Deutsche Arbeiter und Handwerker in Paris - Migration im 19. Jahrhundert in vergleichender Perspektive

Deutsche Arbeiter und Handwerker in Paris - Migration im 19. Jahrhundert in vergleichender Perspektive

Organisatoren
DHI Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
21.06.2002 -
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Von
Mareike König, Deutsches Historisches Institut Paris

Während die Parisaufenthalte von Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern wie Heinrich Heine, Karl Marx, Ludwig Bamberger oder Jacques Offenbach etc. zumindest für die Zeit bis zum Ausbruch der Revolution 1848 weitgehend erforscht sind, stellt die Masseneinwanderung von deutschen Handwerkern, ungelernten Arbeitern und Arbeiterinnen nach Paris im 19. Jahrhundert ein wenig bekanntes Phänomen dar.

Mangelnde Quellen und ein seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 vielleicht unattraktives Thema ließen das Leben dieser "deutschen Kolonie", die mit über 80 000 Mitgliedern zeitweise sogar 8% der Bevölkerung von Paris stellten, weitgehend in Vergessenheit geraten.

Ein Schritt zur Erforschung von Leben und Arbeit, Abgrenzung und Integration dieser Deutschen in Paris wurde mit dem Atelier "Deutsche Arbeiter und Handwerker in Paris im 19. Jahrhundert – Migration in vergleichender Perspektive" am 21. Juni 2002 im Deutschen Historischen Institut Paris unternommen. Der zeitliche Schwerpunkt lag dabei auf der Untersuchung der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts (1850-1914). Den Vorsitz des Ateliers hatte Michel Espagne (ENS, Paris) inne.

