Siebenbürgische Archive als Quellen moderner Geschichtsforschung

Siebenbürgische Archive als Quellen moderner Geschichtsforschung

Organisatoren
Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde e.V. (AKSL); Siebenbürgen-Institut Gundelsheim; Landeskonsistorium der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien; Sektion der Archive von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Weltkirchenrat; Lehrstuhl Ostmitteleuropäische Geschichte der Humboldt-Universität Berlin
Ort
Hermannstadt/Sibiu
Land
Romania
Vom - Bis
10.10.2005 - 12.10.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Swen Steinberg, Dresden; Sarah Hadry, München

Vom 10. bis 12. Oktober 2004 fand in Hermannstadt/Sibiu aus Anlaß des nunmehr abgeschlossenen und mit Förderung der Volkwagenstiftung durchgeführten Projekts "Erfassung und Erschließung evangelischer Gemeindearchive in Siebenbürgen" eine internationale Archivtagung statt. Geladen hatten dazu neben dem Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde e.V. (AKSL) mit dem Siebenbürgen-Institut Gundelsheim und dem Landeskonsistorium der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien auch die Sektion der Archive von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Weltkirchenrat sowie der Lehrstuhl Ostmitteleuropäische Geschichte der Humboldt-Universität Berlin.
Nachdem der Sonntag für eine Exkursion in die Hermannstädter Umgebung genutzt worden war, drehten sich die übrigen beiden Tage um das eigentliche Symposium. Als Tagungsort stand das gerade erst fertiggestellte Begegnungs- und Kulturzentrum "Friedrich Teutsch" zur Verfügung, in welchem neben dem Zentralarchiv der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (ZAEKR) auch eine Transsylvanica-Bibliothek und das zukünftige landeskirchliche Museum untergebracht sind.

Die Begrüßung erfolgte für das Landeskonsistorium der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien durch Bischof D. Dr. Christoph Klein und für den AKSL durch Prof. Dr. Konrad Gündisch. Letzterer überbrachte auch die Grüße der Volkswagenstiftung.
Die insgesamt 14 Vorträge der aus Deutschland, Rumänien, Ungarn und den Niederlanden stammenden Referentinnen und Referenten ließen sich, aus archivkundlicher Perspektive, in vier Themenkreise einteilen: 1. Archivrecht, 2. Theorie und Methode der Archivarbeit, 3. Aus der Praxis der Archivarbeit sowie 4. Ergebnisse archivarischer Forschung.

Zur ersten Kategorie zählte der Eröffnungsvortrag von Dr. Helmut Baier (Sektion der Archive von Kirchen und Religionsgemeinschaften, Nürnberg). Baier legte dar, daß die Archivkompetenz der Kulturhoheit der Länder untersteht, weshalb diesbezüglich keine EU-Richtlinie verbindlicher Art existiert. Allerdings besteht seit 1993 der Bericht einer Sachverständigengruppe mit zahlreichen Empfehlungen, deren Berücksichtigung dem Ziel einer besseren Zusammenarbeit der europäischen Archive untereinander dienen soll. Jan van Haastrecht (Niederlande) schloß an die Thematik an, indem er einen Überblick über die Geschichte und die Grundsätze des Archivrechts in den Niederlanden - mit besonderer Berücksichtigung kirchlicher Archivalien - gab, wobei er die große Bedeutung der rechtlichen Absicherung von Archivgut seitens des Staates betonte. Monica Vlaicu (ZAEKR) referierte über die Problematik des kirchlichen Archivguts in Hermannstadt, welches in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts teilweise enteignet und seither in der Hermannstädter Filiale des Rumänischen Nationalarchivs verwahrt wurde. Sie gab zudem einen Überblick über diese Bestände und verwies auf die Notwendigkeit, die dortigen Bestände mit jenen des ZAEKR abzugleichen. Dieser Abgleich würde schlußendlich Aufschluß über die Dichte der vorhandenen Bestände kirchlicher Provenienz geben. Prof. Dr. Raimer Witt (Landesarchiv Schleswig) ging es dagegen um den vom Gesetzgeber unabhängigen sogenannten "Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare", der 1996 auf dem XIII. Internationalen Archivkongreß angenommen und mittlerweile als Grundlage archivarischen Handelns weltweit gilt. Witt erläuterte die wesentlichen Punkte des Kodex, die dem Archivpersonal als Verhaltensmaßstäbe und Orientierungshilfen zur Seite stehen sollen. Durch die Anerkennung dieser Grundsätze als internationalen Standard könne man zukünftig der Aufgabe von Archiven umfassender gerecht werden.

