Protestantische Institutionen in Mitteldeutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft

Protestantische Institutionen in Mitteldeutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft

Organisatoren
Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit (19.–21. Jahrhundert), Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt; Historische Kommission für Sachsen-Anhalt; Diakonissen-Mutterhaus Cecilienstift Halberstadt
Ort
Halberstadt
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2017 -
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Von
Yvonne Kalinna, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Karitative Aufgaben erfüllten protestantischer Institutionen seit Jahrhunderten auf vertrauensvolle Weise. Doch wie ließ sich diese Arbeit während der zutiefst menschenverachtenden und selektiv-rassistischen nationalsozialistischen Herrschaft umsetzen? Das Anliegen der Organisatoren der Tagung war es, einzelne protestantische Institutionen des mitteldeutschen Raums in den Blick zu nehmen, um nachzuspüren, wie sich diese im „Dritten Reich“ konkret positioniert und verhalten haben. Denn keineswegs gibt es hierüber bereits ausreichende Erkenntnisse.

So verdeutlichte SILKE SATJUKOW (Magdeburg), die zusammen mit DAVID SCHMIEDEL (Magdeburg) Initiatorin des Workshops war, bereits in ihrem Grußwort, dass in der Auseinandersetzung mit den Handlungsspielräumen protestantischer Einrichtungen im Nationalsozialismus grundlegende moralische, ethische sowie theologische Problemhorizonte zutage gefördert werden könnten. Denn es sei zu erwarten, dass nicht nur Entgrenzungen auf institutioneller, sondern auch auf persönlicher Ebene ausgehoben werden würden, so Satjukows Statement. Beim Diskutieren über das Denken und Handeln evangelischer ChristInnen aus diesen Institutionen würde vermutlich deutlich werden, dass die AkteurInnen vier zentralen Paradigmen unterlagen: Recht und Gerechtigkeit, Rechtfertigung und Barmherzigkeit.

Inhaltlich wurde in die Tagung von MANFRED GAILUS (Berlin) eingeführt. In seinem Vortrag umriss er zunächst die inneren Verhältnisse der protestantischen Landeskirchen in den 1930er-Jahren. Dabei machte er deutlich, dass keinesfalls eine einheitliche Linie bestand, sondern die Verhältnisse der immerhin 28 Landeskirchen untereinander durch einen eher scharf ausgeprägten Partikularismus, mit deutlichen interkonfessionellen Rivalitäten der Konfessionen gekennzeichnet waren. Vor dieser Kulisse könne man nicht von einer national geeinten evangelischen Kirche sprechen, die sich geschlossen zur erstarkenden nationalsozialistischen Politik ins Verhältnis setzte, betonte der Historiker Gailus weiter. Um hier belastbare sowie längst überfällige Forschungsergebnisse erhalten zu können, sei eine regional fokussierte Auseinandersetzung notwendig. Dabei könne man jedoch auf eine allzu kleinteilige Auseinandersetzung mit jeder einzelnen Landeskirche verzichten. Stattdessen sei es vorteilhafter die Positionierung der Kirchen gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie in einer Typologisierung zusammenfassen, resümierte er.

Wie sich die Handlungsmöglichkeiten einzelner protestantischer Einrichtungen während der nationalsozialistischen Diktatur veränderten, welche Spielräume für ihr Agieren noch verblieben und wie sie diese zu nutzen wussten, verdeutlichten die anschließenden Vorträge eindrücklich. So ging HELMUT BRÄUTIGAM (Berlin) in seinem Vortrag zunächst auf die regionalen Beispiele des Paul-Gerhard-Stifts sowie dem Diakonissenmutterhaus ‚Frauenhilfe fürs Ausland‘ aus der Lutherstadt Wittenberg ein. Dabei verdeutlichte er nach kurzem Umreißen der jeweiligen Organisationsstrukturen, dass Diskrepanzen zwischen politischen Auffassungen und konfessionellen Positionen nicht erst mit Regierungsbeginn der Nationalsozialisten begannen. Während sich zunächst jedoch die konfessionellen Vorstände beider Einrichtungen erfolgreich gegen einzelne politische Attacken von außen behaupten konnten, gelang dies ab Mitte der 1930er-Jahre immer weniger. Denn mit steigender nationalsozialistischer Einflussnahme setzte ein Erodieren der diakonischen Autonomie sowie Selbstbehauptungsmöglichkeiten ein. Neben einem markanten Wandel in Personalstruktur und -klima ¬– bedingt durch eine sich stetig politisierende Ärzteschaft, Entlassungen „nicht-arischen“ Personals sowie einem Nachwuchsmangel bei den Diakonissinnen – zeigte sich die veränderte Arbeitsweise vor allem in der Durchführung von Sterilisationen. Aufgrund der konfessionellen Bindung galt hierfür zunächst eine Kann-Bestimmung, die sich durch die nationalsozialistischen Vorgaben zur Verhinderung sogenannten „rasseunwerten“ Nachwuchses zu einem Muss wandelte. Im Fokus der sich anschließenden Diskussion stand gerade die Frage nach dem Gewissen der handelnden Ärzteschaft.

