AWO und Wohlfahrtspflege in Deutschland. Entwicklungslinien und Zäsuren

AWO und Wohlfahrtspflege in Deutschland. Entwicklungslinien und Zäsuren

Organisatoren
Jürgen Mittag / Philipp Kufferath, Institut für Europäische Sportentwicklung und Freizeitforschung, Deutsche Sporthochschule Köln
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.10.2017 - 27.10.2017
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Von
Felix B. Kollritsch, Ruhr-Universität Bochum

Der Workshop hatte es sich zum Ziel gesetzt, im Rahmen eines laufenden Forschungs- und Buchprojekts zum 100-jährigen Bestehen der AWO, Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler sowie Mitglieder und Funktionsträger der AWO ins gemeinsame Gespräch zu bringen und sich so der Verbandsgeschichte aus mehreren Perspektiven zu widmen.

WILHELM SCHMIDT (Berlin) wies als Vorsitzender des AWO-Präsidiums in seinen Begrüßungsworten darauf hin, dass die vielfältige Geschichte der AWO bisher nur partikulär, aber nicht umfassend erforscht sei. Genau diese systematische Aufarbeitung hat sich das Buchprojekt der Veranstalter zum Ziel gesetzt und in Kooperation mit dem AWO-Bundesverband und dem Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit der tief gehenden Bearbeitung und Auswertung des Quellenmaterials begonnen.

Die unterschiedlichen und oft heterogenen Perspektiven in der historischen Beschäftigung mit der Geschichte der AWO in Deutschland wurden vom Workshop durch sechs thematische Panels versucht abzubilden. Den Anfang machten PHILIPP KUFFERATH (Köln), JÜRGEN MITTAG (Köln) und WILLY BUSCHAK (Bochum) mit ihren Vorträgen im Teil „Sozialdemokratische Wohlfahrtspflege zwischen Weltkrieg, Revolution und Demokratie“. Während Kufferath zur „Vorgeschichte und Gründung“ vor allem auf die sozial-geschichtlichen Entwicklungsstränge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwies, die zur Entstehung der Arbeiterwohlfahrt im Dezember 1919 geführt haben und die Entwicklungen des Ersten Weltkrieges und der Kriegsgesellschaft nachzeichnete, die gerade die Frauen zum öffentlichen Akteur in der entstehenden Wohlfahrtspflege machte, arbeitete Mittag die Traditionslinien der sozialdemokratischen Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik heraus und verwies auf die „kritischen interpretatorischen Momente in der Geschichte der AWO“, so auf das Verhältnis zur SPD und den Gewerkschaften oder auf die Spannungen zwischen der männliche Arbeiter fokussierten staatlichen Sozialpolitik im Kontrast zur weiblich konnotierten Armen- und Wohlfahrtspflege. Buschak zeigte anhand der Entwicklungen in Sachsen, wie die AWO in der Weimarer Republik zugleich Produkt der Moderne als auch ein wesentlicher Motor war, eingebettet in ein dichtes Netzwerk von Partei- und Gewerkschaftsorganisationen.

Das Panel zur Geschichte der Arbeiterwohlfahrt zwischen Verbot und Exil beschäftigte sich zum einen mit den Fragen nach dem Ende der AWO im Angesicht des NS-Regimes und zum anderen mit den Fragen einer möglichen Fortführung der Arbeit der AWO im Exil. Philipp Kufferath arbeitete in einem weiteren Vortrag heraus, dass der Selbstauflösung der AWO als Versuch, sich dem NS-Regime zu entziehen, zwei divergente Strategien auf Seiten der NS-Herrschaft gegenüberstanden. Während aus den Reihen der Deutschen Arbeiterfront (DAF) vergebliche Gleichschaltungsversuche unternommen wurden, lassen sich auf Seiten des staatlichen Verwaltungsapparats, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) und anderer NS-Organisationen zahlreiche Bemühungen ausmachen, die sozialdemokratische Arbeiterwohlfahrt zu zerschlagen und sich ihre Heime, Grundstücke, Mobiliar und Vermögen zu beschlagnahmen und anzueignen. Gerade in diesem komplexen Themenfeld liegt Potenzial für weitere Forschungen.

