte Zipfel schlesischen Territoriums auf deutschem Gebiet verblieben war. Aufgrund der gesamtpolitischen Lage drängte allerdings die DDR-Regierung die Kirche dazu, den Bezug zu Schlesien aus ihrem Namen zu tilgen, was die Kirchenleitung jedoch bis in die späten 1960er-Jahre erfolgreich ablehnte. Dass die Synode dann 1968 doch die Umbenennung in die „Evangelische Kirche des Görlitzer Kirchenbezirks“ beschloss, deutete Lotz als eine veränderte Bezugnahme auf Schlesien, die von der innerdeutschen Politik mitverursacht wurde. Schlesien war in der Zwischenzeit – besonders durch die Politik der schlesischen Landsmannschaft in der Bundesrepublik von einem territorialen Heimatbegriff zu einem politischen Anspruchsziel geworden, was die SED als Zeichen des Revanchismus ausschlachten konnte. Die schlesischen Synodalen in Görlitz wollten politische Missverständnisse vermeiden und fügten sich letztlich dem staatlichen Druck.

Das lutherische Sachsen sah sich seit 1943 mit der Ankunft katholischer Sudetendeutschen und protestantischer Schlesier konfrontiert. Als Geste ökumenischer Solidarität stellten evangelische Gemeinden – wie im gesamten Gebiet der DDR – den Katholiken ihre Kirchen für Gottesdienste zur Verfügung. Die aus Schlesien geflüchteten evangelischen Theologen wurden trotz erheblichen Pfarrermangels zunächst nicht übernommen. Die Kirchenleitung wollte offene Pfarrstellen für die aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden sächsischen Geistlichen frei halten. Zudem meinte die Kirchenleitung, dass die schlesischen Pfarrer mit ihrer anderen – nämlich unierten – theologischen Tradition, die Calvinismus und Luthertum miteinander verband, nicht in die rein lutherische Landeskirche hineinpassten. Es dauerte bis in die 1950er-Jahre, ehe diese zumeist erfahrenen Praktiker, nachdem sie theologisch nochmals eingehend geprüft wurden, feste Stellen in Sachsen erhielten. Unmissverständlich lehnte die sächsische Landeskirche auch eigene Vertriebengemeinden und die seit 1945 abgehaltenen Heimatgottesdienste ab, so Markus Wurstmann, Doktorand an der Universität Leipzig. Parallelstrukturen waren unerwünscht, entstanden aber doch hier und da, weil den „Umsiedlern“ die strenge lutherische Liturgie fremd blieb. Die Landeskirche erwartete jedoch, dass sich ihre neuen Mitglieder vollständig in die sächsischen Gemeinden, ihre Liturgie und ihr Kirchenrecht einfügten. Das empfanden viele Flüchtlinge als aufgezwungenes „Korsett“ und wandten sich von den Gemeinden ab. Zu der von den Kirchen erhofften Intensivierung des kirchlichen Lebens durch die Vertriebenen kam es in der DDR damit nicht.

In der DDR gab es, wie die Münstersche Historikerin Heike van Hoorn ausführte, „Vertriebene erster und zweiter Klasse“: Unter den rund 800.000 Sudentendeutschen, die in der SBZ/DDR ankamen, befanden sich 50.000 ehemalige KP- und SP-Mitglieder. Da sich auf die Gruppe die These von der Kollektivschuld der Deutschen nicht anwenden ließ und die Beneš-Dekrete sie mit Ausnahmeregelungen bedachte, wurden ihnen von tschechischer Seite Privilegien bei der Umsiedlung zugestanden und ihre Ausreise als „freiwillig“ etikettiert. Auch die DDR instrumentalisierte die Umsiedlung dieser Gruppe politisch, galten ihre Angehörigen doch als wichtige Helfer beim Wiederaufbau eines antifaschistischen Deutschlands, obwohl höchstens ein Fünftel von ihnen im Sinne der KPD/SED für solche Aufgaben ideologisch, fachlich, altersspezifisch wirklich geeignet erschien. Das Gros der Gruppe waren Angehörige der älteren Generation.

Eine etwas entgegengesetzte Perspektive wählte Martin Zückert vom Collegium Carolinum in München, der über die „Kirchen in der Tschechoslowakei und ihren Umgang mit dem Bevölkerungswandel in den Grenzregionen“ referierte. Bedingt durch die Vertreibung und Aussiedlung der überwiegenden Mehrheit der Deutschen setzte in den westlichen Grenzregionen der Tschechoslowakei ein umfassender gesellschaftlicher Wandel ein. Jeder vierte Tscheche zog nach 1945 zeitweilig oder dauerhaft in die betroffenen Gebiete. Hinzu kamen tschechische Re-Emigranten – Nachfahren von tschechischen Auswanderern, die im 19. Jahrhundert auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten nach Wien, Deutschland, Russland oder in andere Länder gezogen waren – sowie umgesiedelte Slowaken, Magyaren und Roma. Neben diesen in der Forschung bisher wenig beachteten Migrationsvorgängen wurden die regionalen kirchlichen Strukturen durch kommunistische Religionspolitik nach 1948 maßgeblich umgestaltet. Vielfach ist in kirchengeschichtlichen Arbeiten zu lesen, dass dadurch in vielen Teilen des Grenzlandes „geistiges Niemandsland“ entstanden sei. In der Tat brachte der Bevölkerungswandel der katholischen Kirche eine Schwächung ihrer Position. Den anderen Kirchen gelang es wiederum nicht, flächendeckende Strukturen zu schaffen. Bis heute ist in der Tschechischen Republik die Kirchenzugehörigkeit in den nördlichen Grenzregionen am geringsten. Demnach können die tschechischen Kirchen kaum als zentrale Instanzen gesellschaftlicher Integration angesehen werden.

