Politisches Entscheiden im Kalten Krieg: Narrative, Orte und Ressourcen des Entscheidens

Politisches Entscheiden im Kalten Krieg: Narrative, Orte und Ressourcen des Entscheidens

Organisatoren
Teilprojekte C06 und C07 des Sonderforschungsbereiches 1150 „Kulturen des Entscheidens“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2017 - 29.09.2017
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Von
Ines Ellertmann / Markus Goldbeck, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Verheißungen und Aporien des Entscheidens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren unter dem Titel „Politisches Entscheiden im Kalten Krieg: Narrative, Ort und Ressourcen des Entscheidens“ Gegenstand einer Tagung. Ausgerichtet wurde sie am 28. und 29. September 2017 von den Teilprojekten C06 und C07 des Sonderforschungsbereiches 1150 „Kulturen des Entscheidens“. THOMAS GROSSBÖLTING (Münster) startete die Zusammenkunft mit einem Problemaufriss: Die Moderne gelte der Soziologie als Entscheidungsgesellschaft (Uwe Schimank). In immer kürzeren Zeiträumen müssten mehr Entscheidungen immer schneller getroffen werden, die zugleich höheren Rationalitätspostulaten zu genügen hätten. Dem Entscheiden liege dabei theoretisch, aber auch in der öffentlichen Darstellung ein Idealbild zugrunde, demzufolge Entscheider auf der Grundlage vollständiger Informationen und offener Entscheidungsräume in der Lage seien, rationale Entscheidungen zu fällen. Diese optimistische Sicht habe in den vergangenen Jahren aber an Plausibilität eingebüßt, hätten doch insbesondere neuere Studien zum Entscheiden in internationalen Spannungen die Annahmen herkömmlicher Entscheidungsmodelle zunehmend illusionär erscheinen lassen. In der Praxis wie auch in der Beschreibung dominierten eher sequentielle Modelle („muddling through“). Nicht nur was, sondern auch wie entschieden werde, habe sich im 20. Jahrhundert langfristig verändert, ohne dass dieser Wandel im Bild der Rationalisierung tatsächlich aufginge.

Diese Beobachtungen nahmen die Tagungsorganisatoren zum Anlass, im Sinne der Perspektive des SFB Entscheiden als voraussetzungsvollen und komplexen sozialen Prozess, der eng mit Machtausübung verbunden ist, zu historisieren und vor allem auch die Zumutungen des Entscheidens in praktischer Hinsicht zu thematisieren. Dies suchte die Tagung mittels dreier Perspektiven zu erreichen, nämlich erstens durch einen vergleichenden Blick auf die „Parallelen und Divergenzen, Transfers und Verflechtungen“ in Ost und West, zweitens konkreter auf die „Orte und Machtzentren des Entscheidens“ und drittens auf die Rolle der Wissenschaft.

Im ersten Teil referierte SONJA AMADAE (Cambridge, Mass./Helsinki) über die Rolle von Entscheidungstheorien „im Westen“ und deren ideengeschichtliche Tragweite bei der Etablierung von rationalen, verstanden als mathematisch berechenbare Entscheidungen. Sie argumentierte mit Hans Blumenberg, dass es sich bei den zu beobachtenden ideengeschichtlichen Entwicklungen von den 1940er-Jahren bis in die Gegenwart um eine Epochenschwelle handele, die sich als Paradigmenwechsel von einer aufgeklärten zu einer computerbasierten Rationalität interpretieren lasse. Als Beleg für eine posthumane Rationalität benannte Amadae die Bedeutung von Worst-Case-Szenarien, die in den Rechenmodellen eine wichtige Rolle gespielt hätten und von ihr als Ausdruck der Suche nach Sicherheit in einer faktisch nicht mehr beherrschbaren Situation gedeutet wurden: wenn im schlimmsten Fall und unabhängig von den Entscheidungen des Gegenüber das „rational“ bestmögliche Ergebnis erreicht werden sollte, konnte dies unter den Vorzeichen der atomaren Konfrontation auch die weitgehende Auslöschung menschlichen Lebens bedeuten.