ANDREAS MARQUET (Bonn) verdeutlichte in seinem Vortrag das komplexe Verhältnis der AWO zur Sozialdemokratie in dieser schwierigsten Phase ihrer Existenz. Sowohl anhand der Ereignisse im französischen als später auch US-amerikanischen Exil war ein koordinierter Wieder- bzw. Neuaufbau der AWO auch aufgrund personeller Differenzen und der Konkurrenzsituation innerhalb und mit der SoPaDe kaum möglich. So wurde die Wohlfahrtspflege im Exil häufig instrumentalisiert, um die eigene politische Mitsprache zu verstärken.

Im Panel über biografische Zugänge zu Protagonistinnen der unterschiedlichen Ebenen zeigten ROTRAUT HAMMER-SOHNS (Hildesheim) zu Elise Bartels (1880-1925), HANNA ECKHARDT (Frankfurt am Main) zu Johanna Tesch (1875-1945) und LYDIA STRUCK (Hamburg) zu Lotte Lemke (1903-1988) die Bedeutung der persönlichen Lebenswege und individuellen Politisierungsgeschichte zentraler Akteurinnen für die ideen- und organisationsgeschichtliche Entwicklung der Arbeiterwohlfahrt in Deutschland. Im Fokus standen sowohl die Zugehörigkeit zu spezifischen sozialdemokratischen Milieus als auch die regionalen Schwerpunkte in der Arbeit der Akteurinnen, sowie im Falle von Elise Bartels und Johanna Tesch auch das Wirken als Reichstagsabgeordnete für die SPD in der Weimarer Republik. Anhand der Biografie von Lotte Lemke, die sowohl in der Weimarer Republik als auch in der Bundesrepublik als Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt tätig war, wurden zudem Kontinuitätslinien deutlich. Das dramatische Schicksal Johanna Teschs, die im April 1945 während der Haft im Konzentrationslager Ravensbrück starb, manifestierte die individuelle Verfolgung und Ermordung durch den NS-Terror.

Der öffentliche Abendvortrag von WILFRIED RUDLOFF (Kassel) näherte sich der Geschichte der AWO auf einer politik- und sozialwissenschaftlichen Metaebene und untersuchte das Konzept fünf historisch bedingter Wohlfahrtsregime anhand dreier Frageperspektiven. Im Zentrum standen für Rudloff die „Dialektik von Leistung und Eingriff“, das jeweils dominante Armutsbild sowie das Beziehungsgefüge von Staat und Zivilgesellschaft als prägnante Strukturen für die Entwicklung und Arbeit der Wohlfahrtspflege in der jeweiligen Epoche. Die analysierten Wohlfahrtsregime der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, des NS-Regimes, der DDR und der Bundesrepublik brachten die Bedeutung von Wertigkeits- und Würdigkeitskategorien für das jeweilige Bild von Armut, das Verhältnis von Eingriff und Leistung sowie das Verhältnis von staatlicher Einflussnahme und dem Angewiesen-Sein auf Infrastruktur der Pflege-Verbände zum Vorschein.

Am zweiten Tag untersuchte ANNE HANS (München) anhand spezifischer erziehungswissenschaftlicher Fachdiskurse die Positionen der AWO und ihr Standing innerhalb der Diskussionen von 1945 bis 1961. Die Positionen der AWO divergierten von Übereinstimmung, Anpassung an die fachöffentliche Meinung und konsequenter Opposition, je nach Themenfeld. Hans kam zu dem Ergebnis, dass die AWO im Fachdiskurs der Bundesrepublik nicht mehr systematisch von bürgerlichen und konfessionellen Verbänden ausgegrenzt wurde, sich gleichzeitig aber auch angepasster verhielt als noch in der Weimarer Republik. Letztlich lässt sich aber keine große Divergenz in den Jugendhilfediskursen der Frühphase der Bundesrepublik ausmachen. Der Vortrag von ROLF G. HEINZE (Bochum) näherte sich der Geschichte der AWO in der Bundesrepublik ab den 1970er-Jahren vor allem vor dem Hintergrund der Sozialpolitik. Ausgehend von einer zunehmenden Ökonomisierung der Sozialpolitik entstanden für die Wohlfahrtspflege auch Fragen des Verhältnisses von Wertorientierung und Profitabilität. Als zukunftsorientierte Perspektive verwies Heinze auf die zunehmende Bedeutung der Digitalisierung und digitaler sozialer Netzwerke für die Wohlfahrtspflege und ihre weitere Entwicklung.

