Praxistheoretische Ansätze in der Geschichtswissenschaft. Chancen und Grenzen

Praxistheoretische Ansätze in der Geschichtswissenschaft. Chancen und Grenzen

Organisatoren
Sven Reichardt
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.02.2005 - 26.02.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Wenke Nitz, Berlin/Konstanz

In den letzten Jahren gewinnen in den Geschichtswissenschaften zunehmend praxeologische Ansätze an Bedeutung. Hierbei handelt es sich um eine Form der interdisziplinären Kulturtheorie, die die historischen Akteure in den Vordergrund ihrer Betrachtung stellt und den konkreten historischen Handlungen und ihren strukturellen gesellschaftlich-kulturellen Grundlagen nachzugehen versucht. Das Ziel der von Sven Reichardt organisierten, am 25./26.2.2005 in Konstanz veranstalteten Konferenz "Praxistheoretische Ansätze in der Geschichtswissenschaft. Chancen und Grenzen" war die Zusammenführung verschiedener empirischer praxeologischer Studien und die kritische Hinterfragung derselben durch Experten anderer Bereiche der Historiographie, um nach Anregungen aus und Anknüpfungspunkten zu anderen Teildisziplinen allgemein zu fragen.

Die Praxistheorie wird als eine Kulturtheorie definiert, "die Kultur weder uniform, kohärent noch statisch begreift und statt dessen unter Kultur körperbezogene Handlungen versteht, die Machtbeziehungen, praktisches Wissen und historischen Wandel thematisiert" (Reichardt im Tagungskonzept). Soziale Praktiken werden aus diesem Blickwinkel als routinisierte Handlungsformen angesehen, die durch Repetition zu Strukturen verfestigt werden und dann wiederum von den historischen Akteuren als handlungsleitende Bezugssysteme angesehen werden - praxistheoretische Ansätze suchen somit, zwischen gesellschaftlicher Struktur und menschlichem Handeln zu vermitteln. Mit dem Fokus auf der Eigenlogik dieses Handelns grenzt sich die Praxeologie deutlich von Rational-Choice-Theorien und anderen Zweck-Mittel-Rationalitäten ab - vielmehr bleiben Handlungsziele zunächst relativ unbestimmt und spezifizieren sich erst im Verlauf des Handungsvollzugs. Die Eigensinnigkeit der Subjekte, die innerhalb der praxeologischen Ansätze eher als historische Akteure bezeichnet werden, wird ernstgenommen, allerdings nicht nur als Beschreibung von spezifischen Handlungssituationen, sondern mit dem Versuch, die Genese derselben in der Kultur zu ergründen. Das Soziale erscheint nicht nur als Zeichensystem, sondern als Zusammenspiel von körperlichen Verhaltensroutinen und praktischem Können auf der einen Seite und dem individuellen Aneignen dieser Praktiken auf der anderen Seite. Entscheidend ist jedoch, daß aus Sicht der Praxeologie die Funktionsweise einer Praxis nicht auf die Beschreibung des Mikrokosmos beschränkt bleiben kann, sondern in ihrer Tragweite erst durch die historische Kontextualisierung und gesellschaftliche Einbettung verstanden werden kann.

Nach dieser kurzen theoretischen Skizzierung durch Sven Reichardt folgten die einzelnen Fallstudien. Richard Biernacki (University of California, San Diego) verdeutlichte die Unterschiede zu klassischen Theorien menschlichen Handelns. Erstens gehen praxistheoretische Ansätze nicht davon aus, daß Handlungsziele generell übertragbar und lediglich die jeweiligen Mittel situationsgebunden seien. Vielmehr seien auch Ziele situationsgebunden; es handele sich in praxeologischer Perspektive um die Typisierung und Generalisierung von Repertoirs und Schemata menschlicher Handlungen. Zweitens wendet sich die Praxistheorie gegen die Vorstellung einer Hierarchie von Handlungszielen, wie sie bspw. in Webers Protestantischer Ethik konstruiert wird. Die Handlungsmöglichkeiten seien vielmehr prinzipiell mehrdeutig. Drittens wird die Annahme von einer Trennung zwischen Denken, Fühlen und Entscheiden als mentale Prozesse einerseits und dem konkreten Handeln andererseits verworfen - erstere gelten demgegenüber selbst als Handlungen.