Dem gegenüber beleuchtete STEPHAN MERL (Bielefeld) „Kulturen des Entscheidens in der Sowjetunion, 1917 bis Mitte der 1960er Jahre“. Dem Anspruch nach waren „rationale Entscheidungen“ auch in der Sowjetunion stark von der westlichen Moderne geprägt, was sich nicht zuletzt in der Idee einer „wissenschaftlichen“ Ideologie gezeigt habe. Dieser vordergründigen Nähe stellte Merl aber die je eigene Rationalität „des Diktators“ entgegen, für den das „rational“ war, was ihn an der Macht hielt. Im Rahmen der Mobilisierungsdiktatur bis in die 1960er-Jahre war dies möglich, weil auf einer fachlichen Ebene Entscheiden und Entscheidungsvorbereitung kontingent gehalten und dabei mit einem Informationsmonopol für den Diktator verknüpft worden war. Mindestens ebenso bedeutsam war aber, dass politische Kommunikation einer rigiden Kontrolle unterworfen wurde, um so gleichermaßen eine Scheinpartizipation und eine Tabuisierung der Diktatur zu erreichen. Diktatorische Herrschaft basierte damit sowohl auf ihrer Unberechenbarkeit, wie auch den Erfolgen, die als Ergebnis des Handelns des Diktators präsentiert wurden. Kollektives Entscheiden sei in dieser Konstellation aber immer eine Macht- und nur ausnahmsweise eine Sachfrage gewesen.

In seinem Kommentar betonte UWE SCHIMANK (Bremen) die Frage der Legitimation bzw. Legitimität von Entscheiden, die in beiden Vorträgen eine zentrale Rolle einnehme. Dabei sei einerseits grundsätzlich an das Verhältnis von Ideen, Interessen und Institutionen zu denken – alle Aspekte bedürften der Legitimation. Besonders zum Tragen komme die Frage der Legitimation aber, je konkreter das Verhältnis der Akteure werde. Prozesse des Entscheidens seien hier besonders dynamisch.

Der zweite Teil der Tagung fokussierte konkrete Orte und Machtzentren des Entscheidens. RÜDIGER BERGIEN (Potsdam) präsentierte in seinem Vortrag zu „Hausmitteilungen und Telefonpolitik. Die Informalität des Entscheidens in der Machtzentrale der SED (1971-1989)“ einerseits Ressourcen des Entscheidens, etwa die Einführung von Computern und Datenbanken, die aber in der Praxis sehr unterschiedlich genutzt worden. Andererseits analysierte Bergien Mechanismen informalen Entscheidens. So seien wichtige Entscheidungen grundsätzlich vor Politbürositzungen getroffen und dort schließlich nur formal beschlossen worden. Hier spielte der Generalsekretär der SED eine zentrale Rolle. Wenn Entscheidungen beeinflusst werden sollten, so operierten die Akteure häufig mit Hausmitteilungen. Einzelne Mitglieder der Parteiführung agierten dabei gewissermaßen als Lobbyisten ihres jeweiligen Aufgabenfeldes.

STEFAN LEHR (Münster) stellte unter dem Titel „Orte und Mechanismen des politischen Entscheidens in der sozialistischen Tschechoslowakei (1969-1989)“ Befunde zum politischen Entscheiden im Politbüro der KSČ aufgrund der Kommunikation der Mitglieder während der Sitzungen vor. Auch hier wurden die Ergebnisse weitgehend vorab ausgehandelt. Am Beispiel der Entscheidungen zur Nachfolge des Staatspräsidenten 1975 und der Erhöhung der Fleischpreise 1980 erörterte Lehr die Inszenierung und die Fiktionen des Konsenses und des Abwägens, obwohl alle Beteiligten wussten, wie das Ergebnis aussehen sollte. Widerspruch konnte zwar geäußert werden, aber Diskussionen waren keineswegs ergebnisoffen, es handelte sich demnach um eine Fassade des rationalen und kollektiven Entscheidens. Die Entscheidungen selbst wurden maßgeblich vom Generalsekretär beeinflusst und fielen in einem intensiven Aushandlungsprozess zwischen Partei- und Staatsorganen sowie Spitzenfunktionären, der stark geprägt war durch persönliche Kontakte und Loyalitäten.

Unter dem Titel “Ping-Pong Relations and Other Real Mechanics of Administrative Management in the Central Apparat of CPSU in 1960s-1980s” widmete sich auch NIKOLAY MITROKHIN (Bremen) noch einmal den informellen Praktiken des Entscheidens, indem er Entscheidungsmechanismen und -motivationen im Apparat des ZK der KPdSU beleuchtete. Er konstatierte die grundlegende Bedeutung verbaler Kommunikation in der gesamten oberen Schicht der sowjetischen Bürokratie, wogegen schriftliche Kommunikation beinahe bedeutungslos gewesen sei. Der von Mitrokhin "Verwaltungs-Ping-Pong" benannte Schlüsselmechanismus habe der Harmonisierung der Interessen vieler Teilnehmer innerhalb und außerhalb des Apparates gedient. Die Formen informeller Kommunikation wurden dabei als Garant für Systemstabilität identifiziert.