Eines der zentralen Themenfelder der Geschichte der AWO in den 1990er-Jahren war der Neuaufbau bzw. die Expansion der Wohlfahrtspflege in den neuen Bundesländern. JÜRGEN LUDEWIG (Berlin) und TILO VON AMELN (Dresden) verdeutlichten dabei aus einer erinnerungsgeschichtlichen Perspektive heraus ihre Erfahrung beim Aufbau und in der Arbeit des Verbindungsbüros des Bundesverbandes der AWO und des Aufbaus einer regionalen Organisationsstruktur der AWO in Sachsen. Deutlich wurde vor allem die Schwierigkeit vieler westdeutscher AWO-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Strukturen und Traditionen der Wohlfahrtspflege sowie die improvisierte kommunale Ausgangssituation in Ostdeutschland adäquat zu überblicken. Für die Arbeit zum Beispiel in Sachsen und den Aufbau einer Organisationsstruktur zeigte sich auch die Problematik der AWO als Mitgliederverein vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen vieler der Beteiligten mit Zwangsmitgliedschaften in der DDR. Auch der Aufbau einer betriebswirtschaftlich orientierten Unternehmensstruktur gestaltete sich als schwierig. WOLFGANG STADLER (Berlin) beschrieb anschließend am Beispiel des Bezirksverbands Ostwestfalen-Lippe auch für westdeutsche Verbände die Probleme einer notwendigen Umstrukturierung der AWO. Wesentlich stellte sich hier vor allem die Problematik des Rückgangs der Mitglieder der AWO bei gleichzeitigem starkem Anstieg der Beschäftigten seit den 1980er-Jahren dar, eine Situation, die auch für die Gegenwart und Zukunft der AWO enorme Bedeutung besitzt.

Das abschließende Panel zur Erinnerungspolitik und Repräsentation der AWO veranschaulichte anhand der Projekte von CAROLINE WEBER (Kiel) in Zusammenarbeit mit Karoline Liebler sowie den Projekten von BRUNO STEINMANN (Bremen) und DIETER ECKHARDT (Frankfurt am Main) die unterschiedlichen Potenziale der historischen Beschäftigung mit der AWO vor ihren kommenden 100-jährigen Jubiläum. Gerade regionalgeschichtliche Projekte reichen von einer quellengestützten Aufarbeitung zu breit angelegten Oral-History Projekten und akteursspezifischen Zugängen zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterwohlfahrt. Das vorgestellte Dissertationsprojekt von MARCUS MESCH (Hamburg) nähert sich der Geschichte des Jugendwerks der AWO vor dem Fragekomplex einer möglichen Entpolitisierung des Jugendwerks in den späten 1960er-Jahren und versucht die Debatten und Diskurse im Rahmen des Jugendwerks und der Fragen nach der Politisierung junger Menschen umfassend zu analysieren. MAIKE BEUTLER (Berlin) stellte als Referentin des AWO Bundesverbands die Planungen zum 100-jährigen Jubiläum vor und verdeutlichte die Relevanz spezifischer Erinnerungsorte wie zum Beispiel das neue Denkmal für Marie Juchacz in Berlin.