Einblicke in die technischen und methodischen Probleme, mit welchen sich Archivare mitunter konfrontiert sehen, boten die folgenden beiden Referate: Die Ausführungen von Dr. Michael Häusler (Archiv des Diakonischen Werkes der EDK, Berlin) über die enormen Schwierigkeiten bei der Langzeitarchivierung von elektronischen Daten ließen erahnen, welch große Herausforderung die Überlieferung des Computerzeitalters jetzt und zukünftig nicht nur für die Kirchenarchive darstellen wird.
Dr. Wolfram Theilemann (ZAEKR), Leiter des im Vorjahr abgeschlossenen Projektes zur Erfassung und Erschließung evangelischer Gemeindearchive, verzichtete auf einen Bericht zum Stand der Verzeichnungsarbeiten, lieferte dafür jedoch eine Zusammenfassung zum Stand von "Bewertung und Kassation" im ZAEKR. Den Hintergrund von Theilemanns Überlegungen stellt der Umstand dar, daß einerseits eine ganze Reihe von Schriftstücken in mehrfacher Ausführung vorliegen und andererseits bestimmte Dokumententypen nicht unbedingt als archivierungswürdig einzustufen sind. Eine Totalarchivierung der siebenbürgischen Gemeindearchive sei deshalb zukünftig nicht mehr wünschenswert, so Theilemann, weswegen die Erarbeitung einer Kassationsordnung dringend von Nöten sei.

Wie vielfältig die Tätigkeitssfelder von Archivaren und Archivarinnen aussehen können, wurde durch die folgenden fünf Beiträge verdeutlicht: Prof. Dr. Bernd Hey vom Landeskirchlichen Archiv Bielefeld, der seit 1992 immer wieder im Mediascher Kirchenarchiv unterstützend tätig war, berichtete, wie sich ihm Siebenbürgen und die Siebenbürger immer mehr erschlossen haben, je mehr er seine aus den Quellen gewonnenen Erkenntnisse durch viele Wanderungen und Dorfbesichtigungen ergänzt und angereichert hatte. "Der Archivar soll kein Stubenhocker sein!" lautete darum sein abschließender Appell an das Plenum. Dr. Wolfgang G. Krogel vom landeskirchlichen Archiv Berlin berichtete von den Erfahrungen, die er im Zuge der Aufarbeitung der Geschichte der ca. 100 Zwangsarbeiter machte, die 1942-1945 in Berlin-Neukölln für die beiden großen Kirchen als Totengräber arbeiten mußten. Im Rahmen von Krogels Beschäftigung mit dem Thema entstand neben einem Buch auch eine "Gedenkstätte für kirchliche Zwangsarbeit" sowie Gespräche und Interviews mit 17 ausfindig gemachten ehemaligen Zwangsarbeitern. Krogel wies darauf hin, daß auch hinsichtlich der zahlreichen Deportationen "jüdischer Christen" aus Berliner Gemeinden mehr Erinnerungsarbeit seitens der Kirche angebracht wäre. Dr. Christa Stache hatte sich an ihrem Arbeitsplatz, dem Evangelischen Zentralarchiv Berlin, auf die Suche nach Quellen zur Geschichte der evangelischen Kirche A. B. in Rumänien gemacht. Ihre in Hermannstadt präsentierte Auswahl an bemerkenswertem, vorrangig aus dem 20. Jahrhundert stammendem Bild- und Aktenmaterial zu den evangelischen Gemeinden in der Moldau und der Walachei machten deutlich, daß Forschungen in bundesdeutschen Archiven interessante Ergebnisse versprechen und zu einer Perspektivenerweiterung beitragen würden. Der Vortrag von Dr. Herbert Wurster (Diözesanarchiv Passau) zeigte eindrucksvoll, von welch großem Nutzen archivarische Dienstleistungen beispielsweise für die medizinische Forschung sein können: Durch die Recherche von Genealogien bestimmter Patienten, die im frühen 20. Jahrhundert an Morbus Alzheimer verstorben waren, konnte das Passauer Diözesanarchiv auf schnelle und kostengünstige Art und Weise die These einer genetischen Bedingtheit - die wiederum von zu vielen Verwandtenehen herzurühren scheint - der berüchtigten Demenzerkrankung weiter bestätigen. István Szabadi (Ungarische Kirchenarchivarsvereinigung, Budapest) berichtete über das Schicksal der Archive der protestantisch-ungarischen Gemeinden jenseits (also östlich) der Theiß, für die im Jahr 1921 eine eigene Kirchenorganisation mit Sitz in Großwardein/Oradea gegründet worden war. Nachdem das teilweise von Kriegsschäden beeinträchtigte Archivgut während der kommunistischen Ära jahrzehntelang ein Kümmerdasein hatte führen müssen, sind nun die Arbeiten zu einer Erfassung und Erschließung nach modernen Maßstäben in vollem Gange. Ferner ging Szabadi auf die Schwierigkeiten von zerrissenen Beständen ein, welche aufgrund der Ereignisse nach 1944 zum Teil in Ungarn und zum Teil in Rumänien verwahrt werden. Insbesondere in den letzten Jahren seien hier durch vermehrte Kooperation große Fortschritte erzielt worden.