Für die Bundesrepublik stellte SVENJA SCHNEPEL (Münster) in ihrem Vortrag zum Bundeskanzleramt das Verhältnis formaler Strukturen und informeller Kommunikation in den 1950er- und 1960er-Jahren heraus. Einerseits sei mit zunehmendem Organisationswachstum und Tempo des Regierungsgeschäfts ein Anstieg informeller Praktiken zu verzeichnen gewesen, vor allem der mündlichen Kommunikation. Auch nach Regierungswechseln hätten sich abhängig vom Arbeitsstil des jeweiligen Regierungschefs informale Kommunikationsmuster ausgebildet. Diese hätten andererseits mit zunehmender Dauer einer Kanzlerschaft zumindest teilweise wieder ihren Niederschlag in der Formalstruktur der Behörde gefunden.

Der zweite Tag der Tagung stand unter dem Themenkomplex „Vom Nutzen und der Nutzung der Wissenschaft in Ost und West“, den MATTHIAS VÖLKEL (Bochum) mit seinem Vortrag „Politische Entscheidungen als kybernetische Prozesse in der sowjetischen Wissenschaft“ eröffnete. Seit Mitte der 1950er-Jahre wurden in der Sowjetunion intensive Forschungen zur Kybernetik betrieben, insbesondere befasste sich der Wissenschaftler Aksel‘ Ivanovič Berg mit kybernetischen Erkenntnissen und Hilfsmitteln für Problemlösungen in Wissenschaft und Politik. Völkel stellte die von Berg betrachteten drei Anwendungsbereiche der Kybernetik vor (Wirtschaft, Wissenschaften und Kriegswesen). Bergs Ziel sei es gewesen, die kybernetischen Prozesse der Mechanisierung, Automatisierung und Mathematisierung als Ressource für Entscheidungsfindungen zu nutzen und so genauere und bessere Planungen durchführen zu können. Völkel kam zu dem Schluss, dass das Potential der sowjetischen Kybernetik größtenteils ungenutzt blieb und sich den politischen Entscheidungsträgern eher als Fundus von Methoden der Informationsverarbeitung und technischen Hilfsmitteln anbot.

In seinem Vortrag „Decision-Making, Social Scientific Expertise and Rationality of Governance in State Socialism, Czechoslovakia (1956-1970)“ behandelte VÍTĚZSLAV SOMMER (Prag) ideengeschichtlich die Spannungen zwischen Politikern und Experten bei Entscheidungsfindungen in der Tschechoslowakei und präsentierte zwei Fallstudien zu diesem Thema. Als erstes Beispiel dienten die vier interdisziplinären Forschungsgruppen der tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften in den 1960er-Jahren in der Zeit des Prager Frühlings, von der sich eine u.a. mit der Frage des Regierens im Sozialismus beschäftigte. Die Akademiker fanden in der kurzen Reformperiode Rückhalt für ihre Forderung, wissenschaftlichen Expertisen ein größeres Gewicht bei politischen Entscheidungen beizumessen. Sommer beschrieb als zweite Fallstudie aufgrund von Zeitschriftenpublikationen einen neuen Typ des Wirtschaftsmanagers in der Reformperiode: Er sollte nicht nur den geforderten Plan erfüllen, sondern eher die Rolle eines Marktakteurs übernehmen und aktiv entscheiden. Sommer fasste abschließend zusammen, dass Experten sich stärker bemühten, Teil der politischen Entscheidungsfindung zu werden, und dabei auch Kritik am Sozialismus, der marxistischen Ideologie und an Parteifunktionären ohne Expertise übten.

Probleme der Entscheidungsfindung thematisierte auch MATTHIAS GLOMB (Münster) in seinem Vortrag zum „bildungspolitischen Planen und Entscheiden im bundesrepublikanischen Mehrebenensystem der 1960er Jahre“. Hauptaugenmerk legte Glomb auf die Lösung der Probleme im bildungspolitischen Beratungs- und Entscheidungssystem der 1960er-Jahre. Dort sei die Etablierung der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung eine Reaktion auf das ungeklärte Verhältnis von politischen Entscheidungsträgern und wissenschaftlichen Experten gewesen. Eine Verbesserung von Prozessen des Beratens und Entscheidens sei hier durch die Entflechtung der Beratungs- und der Entscheidungsebene angestrebt worden, ein Ansinnen, das schließlich scheiterte.