Thomas Welskopps (Universität Bielefeld) Papier beschäftigte sich mit der frühen Sozialdemokratie (1848-1878): die frühen Sozialdemokraten gehörten verschiedensten Professionen an, waren mehrheitlich jedoch handwerklich gebunden; sie schlossen sich nach seinen Beobachtungen entgegen dem "Klassenbildungsmodell" weniger aus Interessenverfolgung und wirtschaftlich prekärer Lage zusammen, als vielmehr aus einem ausgeprägten Gemeinschaftsbedürfnis heraus. Die Organisationspraxis diente in diesem Fall zu großen Teilen der Gemeinschaftsbildung und -reproduktion. Erst in der politischen Öffentlichkeit der Versammlungen und Vereinssitzungen entstand, so Welskopp, die Identität als Arbeiter, "die Arbeiterschaft im Sinne der sozialdemokratischen Bewegung." (Welskopp)

Thomas Mergel (Universität Bochum) stellte seine Untersuchung zum Reichstag als sozialem Raum vor. Als unerläßlich für die Funktionstüchtigkeit der Institution Reichstag stellen sich hierbei ritualisierte und normierte Kommunikation, institutioneller Alltag und soziale Netzwerke heraus. Deutlich wird, daß kommunikative Routinisierungen eine entscheidende Rolle besaßen: obwohl die Weimarer Republik eine fragmentierte Gesellschaft darstellte und bei Weitem nicht alle Reichstagsmitglieder als erklärte Republikaner gelten konnten, generierten Handeln und Kommunizieren funktionstüchtige Strukturen - das Scheitern der Institution erklärt sich aus der Infragestellung von bis dato ungeschriebenen Regeln durch die Nationalsozialisten.

Die Praxis der faschistischen Kampfbünde, so Sven Reichardt (Universität Konstanz), ruhte auf Gewalt und Vergemeinschaftung, die eng miteinander verzahnt waren. Gegen Sternhells Vorstellung von einer kohärenten, handlungsleitenden Ideologie argumentierend unterstrich er die Bedeutung der gewaltzentrierten Interaktionsrituale, die eine starke emotionale Bindung innerhalb der Bünde garantierte. Die kollektiven Gewalthandlungen verfestigten sich durch die ständige Wiederholung. Reichardt unterstrich, daß der praxistheoretische Ansatz Fragen der Sozialgeschichte und der politischen Kulturgeschichte miteinander verbinde und somit neue Erkenntnisse über die innere Funktionslogik der Bünde ermögliche.

Malte Zierenbergs (Universität Köln) Ausführungen befaßten sich mit der Strukturbildung und Institutionalisierung durch repetitives Handeln auf dem eigentlich durch Anomie und Chaos gekennzeichneten Schwarzmarkt der 1940er Jahre. Der Tauschmarkt veränderte aufgrund einer sozialen Zwangslage die sozialen Beziehungen - er basierte durch die zugrundeliegende Illegalität auf einer erzwungenen Nähe. Interessant sind in diesem Fall die Verbindungen von Mikro- und Makroebene: die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation führte zu Unsicherheiten, die wiederum die Akteure nötigen, mit Hilfe ihrer Handlungen Ordnung in das Chaos zu bringen.

Thomas Lindenberger (ZZF Potsdam) wiederum näherte sich der sozialen Praxis der Mediennutzung an. Am Beispiel des Rock`n`Rolls und dessen erfolgreichen Transfers aus den USA in beide deutsche Staaten verwies er einerseits auf die kulturelle Aneignung von Sound und Habitus dieses neuen Musikstils durch aktive, audiovisuell vermittelte Teilhabe und Nachahmung, andererseits aber auch auf die unterschiedlich verlaufene Aneignung in Ost und West. Popkultur, deren Entwicklung sich durch immer neue Distinktionsmerkmale und Abgrenzungen auszeichnet, läßt sich, so Lindenberger, als praxeologische Rekonstruktion des Verhältnisses von Körperlichkeit, Machtbeziehungen und öffentlicher Sphäre beschreiben. Jugendliche Subkulturen sind somit integraler Bestandteil von Habitus- und Lebensstilmodellierungen und sollten in einer praxistheoretischen Rekonstruktion vergangener Mediennutzung eingehender untersucht werden.

