Widerspruch oder Paradoxie? Zum Verhältnis von Zivilgesellschaft und Gewalt in historisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive

Widerspruch oder Paradoxie? Zum Verhältnis von Zivilgesellschaft und Gewalt in historisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive

Organisatoren
Arnd Bauerkämper (Berliner Kolleg für vergleichende Geschichte Europas, FU Berlin); Dieter Gosewinkel (WZB); Sven Reichardt (Universität Konstanz)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.04.2005 - 02.04.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Jan C. Behrends, Wissenschaftszentrum Berlin

In der Diskussion um Zivilgesellschaft stellt Gewalt häufig eine Leerstelle dar; eine Tendenz, die aus der normativen Aufladung des Begriffes bzw. der Konzepte von civil society herrührt. So gerieten die historischen Ursprünge von zivilen Gesellschaften in Krieg und Gewalt ebenso aus dem Blick wie die Frage nach der Legitimität gewalttätigen Handelns zu ihrer Durchsetzung oder Aufrechterhaltung. Wie sich das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Gewalt historisch entwickelte und welche Bedeutung diese Beziehung für ein analytisches Konzept von civil society hat, diskutierten die Teilnehmer einer interdisziplinären und internationalen Tagung am WZB.

In seinem Einleitungsvortrag wies John Keane (London) auf den genuis loci Berlins zur Diskussion der Fragestellung der Konferenz hin. Auch wenn demokratische Regime sich in ihrer Herrschaftslegitimation durch Distanz zur Gewalt auszeichnen ("ballots, not bullets") lässt sich eine zivile Ordnung ohne Gewalt nicht denken. Dass demokratische Gesellschaften sich von medialen Repräsentationen von Gewalt faszinieren lassen, dass sie im Inneren von häuslicher Gewalt gekennzeichnet sind und nach außen anderen gewaltsam ihren Willen aufzwingen, gehört für Keane zur Dialektik der Zivilität. Helmut Dubiel (Gießen) stellte sein Konzept einer stufenweisen Rezivilisierung von Gesellschaften vor. Dabei betonte er, wie langwierig der Aufbau sozialen Vertrauens und eines legitimen Gewaltmonopols sei. Während die Zerstörung ziviler Strukturen eine Frage von Tagen und Monaten sei, handele es sich bei ihrer Genese um einen zeitintensiven Prozess. Anschließend referierte Bernhard Gill (München) aus soziologischer Perspektive über das Verhältnis von Demokratie, Krieg und Militär und ging insbesondere auf den internationalen Terrorismus ein, dessen mediale Präsentation er als "Wiederkehr des Schreckens als Farce" bezeichnete.

Am Nachmittag des ersten Tages wurden ausgewählte Fallstudien zum Verhältnis von Zivilgesellschaft und Gewalt im 20. Jahrhundert diskutiert. Sheri Berman (New York) plädierte nachdrücklich für ein bereichsbezogenes Verständnis von civil society als Sphäre zwischen Staat und Familie. Mit Blick auf die Weimarer Republik vertrat sie die These, dass die Stärke und Vielfalt zivilgesellschaftlicher Assoziationen den demokratischen Rechtsstaat geschwächt und letztlich maßgeblich zur Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur beigetragen habe. Eine Gesellschaft, so Berman, könne letztlich nur vom Staat, nicht von zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammengehalten werden. Bernd Greiner (Hamburg) beschrieb die Expansion der US-Streitkräfte seit dem New Deal und fragte nach den Konsequenzen für die amerikanische Demokratie. Insbesondere durch eine spezifische culture of secrecy sieht Greiner die pluralistische Gesellschaft bedroht. Die "performative Gewalt" der 68er in der Bundesrepublik, die Entgrenzung ihres Gewaltbegriffs und die Frage, welche Beziehung die Studentenbewegung zum Terrorismus der Siebziger Jahre hatte, diskutierte Benjamin Ziemann (Bochum). Den ersten Tag beendete ein Referat von Ulrich Bielefeld (Hamburg), der am Beispiel Nordirlands analysierte, wie Gewalt Nachbarschaften als soziale Systeme verändern kann. In seiner Fallstudie konnte er zeigen, wie sich situative, lokale Gewalt mit staatlicher Gewalt vermengt; in der Nachbarschaft finden Integration und Ausschluss statt, sie sei darum, so Bielefeld, immer ein "verlorenes Paradies."

Den zweiten Tag leitete ein Beitrag von Wolfgang Knöbl (Göttingen) ein, der die Bedeutung des staatlichen Gewaltmonopols für moderne Gesellschaften in Europa und Amerika reflektierte. Wie Berman betonte er die begrenzte Fähigkeit der Zivilgesellschaft, Gewalt einzuhegen und wies auch im Zeitalter der Globalisierung einem starken (National-)Staat die Verantwortung für friedliche Konfliktlösungen zu. Dieter Gosewinkel (Berlin) behandelte am Beispiel des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus die Frage, wann und inwieweit Gewalt zur Überwindung von Gewalt legitim sei. Dabei machte er deutlich, dass im Kampf gegen moderne Diktaturen Gewalt eine Bedingung für die Entstehung ziviler Vergesellschaftung sein kann. Gosewinkel forderte, Gewalt und Zivilgesellschaft nicht als Antinomie zu denken, sondern nach den vielfältigen Verflechtungen zwischen beiden zu fragen. In einer eindrucksvollen tour d'horizon besprach Hans Joas (Erfurt / Chicago) abschließend die Beziehung zwischen kollektiven Gewalterfahrungen und der Entstehung von Wertbindungen seit 1945. Er konnte zeigen, dass der Menschenrechtsdiskurs stark auf die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur rekurrierte.

Die Diskussionen über das Spannungsverhältnis zwischen Gewalt und Zivilität verdeutlichten, wie produktiv es sein kann, den Begriff Zivilgesellschaft aus einem normativen Korsett zu lösen und mit vermeintlichen Gegenbegriffen wie Gewalt zu konfrontieren. Weitere interdisziplinäre Anstrengungen sind nötig, um die Verflechtungen zwischen beiden Begriffen besser zu verstehen. Zunächst bleibt die spannende Frage weiter offen: Wieviel Gewalt, wieviel Staat, wieviel Durchherrschung verträgt und braucht die zivile res publica?


Redaktion
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
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