Im Blick auf die weitere Erforschung der Geschichte der Vertriebenen in Ost- und Westdeutschland forderte der Giessener Kirchenhistoriker Martin Greschat die „Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels.“ Bisher wurden die Vertriebenen nur als Objekte gesehen. In Zukunft müsste verstärkt danach gefragt, was sie dachten, taten, erwarteten: „Sie waren eben nicht nur Opfer, sondern auch Akteure.“

Auch der Hamburger Volkskundler Albrecht Lehmann sprach sich dafür aus, bei der Erforschung des Schicksals der Vertriebenen stärker auf deren Erfahrungen als auf schriftliches Quellenmaterial zu rekurrieren, obgleich das Gedächtnis die unzuverlässigste aller Quellen sei. Allerdings werde durch Bilder, Metaphern und die familiäre oder auch kollektive Tradierung deutlicher, welche kommunikativen Gattungen und welche fest verankerten, in Diskursen ausgehandelten und kulturell gewachsenen Muster die Erinnerung der Menschen beeinflussten und prägten. Lehmann rekurrierte auf diesen Ansatz, weil es auf diesem Gebiet um kollektive Erfahrung und Identität gehe, beides aber abstrakte Konstruktionen seien, die auf subjektiven Erfahrungen und Vorstellungen beruhten. Lehmann war sich bewusst, dass er als Erzählforscher damit andere Schwerpunkte setze als die Zeithistoriker. Seinen Forschungen zufolge bündelten sich die kollektiven Erinnerungen der Vertriebenen in drei Topoi: Integration, Vergleich und Heimat. Die „Integrations-Ideologie“ entwickelte sich seit Anfang der 1960er-Jahre. Sie war ein Teil der politischen Leistung der Bundesrepublik zur Bewältigung der Kriegsfolgen, nivellierte aber historische Erfahrungen. Der Vergleich sei, so Lehmann, eine Methode zum Verständnis von Erinnerung. Besonders populär sei deshalb der Schicksalsvergleich – zwischen alten und jungen Menschen im Blick auf finanzielle und berufliche Ansicherung oder politisch-historische Entwicklungen. Ein konfliktreicher Vergleich sei auch der zwischen Alt- und Neubürgern einer Region oder der zwischen Stadt- und Land-Unterschieden. Nach Lehmanns Beobachtungen bleibe das kommunikative Gedächtnis auf dem Dorf länger lebendig als in der Stadt, wo es stärkeren medialen Beeinflussungen ausgesetzt sei.

Heimat sei schließlich der Sehnsuchtstopos schlechthin. Die Volkskunde der 1960er-Jahre sprach deshalb auch von einer „symbolischen Ortsbezogenheit“. Der Kirche komme auf diesem Gebiet die Aufgabe zu, dem Menschen – als Fremdling auf Erden – zu lehren, wo Heimat ist. Heimat sei der Ort, so Lehmann mit Verweis auf Ernst Bloch, an dem niemand je war, der aber in der Erinnerung leuchte. Deshalb handele sich beim Rekurs auf den Topos Heimat um ein vornehmlich ästhetisches Erinnerungsmuster, denn realiter gingen die Menschen dorthin, wo sie Arbeit fänden und nicht wo, sie sich am wohlsten fühlten.

Mit ihrer vielfältigen Agenda hat die Tagung sich eines umstrittenen und lange vernachlässigten bzw. bewusst ausgeblendeten Themas angenommen, das trotz der in Neudietendorf vorgestellten, respektablen Forschungsarbeiten erst am Anfang einer umfassenden wissenschaftlichen Durchdringung steht. In einer Hinsicht blieb die Konferenz allerdings hinter ihrem eigenen Anspruch zurück: Die europäische, genauer gesagt: die ost-europäische Perspektive stellte mit Martin Zückert ein Deutscher dar. In Neudietendorf fehlten polnische, tschechische, russische, baltische, rumänische Historiker und Kirchenhistoriker, um ihre Sicht der Dinge bzw. ihre bisweilen ambivalente Geschichtsschreibung zu präsentieren, sich dem Diskurs zu stellen, die politischen Ursachen und Folgen etwa der Verschiebung der polnischen Ost- und Westgrenze zu diskutieren. Der einzige eingeladene Osteuropäer, der Grünberger Zeithistoriker Olgierd Kiec musste bedauerlicherweise kurzfristig absagen. Für eine historisch, politische und humanitäre Integration der Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa in die Gesamtgeschichte des gemeinsamen Hauses Europa bedarf es dieses keineswegs leichten, schmerzfreien oder gar harmonischen Austausches zwischen Historikern aus Ost und West.

Die Referate der Tagung sollen im Herbst 2005 veröffentlicht werden. Sie erscheinen in der neuen Online-Publikation „Kirchengeschichte der neuesten Zeit. Journal des Arbeitskreises Protestantismusforschung“, das auf den Archiv-Server der UB der Philipps-Universität Marburg bereitgestellt wird.


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