Vor allem die Zusammenführung von praxeologischen Studien und den Kommentaren aus anderen Teildisziplinen erwies sich als interessant und fruchtbar: Zunächst fragten Josef Mooser (Universität Basel) und Willibald Steinmetz (Universität Bielefeld) nach dem Anspruch der praxeologischen Perspektiven. Dabei stand v.a. die Frage im Vordergrund, ob es sich bei der Praxistheorie um den Versuch handele, eine neue historiographische Gesellschaftstheorie zu entwerfen, oder ob der Fokus eher auf einer allgemeinen Perspektivenerweiterung liege, die den historischen Akteur stärker in den Blick nimmt und somit eher mikrohistorisch zu arbeiten suche. Die anschließende Diskussionsrunde machte deutlich, daß es in diesem Punkt unter den Praxeologen durchaus unterschiedliche Vorstellungen gibt: die Ausweitung des Forschungsblickes stellt sicherlich ein gemeinsames Anliegen der Praxeologen dar, daneben wird aber zumindest von einigen der umfassendere Rahmen einer gesellschaftstheoretischen Einbindung der Praxeologie nicht zwangsläufig aufgeben. In diesen Bereich gehört auch die Anregung, die theoretische und begriffliche Reflexion der Praxeologie voranzutreiben - so solle man sich mit Begriffen wie Sozialstruktur, Emotion, Erfahrung und praktischem Wissen auch theoretisch auseinandersetzen und sie nicht lediglich empirisch generieren. Willibald Steinmetz machte deutlich, daß eine Verbindung von Praxistheorie und Diskursgeschichte durchaus möglich und v.a. gewinnbringend sein könne: im Gebrauch von Begriffen konstituierten sich Bedeutungen - die historische Semantik ist aus dieser Perspektive nicht weit von der Praxeologie entfernt. Dazu müsse jedoch die sprachliche Kommunikation stärker in den praxeologischen Ansätzen beachtet werden.

Rudolf Schlögl (Universität Konstanz) formulierte aus systemtheoretischem Blickwinkel den Einwand, daß es sich bei praxeologischen Ansätzen um eine "Herkules-Theorie" handele, die dem Subjekt alle Bürden auferlege und es damit vollständig überfordere. Zudem sei der Fokus auf der Einkörperung von praktischem Wissen eine Überlastung des Körpers; die vorgestellten Untersuchungen zeigten zudem, daß praxeologische Ansätze offenbar v.a. mit der Analyse von Anwesenheitskommunikation beschäftigt seien. Des Weiteren sei der Blickwinkel der Systemtheorie ein anderer, weil sie versuche, eine Gesellschaftstheorie zu entwerfen. Dennoch seien Anknüpfungspunkte zur Praxistheorie denkbar, mit deren Hilfe der Vorwurf der Vernachlässigung des Individuums innerhalb der Systemtheorie entkräftet werden könne.

Bezüglich der Anknüpfungspunkte zu anderen theoretischen Richtungen der Geschichtswissenschaften ließen sich die geäußerten Kritikpunkte in den Diskussionen weitgehend abschwächen: Anschlußmöglichkeiten zur Sozial- und Diskursgeschichte, aber auch zur Systemtheorie, so wurde deutlich, erscheinen aus dieser Perspektive nicht nur denkbar, sondern auch ertragreich.

Neben der begrenzten Teilnehmerzahl, die intensives Arbeiten und anregende Diskussionen ermöglichte, erwies sich v.a. die Konzeption der von der Gerda Henkel Stiftung finanzierten Konferenz als gewinnbringend: über die Verknüpfung von Praxistheoretikern und Vertretern anderer geschichtswissenschaftlicher Teildisziplinen wurde deutlich, daß ein weites Feld von Möglichkeiten der Zusammenarbeit geöffnet werden könnte. Durch die Konferenz, so schien es, sind eventuell bestehende Vorbehalte anderer Teildisziplinen abgebaut worden; die Praxistheoretiker wiederum konnten Anregungen zum weiterführenden Ausbau ihres Ansatzes aufnehmen.