In einer kurzen Einleitung umriß Mareike König (DHI, Paris) Thema und Forschungsstand. Die Besonderheiten, sowohl was das Leben und die Integration der Deutschen in Paris als auch das Interesse der historischen Forschung anbelangt, stellte sie in engen Zusammenhang mit der nicht-linearen Entwicklung der Einwanderung. Drei Brüche fallen auf: die erste massenhafte Rückkehr der deutschen Einwanderer nach dem Ende der Revolution von 1848/49, die zweite massenhafte Rückkehr nach der Ausweisung der Deutschen im Krieg von 1870/71 und schließlich die Rückkehr der Deutschen aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs. Fehlende Kontinuität, eine nach der ersten Ausweisung geringe Sichtbarkeit und starke Verstreuung über das Stadtgebiet – abgesehen von den Handwerkern, die weiterhin in die Gewerbestruktur der Stadt eingegliedert blieben – sowie Armut und Isolierung waren die Merkmale dieser "deutschen Kolonie", die um 1900 mit knapp 70% einen besonders hohen Frauenanteil aufwies.
Über die Frankreichkontakte deutscher und belgischer Handwerker anhand von Selbstzeugnissen referierte Sven Steffens (Universität Brüssel). Er wies darauf hin, daß es sehr viel mehr autobiographische Quellen von Handwerkern gibt, als gemeinhin angenommen wird, eine Ansicht, die auch Sigrid Wadauer (Wien) bestätigte. Über einen Vergleich mit belgischen Quellen stellte er die Besonderheiten in den Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen der deutschen Handwerker in Paris bzw. Frankreich vor. Das wesentliche Motiv für die Frankreich-Aufenthalte war der Wunsch nach Erwerb neuer Berufskenntnisse. Sven Steffens zeigte, daß die Handwerker nicht einfach auf gut Glück reisten, sondern gezielt Städte aufsuchten, um sich eine bestimmte Verfahrenstechnik anzueignen und bereit waren, dafür auch zu bezahlen. Dabei war unter den deutschen Gesellen des 19. Jahrhunderts ein "zünftiger Habitus" noch sehr viel ausgeprägter als unter den belgischen. Das "unständische" Verhalten mancher französischer Kollegen, so z.B. im Umgang vom Meister zum Lehrling, stieß auf die Kritik der deutschen Handwerker.
Einen methodisch anderen Zugang zu den autobiographischen Quellen von Handwerkern bot Sigrid Wadauer (Wien). Ein systematischer Vergleich autobiographischer Repräsentationen zeigt, wie mit verschiedenen Gebrauchsweisen des Wanderns und Reisens auch die jeweilige Fremde, die Darstellungen der Stadt Paris, die je typischen Episoden des Ankommens und des Aufenthaltes variieren. Diese verschiedenen Modi des Unterwegs-Seins und Schreibens orientieren sich in unterschiedlicher Weise konfliktiv-konsensuell an den Traditionen des Handwerks wie auch an Vorbildern des Reisens. In Paris gewesen zu sein, konnte in verschiedenen Kontexten vermarktet werden. So wurde die jeweilige Tour zur Investition, die sich auf das alte Handwerk, aber auch auf Laufbahnen darüber hinaus richten konnte. Je nach Referenz der Texte finden wir in den Berichten die typischen, immer wiederkehrenden Abenteuer der Gesellen, ein sich der Fremde Aussetzen bei gleichzeitiger Kollektivierung im Handwerk. Wir finden aber auch beinahe endlose Listen von Sehenswürdigkeiten und Details, ästhetisch-gelehrsame und distanzierte Schilderungen, die jeden Bezug auf handwerkliche Kontexte vermeiden.
Die besonderen Schwierigkeiten, denen sich die deutschen Dienstmädchen während ihres Aufenthalts in Paris gegenüber sahen, analysierte Mareike König. Ohne Hilfe von Zünften oder der Familie kamen die zumeist sehr jungen Mädchen allein nach Paris. Zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse angesiedelt, hatten sie nicht nur kulturelle und sprachliche Probleme zu bewältigen: Sehr viel stärker als andere Berufsgruppen waren die "bonnes à tout faire" aufgrund ihrer langen Arbeitszeiten und dem Ausschluß der Dienstboten aus der bürgerlichen Familie, der sich in Paris in den sog. "chambres de bonnes" manifestierte, isoliert. Für die meisten der jungen Frauen stellte der Parisaufenthalt ein Mittel zum sozialen Aufstieg dar. Viele mußten jedoch ihre Träume begraben, hielten sich mit Prostitution notdürftig über Wasser oder wurden von den deutschen kirchlichen Hilfsorganisationen nach Hause geschickt. Andere entwickelten informelle Netzwerke und ließen ihre Freundinnen oder Verwandte nachkommen. Trotz der negativen Erfahrungen riß der Strom deutscher Mädchen nach Paris nicht ab. Als nationale Gruppe stellten sie auch noch nach dem Krieg von 1870/71 die meisten Dienstmädchen in Paris.