Im darauffolgenden Kommentar von WILFRIED RUDLOFF (Kassel) wurde der Wissenschaftler als politische Ressource in den Mittelpunkt gestellt. Die Beziehung zwischen Experte und Politiker sei keine Einbahnstraße, sondern beinhalte eine Beeinflussung der Wissenschaft durch die Politik. Rudloff nannte als die drei politischen Funktionen der Wissenschaftsberatung die Legitimationsfunktion, die Funktion der Zeitgewinnung bei Konflikten und die wissenschaftliche Funktion (z.B. Agenda-Setting). Er merkte an, dass diese Funktionen im sozialistischen Osten aufgrund des herrschenden politischen Einparteiensystems nicht existierten. Um die Unterschiede aufzuzeigen, hielt er eine Vergleichsanordnung zwischen Ost und West für interessant und notwendig. Abschließend stellte Rudloff fest, dass die Wissenschaft einem Prozess der Entzauberung unterliege: Durch sie werde Politik nicht vereinfacht, sondern verkompliziert und oftmals zum Problemerzeuger, sodass ein Vertrauensverlust stattfinde.

In den abschließenden Kommentaren regte UWE SCHIMANK an, das Konzept der Nation als analytische Kategorie nicht außen vor zu lassen. Außerdem gelte es, das Verhältnis von „Politikern“ und Experten“ zu differenzieren, da bei Letzteren mindestens zwischen Planern und Managern zu unterscheiden sei, was bei der Analyse von Entscheidensprozessen bedeutsam sei.

MICHAEL RUCK (Flensburg) betonte in seinem Kommentar, dass in einem Vergleich zwischen Ost und West trotz Analogien auf der informellen Ebene die gravierenden systemischen Unterschiede nicht negiert werden dürften. Außerdem sollten Begrifflichkeiten wie „Transparenz“ oder „Rationalität“ reflektierter und nicht voraussetzungslos verwendet werden. Darüber hinaus müssten Untersuchungen, die sich mit Prozessen des Entscheidens befassen, stark mit den Rahmenbedingungen dieser Prozesse auseinandersetzen.

Die Tagung gewährte spannende Einblicke in das Phänomen politischen Entscheidens auf einer ideengeschichtlichen und praktischen Ebene. Selbiges wird in der Historiographie oftmals verkürzt auf Entscheidungen oder als „Black-Box“ wahrgenommen. Die Aufmerksamkeit für Prozesse des Entscheidens in spezifischen Kontexten zu erhöhen und auch methodische Fallstricke und blinde Flecke zu benennen, ist ein wesentliches Verdienst dieser Tagung. Eine den positiven Eindruck aber nur unwesentlich trübende Leerstelle war, dass nur vereinzelt eine wirklich übergreifende Perspektive von Entscheidensprozessen im Kalten Krieg gelang, was allerdings dem länderbezogenen Zuschnitt der vorgestellten Projekte und Fallstudien geschuldet gewesen sein dürfte.

Konferenzübersicht:

I. Narrative des Entscheidens in Ost und West – Parallelen und Divergenzen, Transfers und Verflechtungen

Sonja Amadae: Normalizing Rational Choice: The Case of Worst-Case Planning
Stephan Merl: Kulturen des Entscheidens in der Sowjetunion, 1917 bis Mitte der 1960er Jahre
Uwe Schimank: Kommentar

II. Orte und Machtzentren des Entscheidens

Rüdiger Bergien: Hausmitteilungen und Telefonpolitik. Die Informalität des Entscheidens in der Machtzentrale der SED (1971-1989)
Stefan Lehr: Orte und Mechanismen des politischen Entscheidens in der sozialistischen Tschechoslowakei (1969-1989)
Nikolay Mitrokhin: Ping-Pong Relations and Other Real Mechanics of Administrative Management in the Central Apparat of CPSU in 1960s-1980s
Svenja Schnepel: Das Bundeskanzleramt – (in)formale Zentrale des politischen Entscheidens der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren
Stephan Merl: Kommentar

III. Vom Nutzen und der Nutzung der Wissenschaft in Ost und West

Matthias Völkel: Politische Entscheidungen als kybernetische Prozesse in der sowjetischen Wissenschaft
Vítězslav Sommer: Decision-Making, Social Scientific Expertise and Rationality of Governance in State Socialism, Czechoslovakia (1956-1970)
Matthias Glomb: Politics meets Experts: Bildungspolitisches Planen und Entscheiden im bundesrepublikanischen Mehrebenensystem der 1960er Jahre
Wilfried Rudloff: Kommentar

IV. Abschlussdiskussion

Uwe Schimank: Kommentar aus soziologischer Perspektive
Michael Ruck: Kommentar aus historischer Perspektive