Im darauffolgenden Vortag ELENA KIESELS (Magdeburg) stand mit dem Cecilienstift erneut ein regionales Beispiel im Fokus. Die in Halberstadt ortsansässige Institution war mit der Intention gegründet worden, durch christliche Fürsorge der mit der Industrialisierung einsetzenden Säkularisierung und Verelendung etwas entgegen setzen zu können. Besonders das Kindeswohl stand dabei im Zentrum des Interesses, sodass das Aufgabenfeld des Stifts auch die Ausbildung von Kleinkindlehrerinnen beinhaltete. Unter den Vorzeichen der nationalsozialistischen Machtzunahme erschwerte sich auch hier das Wirken der Einrichtung erheblich. Gerade die stetig ansteigende Bedeutung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, deren Arbeit sich hauptsächlich auf den sogenannten erbgesunden Teil der Gesellschaft konzentriert hatte, brachte das Stift in eine zunehmend (auch finanziell) desolate Situation. Um die gänzliche Verdrängung der kirchlichen Fürsorge zu verhindern, wog der vorstehende Pastor des Stifts, Otto Hanse, immer wieder ab, inwieweit Parteiideologien im Sinne der eigenen protestantischen Wertevorstellungen genutzt werden konnten. Inwiefern das Verhalten des Pastors als Parteihörigkeit oder Widerstand gewertet werden kann, war schließlich ein Aspekt der sich anschließenden Diskussion.

BENEDIKT BRUNNER (Bonn) erweiterte mit seinem Vortrag zur Volkskirche und deren Rolle im mitteldeutschen Raum den Blick von lokalen Beispielen zum überregionalen Raum. Dabei ging Brunner zunächst auf den Begriff der Volkskirche eine und arbeitete heraus, dass sich hierin das Zusammendenken von Volk und Staat um kirchliche Dimension erweiterte. Ausgehend vom nationalsozialistischen Volksverständnis, als Gemeinschaft gleichen Blutes und gleicher Rasse hätten etablierte Theologen wie Walter Grundmann durchaus unlogisch für den direkten Bezug vom Umbau des Volkes nach Gotteswillen argumentiert, so Brunner weiter. Einher ging damit die Fokussierung der kirchlichen Arbeit allein auf das „deutsche“ Volk, ganz im rassistischen Sinne der NS-Vorstellungen. Brunner verdeutlichte in seinem Vortrag auf eine weitere, andere Art von Kirchenkampf: Nämlich den der Volkskirche um Missionierung und Rasseverständnis.

Mit dem Kaiserswerther Verband setzte sich NORBERT FRIEDRICHS (Düsseldorf) in seinem Beitrag auseinander. Dieser, so stellte Friedrich dar, hatte sich ab Mitte der 1930er-Jahre zu einem Dachverband für diakonische Einrichtungen etabliert und fungierte vorrangig als Beratungsinstanz für die angeschlossenen Diakonissen-Mutterhäuser. Gerade in dieser Rolle war die politische Positionierung des Verbandes während der Zeit des Nationalsozialismus umso interessanter. So ließ Friedrich in seinen weiteren Darlegungen deutlich werden, dass die Verbandsvorstände die politischen Entwicklungen ab 1933 zunächst durchaus ebenso begrüßt hatten, wie die Idee des Aufbaus einer deutschen „Reichskirche“. Zugleich ließen Quellen zum internen Schriftverkehr zwischen Verband und einzelnen Einrichtungen ambivalentere Positionierungen deutlich werden, die den Diakonissenhäusern Spielraum nach eigenem Ermessen beziehungsweise der Situation vor Ort ermöglicht hatten.

DIRK SCHUSTER (Potsdam) richtete in seinem Beitrag den Blick auf eine weitere regionale Einrichtung mit überregionaler Wirkung, dem sogenannten ‚Eisenacher Entjudungsinstitut‘ und dessen theologische Unterstützung einer christlich-völkischen Bewegung. In der Darlegung des Selbstverständnisses der Arbeit des Instituts wurde dessen Nähe zur Ideologie des Nationalsozialismus deutlich: Die „Entjudung“, so legte Schuster dar, wurde im Sinne des Glaubensbildes der Kirchenbewegung ‚Deutscher Christen‘ als aktiver Prozess in der Mitgestaltung des sogenannten Dritten Reichs verstanden. Dabei galt die Vorstellung, dass Adolf Hitler als „Gesandter Gottes“ zu sehen sei und sein Tun entsprechend göttliche Legitimität besäße. Unterstützung können man ihm im Inneren der Gesellschaft vor allem auf religiöser Ebene leisten, so die Ansichten der Deutschen Christen nach Schusters Auffassung. Dieser Vorstellung folgend lag die Arbeit der am Institut tätigen Mitarbeiter vorrangig in der „Entjudung“ von Lehre und Liturgie, als dessen Ergebnisse Liederbücher sowie Bibeln herausgegeben wurden, in denen jüdische Bezüge getilgt wurden waren. Anhand einzelner Beispiele, so etwa, dass Jesus kein „rassischer Jude“ war, sondern vielmehr dem Judentum feindlich gegenübergestanden habe, veranschaulichte Schuster die grotesken Argumentationen der zum Teil angesehenen Theologen.

