„1968“ und die Arbeiter. Ein europäischer Vergleich

„1968“ und die Arbeiter. Ein europäischer Vergleich

Organisatoren
University of Warwick, Freie Universität Berlin, Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)
Ort
Hattingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.02.2005 - 13.02.2005
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Von
Markus Mohr; Hartmut Rübner

Von der historischen Wissenschaft wird die 68er-Bewegung vorwiegend als gegenkulturelle Jugendrevolte oder als eine neue soziale Bewegung junger, politisierter Intellektueller wahrgenommen. Nur wenig Aufmerksamkeit gilt bis dato der „alten“ Arbeiterbewegung. Dieser Umstand war nun der Anlass für die Forschungskonferenz "1968 und die Arbeiter. Ein europäischer Vergleich“, die von der University of Warwick in Zusammenarbeit mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) vom 11. bis zum 13. Februar im DGB Bildungszentrum Hattingen durchgeführt wurde.

Einleitend fasste Andreas Graf (Berlin) den derzeitigen Historisierungsschub zum Thema „1968“ dahingehend zusammen, dass die Chiffre „68“ keine brauchbare wissenschaftliche Kategorie darstellt, sondern lediglich als eine Unschärfeformel dient, um etwas schwer Fassbares suggestiv zu vereinfachen. Im Fokus des Erkenntnisinteresses stehen dabei längst nicht mehr großflächige theoretische Zugriffe, sondern empirische Rekonstruktionen von Ereignissen und Strukturen. Dabei werde allerdings der Blick auf 1968 in drei Richtungen erweitert: Der internationale Kontext, eine Regionalisierung sowie die Einbettung in längere Entwicklungslinien. Graf plädierte für eine Erweiterung der zeitgeschichtlichen Perspektive, um so besser die Initialfaktoren und Folgewirkungen von 1968 analysieren zu können.

Entsprechend der Prämisse, dass „1968“ einen mehr als zwölfmonatigen Mobilisierungszyklus darstellt, unterzog Gerd-Rainer Horn (Warwick) in einer komparativen Untersuchung die quantitative Entwicklung der industriellen Arbeitskämpfe während des „langen proletarischen Mai“, den er von 1962 bis 1976 datiert. An dem signifikanten Anstieg der Konfliktbereitschaft, der sich in Frankreich, Italien, Großbritannien und wesentlich geringeren Dimensionen auch in Belgien und der BRD anhand der Streikstatistik nachweisen lässt, trug ein wachsendes Selbstvertrauen zuvor subalterner Arbeiter bei, die nun gegen die noch vielfach restriktiven Arbeitsbeziehungen rebellierten. Dieser antiautoritäre Protest entlud sich vorwiegend in den romanischen Ländern in halbspontanen Aktionen von erst kurz zuvor urbanisierten Arbeitern, die teilweise einen ländlich gearteten Volksfestcharakter annahmen. Da die Mobilität der Arbeiter spätestens an den Landesgrenzen endete, gewährleisteten die Studentenbewegungen einen transnationalen Ideentransfer. Diese Wechselbeziehung zwischen Arbeitern und Studenten begründete in den europäischen Ländern eine merkliche Revitalisierung der institutionell erstarrten Arbeiterbewegung. In einer Phase günstiger Konjunkturbedingungen mit einer gleichzeitig tendenziell nachgiebigeren Unternehmerschaft, erreichten die Streiks relativ hohe Reallohnsteigerungen.

Arno Klönne (Paderborn) thematisierte danach das widersprüchliche Verhältnis zwischen der „alten Arbeiterbewegung“ und den seit den frühen fünfziger Jahren in der Bundesrepublik neu entstandenen Sozialbewegungen. Infolge der Verfolgung und Systemintegration im Nationalsozialismus waren die sozialen Milieus der Arbeiterbewegung in Deutschland Erosions- und Traditionsablösungsprozessen unterworfen. Abseits der jeweils auf ihre Weise staatskonformen Arbeiterorganisationen SPD und KPD hatte sich eine unabhängige Protestbewegung in den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik mit einer extrem antikommunistisch aufgeladenen Atmosphäre mit Funktionalisierungsvorwürfen aber auch tatsächlichen -versuchen auseinanderzusetzen. Die Vorläufer der späteren außerparlamentarischen Opposition sind in der Wiederbewaffnungskampagne zu erkennen, die sich in den frühen fünfziger Jahren formierte und bis 1958 aktiv blieb. Eine zweite Oppositionsphase außerhalb von DGB und SPD sowie der zwischenzeitlich illegalisierten KPD sammelte sich in der Zeit von 1962 bis 1968 um die pazifistische Ostermarschbewegung. Zwar gab es im Umfeld inhaltliche Auseinandersetzungen mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), doch waren Studenten im Verhältnis zu den jungen Gewerkschaftlern und den Vertretern linker Jugendorganisationen hier deutlich unterrepräsentiert. Zu einem gemeinsamen Vorgehen kam es temporär 1965/66 in Zusammenhang mit der Antinotstands-Gesetzungsinitiative. Aus der Sicht von Klönne erwies sich die folgende „Kulturrevolution“ von 1968 zwar aufgrund ihrer auffälligen Selbstinszenierung als äußerst öffentlichkeitswirksam. Allerdings sollte sich der radikale Impetus vieler mittelständisch sozialisierter APO-Aktivisten als kaum anschlussfähig für eine Kooperation mit den DGB-Gewerkschaften und der Sozialdemokratie erweisen. Die von der Studentenbewegung ausgehenden antiautoritären Impulse erreichten SPD und Gewerkschaften erst mit einiger Zeitverzögerung, hatten aber nichtsdestotrotz Langzeiteffekte.