Einen Vergleich zu Leben und Integration der "deutschen Kolonie" bot Michael Esch (Centre Marc Bloch, Berlin), der über Sozial- und Kulturgeschichte der osteuropäischen Immigration referierte. Im Zentrum des Referates standen methodische Überlegungen über die analytische Eingrenzung von Einwanderergemeinschaften und die Quellen, die hierfür zur Verfügung stehen. Um bei der Frage nach der Existenz bzw. Bildung von Gemeinschaften nicht von vornherein durch die Untersuchung festgelegter Gruppen die Ergebnisse zu präjudizieren, schlug Esch mit der osteuropäischen Immigration die Untersuchung eines lediglich geographisch eingegrenzten, ansonsten in jeder Hinsicht stark differenzierten Migrations-geschehens vor. Er machte deutlich, wie über eine Kombination bislang nicht oder nicht hinreichend herangezogener Quellenarten (verschiedenen Polizeiakten, Volkszählungslisten, Naturalisierungsdossiers) eine größere Trennschärfe für die Identifizierung und Beschreibung solcher Gemeinschaften und der in ihnen ablaufenden Prozesse gelingen könnte. Dabei komme es gerade auf die bei der Frage nach Identitätsbildung und Identitätswandel bedeutsame Vielfalt der Lebensentwürfe und Bewältigungsstrategien an, die in einem aufwendigen Verfahren nachvollziehbar gemacht werden sollen.
Über die Konflikte zwischen französischen und ausländischen Arbeitern während der Julimonarchie referierte Pierre-Jacques Derraine (Institut d´Histoire Contemporaine, Dijon). In einer Zeit, in der die Arbeit knapp zu werden drohte, versuchten französische Arbeiterorganisationen, auf lokaler Ebene die Kontrolle bzw. das Monopol auf Arbeit für sich zu beanspruchen. Die Abgrenzung von Konkurrenten vollzog sich anhand der Definition der beiden Pole "Arbeiter" und "Herkunft", wobei sich "Herkunft" auf Land, aber auch auf Stadt, Viertel oder Baustelle beziehen konnte. Während der Julimonarchie wurden die Konflikte zwischen französischen und ausländischen Arbeitern immer häufiger. Sie äußerten sich in Demonstrationen, Protestversammlungen, körperlichen Auseinandersetzungen sowie Petitionen. Diese Konflikte brachen vor allem in wirtschaftlichen Krisenzeiten aus. Man warf den ausländischen Kollegen ein zu angepaßtes Verhalten vor und fühlte sich durch deren Bevorzugung durch die einheimischen Arbeitgeber in der eigenen Ehre verletzt.
Gaël Cheptou (Doktorand EHESS, Paris) stellte die Ergebnisse seiner Forschungen über die Gewerkschaftsaktivitäten der deutschsprachigen Arbeiter in Paris in der Zeit von 1900 bis 1914 vor. In Paris gab es u.a. aufgrund der Weltausstellung von 1900 einen verstärkten Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. Die deutschen Arbeiter, die sich für eine begrenzte Zeit in Paris aufhielten und bereits in Deutschland gewerkschaftlich organisiert waren, gründeten in Paris nationale Abteilungen in den französischen Gewerkschaften. Es waren weniger die sozialen Mißstände und Arbeitskämpfe als das Desinteresse der französischen Arbeiter, die diese Aktionen entstehen ließen. Die Beziehung zwischen den nationalen Gruppen gestaltete sich zunächst schwierig, warf man der deutschen Sektion doch vor, die Gewerkschaftsbewegung zu spalten. Dahinter verbarg sich jedoch ein theoretischer Antagonismus des französischen Gewerkschaftssystems: Anhand der schwachen Organisation der ausländischen Arbeiter wollte man den französischen Arbeitern die Notwendigkeit einer starken zentralen Gewerkschaft vor Augen führen.
Vier verschiedene "Treffpunkte" (lieux de rencontre) deutscher und französischer Sozialisten in Paris von 1889 bis 1914 stellte Marie-Louise Goergen (Paris 1 - Centre d’histoire sociale du XXe siècle) vor: Jahreskongresse, Zeitschriften, Bücher und persönliche Treffen. Zu Begegnungen zwischen deutschen und französischen Sozialisten kam es anläßlich von internationalen bzw. französischen Kongressen, zu denen deutsche Vertreter eingeladen wurden, was stets als Zeichen einer starken Verbundenheit gewertete wurde. Ein Ort für intellektuellen Austausch boten die französischen sozialistischen Zeitschriften, in denen Beiträge von deutschen Kollegen veröffentlicht wurden. Wie bei der Publikation von Büchern deutscher Sozialisten kam dabei den Übersetzern (wie z.B. Clara Zetkin) eine zentrale Rolle zu. Schließlich gab der Besuch deutscher Sozialisten in Paris und der Aufenthalt in den Wohnungen der französischen Kollegen Anlaß für persönliche Kontakte. Mit diesen Treffen im familiären und privaten Bereich wurde der Rahmen über die rein militanten Aktionen hinaus ausgeweitet. Sie boten die Gelegenheit zur Anteilnahme der deutschen Sozialdemokraten an glücklichen oder traurigen Ereignissen ihrer französischen Kameraden. Darüber hinaus liefern sie den Beweis, daß Internationalismus mehr war als nur ein Schlagwort.

Der kurze Studientag machte die Vielfalt des Themas – sowohl was die einzelnen Einwanderungsgruppen, als auch die methodischen Herangehensweisen anbelangt – deutlich. Die Einwanderung der deutschen Handwerker und Arbeiter nach Paris ist nicht nur ein Teilaspekt der deutschen Migration im 19. Jahrhundert oder ein sozialgeschichtlich interessantes Thema. Vielmehr zeigt sich hier auch ein Zusammenhang von wirtschaftlicher Migration, politischem Exil und sozialer Kritik, den es näher zu untersuchen gilt. Eine Publikation der Ergebnisse des Ateliers ist geplant.

http://www.dhi-paris.fr/
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