Mit einem weiteren regionalen Fallbeispiel wartet anschließend FRUSZINA MÜLLER (Leipzig) auf, die über das Leipziger Diakonissenhaus und dessen Handlungsmöglichkeiten berichtete. Ähnlich wie in den zuvor beschriebenen Beiträgen machte sie dabei darauf aufmerksam, dass auch in der Leipziger Einrichtung die Machtübertragung auf die Nationalsozialisten offen begrüßt worden war. Hierfür verwies sie auf ein von Rektor Gerhard Lohoff verfassten Rundbriefartikel, dessen Inhalt deutlich werden ließ, dass auch hier die Person Adolf Hitler überhöht und auf einer metaphorischen Ebene legitimiert wurde: Hitler, so zeichnete Müller die Ansichten des Rektors nach, sei ein „gottgesandter Arzt“ der das kranke Deutschland heilen wollen und dem deshalb zu folgen sei. Dass das Personal des Diakonissenhauses dem Apell nicht uneingeschränkt Folge leistete, ließ der Vortrag ebenso deutlich werden wie, dass die partielle Befürwortung und Unterstützung des nationalsozialistischen Regimes als Überlebensstrategie der Einrichtung genutzt wurde.

HAGEN MARKWARDT (Pirna) wandte sich in seinem Beitrag dem spezifischen Bereich der psychiatrischen Fürsorge zu. Hierfür nahm er sich dem Fallbeispiel Katharinenhof Großhennersdorf (Sachsen) an, das in der Obhut der Inneren Mission lag. Konkret nach den Verantwortlichkeiten einzelner AkteurInnen, insbesondere in Bezug auf die Haltung gegenüber Zwangssterilisationen fragend, umriss Markwardt zunächst holzschnittartig Forschungsstand und Historie zur Einrichtung, bevor auf das Verhältnis von Protestantismus zu Rassenhygiene in Sachsen überleitete. Dabei zeigte sich, dass sich mit der Hilfskonstruktion von Interessenidentitäten, so die Einschätzung Markwardts, die Arbeit von Staat und Innerer Mission getrennt beziehungsweise auf diese Weise die Versorgung von sogenannten Geistesschwachen aus den Aufgabenbereich des Staates herausgelöst und in den der Inneren Mission überführt wurde.

Mit dem Beitrag KARSTEN KRAMPITZ (Berlin) zum Bekenntnispfarrer Wolfgang Staemmler schloss die Tagung schließlich die inhaltlichen Beiträge ab. Krampitz zeichnete in bild- wie lebhafter Sprache den Lebensweg Staemmlers nach und verdeutlichte, dass der als Präsens der Bekenntnissynode der evangelischen Kirche tätige Theologe mehrfachen Redeverboten und Inhaftierungen zum Trotz staatlichen Auflagen standhaft gegenübertrat.

In der abschließenden, als Roundtable konzipierten, finalen Diskussion wurde noch einmal hervorgehoben, wie facettenreich sich die Handlungsmöglichkeiten der caritativen Einrichtungen Mitteldeutschlands sowie deren Angehörigen gestaltet hatten. Dass hierbei längst nicht alle offenen Fragen in ausreichender Weise beantwortet werden konnte, macht zudem deutlich, wie notwendig eine weitere Erforschung dieses Themenbereichs der Zeitgeschichte bleibt; und dies nicht zuletzt auch, um an die Situation während der DDR anknüpfen zu können.

Konferenzübersicht:

Silke Satjukow (Magdeburg): Begrüßung

Manfred Gailus (Berlin): Regionen im Kirchenkampf: Probleme und Zwischenbilanz

Helmut Bräutigam (Berlin): Das Paul-Gerhard-Stift und das Diakonissenmutterhaus ‚Frauenhilfe fürs Ausland‘ in Lutherstadt Wittenberg 1933 – 1945

Elena Kiesel (Magdeburg): Kampf um die Kindeseele – Das Cecilienstift in Halberstadt im Nationalsozialismus

Benedikt Brunner (Bonn): Ein Volk, ein Reich, eine Kirche? Die Debatten über die Volkskirche im Kontext des mitteldeutschen „Kirchenkampfes

Norbert Friedrich (Düsseldorf): Der Kaiserswerther Verband in der Zeit des Nationalsozialismus

Dirk Schuster (Potsdam): Die Fortführung von Luthers Reformation unter antisemitischen Vorzeichen. Das Eisenacher ‚Entjudungsinstitut‘ als evangelische Einrichtung zur ‚Arisierung‘ des Christentums

Fruzsina Müller (Leipzig): Das Leipziger Diakonissenhaus im Nationalsozialismus

Hagen Markwardt (Pirna): ‚Minderwertigkeit‘ als Argument – Der Wechsel der sächsischen Landesanstalt Großhennersdorf in die Verwaltung der Inneren Mission

Karsten Krampitz (Berlin): Standhaft: Wolfgang Staemmler, Bekenntnispfarrer in zwei Diktaturen

Round Table
Moderation: David Schmiedel (Magdeburg)


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