Die Vorträge, die sich rein historischen Themen widmeten, stammten von Prof. Dr. Günter Schödel (Humboldt-Universität Berlin), Dr. Michael Diefenbacher (Stadtarchiv Nürnberg) und Dr. Gerhard Schullerus (Altpfarrer, Hermannstadt). Schödls Beitrag mit dem Thema "Nürnberg und das historische Ungarn" behandelte vor allem Aspekte der spätmittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte und gipfelte in der These, daß die Handelsbeziehungen und gewerblichen Investitionen, welche vor allem von Oberdeutschland ausgegangen waren, zwar kurzfristig für Fortschritt gesorgt, langfristig jedoch einen Hemmschuh für die Entwicklung Ungarns dargestellt hätten. Diefenbacher hingegen behandelte die Beziehungen der Reichsstadt Nürnberg zur königlichen freien Stadt Hermannstadt und konnte durch seine intime Kenntnis der Nürnberger Archivbestände anhand ausgewählter Beispiele einen gründlichen Überblick über die Thematik geben. Der durch Pfarrer Schullerus gehaltene Abschlußvortrag "Bischof Friedrich Teutsch als Historiker" beeindruckte vor allem durch Detailreichtum und Ausführlichkeit und vermittelte den Tagungsteilnehmern eine Eindruck von Leben und Werk des Namensgebers des Begegnungs- und Kulturzentrums in Hermannstadt.

Einen großen Gewinn erfuhr die Tagung durch die Teilnahme zahlreicher Südosteuropa-Historiker, die zeitlich unmittelbar vorgeschaltet in Hermannstadt eine Tagung der Südostdeutschen Historischen Kommission besucht hatten. So konnten in den sich anschließenden Diskussionen und in Gesprächen Quellenfragen sowohl von der verwahrenden wie von der auswertenden Seite her eingehend diskutiert und die jeweiligen Bedürfnisse erörtert werden. Vor allem war es möglich, sowohl die von auswärts angereisten Wissenschaftler wie auch zahlreiche rumänische Fachkollegen über die außergewöhnlichen Hermannstädter Bestände und deren Potential aufzuklären. Bedeutend war die Tagung aber auch im Hinblick auf die Teilnahme zahlreicher Archivare aus Rumänien selbst, worauf bei der Planung großer Wert gelegt wurde, und zwar zunächst mehrerer Vertreter der Kreisdirektionen der Rumänischen Nationalarchive (mit Schwerpunkt auf Siebenbürgen und Westrumänien) wie auch der Archive der verschiedenen Konfessionen (der reformierten Kirchen, der unitarischen Kirche, der katholischen Diözesen, teils auch der orthodoxen Kirchenstruktur); dies hat einen ertragreichen Erfahrungsaustausch sowohl über das hier abgeschlossene Projekt wie über aktuelle Probleme des Archivwesens und die fundierte Information über gesamteuropäische Belange ermöglicht. Angesichts der im Vergleich zu Mittel- und Westeuropa in Rumänien extrem unterentwickelten Kommunikationsstrukturen war dies das erste Zusammentreffen dieser Fachgruppe in Rumänien überhaupt, die solcherart auch erstmals über europäische Entwicklungen eine gute Orientierung erhielt. Außerhalb des Programms der Tagung kam es so auch zur Gründung der Vereinigung der Kirchenarchivare Rumäniens, die einen künftig intensiven Austausch und eine gute Kooperation zu den staatlichen Archiven zu pflegen beabsichtigt. Somit hat diese resümierende Abschlußtagung auch eine gewisse "Entwicklungshilfe" geleistet und Anstöße gegeben für einen bewußten und strukturierten Umgang mit gefährdetem Archivgut und dessen Öffentlichmachen für den Wissenschaftsbetrieb.

Das Hermannstädter Symposium erschöpfte sich jedoch nicht allein in Vorträgen und Diskussionen, sondern bot auch ein ausgewogenes Begleitprogramm: Im Landeskirchlichen Museum etwa fand die Eröffnung der durch Dr. Gudrun-Liane Ittu und ihre Praktikanten erarbeiteten Ausstellung "Menschenbilder - Menschenalter. Historische Fotos aus dem Zentralarchiv der evangelischen Kirche A.B. in Rumänien" statt. Diese Ausstellung - mithin die erste ihrer Art in den neuen Räumlichkeiten - vermochte einen Einblick in einen kleinen Teil der im Bildarchiv des ZAEKR verwahrten "Schätze" zu geben. Abschließend sei noch der Empfang am Abend des 11. Oktober 2004 erwähnt, welcher auf Einladung des Landeskonsistoriums im Elimheim zu Michelsberg durch dasselbe ausgerichtet wurde. Der gemütliche Abend hat, neben der Sorge um Leib und Wohl, sehr zur Kommunikation unter den Tagungsteilnehmern beigetragen.


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