Die Veranstalter resümierten das Ziel des Workshops abschließend als Möglichkeit zur Kommunikation und zum Austausch der heterogenen Strömungen der AWO und ihrer Erforschung. Der explorative Ansatz des Workshops verdeutlichte dabei auch, wie wichtig und gewinnbringend der Austausch von fachwissenschaftlicher Expertise und erinnerungsgeschichtlichen Erfahrungen sein kann. Dabei stellte sich heraus, dass die Geschichte der AWO als Sozial- und Wohlfahrtsgeschichte wesentlicher Teil der deutschen Zeitgeschichte ist. Die unterschiedlichen methodischen und theoretischen Zugänge, die Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaften dabei bieten, ermöglichen es der Darstellung von Kontinuitäten, Brüchen und Traditionslinien der sozialdemokratischen Arbeiterwohlfahrt dabei ein äußerst dichtes und komplexes Bild zu zeichnen. Die Fragen, denen sich der Band zum 100-jährigen Jubiläum stellen wird, sind vor allem die nach der Rolle und Funktion der AWO im Verhältnis zum Staat, der Beziehung von AWO und SPD sowie der Frage nach dem Ort der Erinnerung im kollektiven Bewusstsein. Die im Workshop zu Tage getretenen und gewonnenen Erkenntnispotenziale lassen eine detailreiche und gewinnbringende Erforschung dieser Themenkomplexe in den nächsten Jahren erwarten.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Vorstellung des Projekts

Wilhelm Schmidt (Berlin, Vorsitzender des AWO-Präsidiums)

Sozialdemokratische Wohlfahrtspflege zwischen Weltkrieg, Revolution und Demokratie

Philipp Kufferath (Köln): Vorgeschichte und Gründung
Jürgen Mittag (Köln): Entwicklung in der Weimarer Republik
Willy Buschak (Bochum): Regionale Besonderheiten in Sachsen.
Kommentar und Moderation: Anja Kruke (Bonn, Vorsitzende wiss. Beirat)

Die Arbeiterwohlfahrt zwischen Verbot und Exil

Philipp Kufferath (Köln): Verbot und Liquidation des Hauptausschusses 1933/34,
Andreas Marquet (Bonn): Politisierung der Arbeiterwohlfahrt im Exil.
Kommentar und Moderation: Dietmar Süß (Augsburg).

Biografische Zugänge: Protagonisten der unterschiedlichen Ebenen

Rotraut Hammer-Sohns (Hildesheim): Elise Bartels (1880–1925)
Hanna Eckhardt (Frankfurt am Main): Johanna Tesch (1875–1945)
Lydia Struck (Hamburg): Lotte Lemke (1903–1988).
Kommentar und Moderation: Stefan Berger (Bochum)

Fünf Wohlfahrtsregime: Sozialpolitik, Wohlfahrtsverbände und AWO im 20. Jahrhundert. Öffentlicher Abendvortrag, in Kooperation mit dem Kolloquium des Instituts für soziale Bewegungen, Bochum

Vortrag: Wilfried Rudloff (Kassel)
Begrüßung: Stefan Berger (Bochum)
Moderation: Anja Kruke (Bonn)

Themenfelder und Schwerpunkte der Wohlfahrtspflege nach 1945

Anne Hans (München): Wohlfahrtsverbände und Kinder- und Jugendhilfe (1945-1961)
Rolf G. Heinze (Bochum): Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik ab 1975.
Kommentar und Moderation: Thomas Rauschenbach (München)

Die AWO nach 1990: Expansion und schwierige Neugründung

Jürgen Ludewig (Berlin): Die Arbeit des Verbindungsbüros
Tilo von Ameln (Dresden): Der Neuaufbau in Sachsen
Wolfgang Stadler (Berlin): Umstrukturierung in den Regionen, am Beispiel eines Bezirksverbands.
Kommentar und Moderation: Norbert Wohlfahrt (Bochum)

Institutionen und Strukturen, Aufarbeitung und Repräsentation: AWO-Erinnerungsorte

Caroline Weber (Kiel): Studie zur AWO Schleswig-Holstein
Bruno Steinmann (Bremen): AWO Bremen
Dieter Eckhardt (Frankfurt am Main): Die AWO-Geschichtswerkstatt Frankfurt am Main
Marcus Mesch (Berlin): Jugendwerk der AWO
Maike Beutler (Berlin): Verbandsjubiläum 2019.
Kommentar und Moderation: Michael Scheffler (Hagen)

Abschlussbilanz und Ausblick

Anja Kruke (Bonn) / Philipp Kufferath (Köln) / Jürgen Mittag (Köln)


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