Aus einer mikropolitischen Perspektive schilderte Karl Lauschke (Berlin) die Auseinandersetzungen um die Einführung der gleitenden Arbeitszeit in der Stadtverwaltung Dortmund. Mit dem Vertrauensleutesystem entstand seit den sechziger Jahren unabhängig von den Betriebsräten eine zweite Säule der gewerkschaftlichen Betriebsvertretung. Das neue innerorganisatorische Engagement war ein manifester Ausdruck wachsender Mitgestaltungsbedürfnisse der Mitgliederbasis. Es begannen sich Konturen neuer, demokratischer Interessenvertretungsmodelle abzuzeichnen. In den innergewerkschaftlichen Entscheidungsprozessen machte sich überdies ein bis dahin ungewohnter Politikstil bemerkbar. Der Versuch, das überkommene Arbeitszeiterfassungssystems mittels Stechuhren abzuschaffen, hatte dabei vor allem eine symbolische Bedeutung und war ein typisches Merkmal für die Mentalität einer jüngeren Funktionärsgeneration. Der „gewerkschaftliche Frühling“ zog sich bis in die achtziger Jahre hin, verkümmerte indessen innerhalb eines bürokratischen Apparats, der den Nach-68er Demokratisierungsimpulsen mit konservativen Beharrungstendenzen begegnete.

Peter Birke (Hamburg) rekonstruierte in seinem Vortrag ein von der Forschung bislang weitgehend unterschlagenes Phänomen: die Welle der „wilden“ Streiks, die in der Bundesrepublik bereits in den fünfziger Jahren begann und die ihren quantitativen Höhepunkt Anfang der 1970er-Jahre erreichte. Bei den „wilden“ Streiks handelte es sich per Definition um lokale begrenzte Betriebskonflikte, die in der Regel nicht offiziell registriert bzw. als kommunistische Infiltrationsversuche diffamiert wurden. Vor 1969 entzündeten sich diese Auseinandersetzungen vor allem an Rationalisierungsproblemen und waren in zweiter Linie ein Reflex auf enttäuschend verlaufende Tarifstreitigkeiten („2. Lohnrunde“), da sich die bis dahin noch gefestigte Verhandlungsposition der Gewerkschaften aufgrund des 1967 abzeichnenden Konjunktureinbruchs abschwächte. Nach 1969 tauchten viele dieser Streiks in den betrieblichen Untergrund ab und wurden als solche überregional kaum bemerkt. Eine Ursache dafür lag in dem Umstand, dass es sich bei den Beteiligten oft um Arbeitsmigranten und -migrantinnen ohne gewerkschaftliche Anbindung handelte, die sich wegen der fehlenden kommunikativen Verbindungen nicht als Teil einer transnationalen Bewegung verstanden. Zwar kam es zu Annäherungen mit studentischen Linksgruppierungen, doch blieben diese minoritären Anwandlungen überwiegend einflusslos. Was die Art und Weise der Konfliktaustragung anbelangt, zeigten sich in den informellen Arbeitskämpfen egalitäre und basisorientierte Praxisformen, die von den zentral gesteuerten Tarifstreiks der bundesdeutschen Gewerkschaften deutlich abwichen. Die Ausstände richteten sich hauptsächlich gegen die fordistischen Auswüchse der Massenproduktion (Fließbandarbeit und Akkordsystem) sowie gegen Ungerechtigkeiten des Lohnsystems, die vor allem die Arbeitsmigranten benachteiligten.

Die Situation der spanischen Arbeiterbewegung seit dem Ende des Bürgerkriegs zeichnete Reiner Tosstorff (Mainz) nach. Unter den schwierigen Bedingungen in Francos Diktatur war die in Anarchosyndikalisten, Sozialisten und Kommunisten zersplitterte Arbeiteropposition auf Verbindungen mit den überlebenden, im Exil befindlichen Kadern angewiesen. Einen größeren Einfluss auf die antifaschistische Bewegung übte darüber hinaus der Linkskatholizismus aus, der seine Impulse ebenfalls aus dem Ausland erhielt. Der Ideenaustausch zwischen dem politischen Exil, den inländischen Regimegegnern und dem progressiv orientierten Kirchenmilieu brachte allerdings keine eigenständige, offen agierende Widerstandsbewegung hervor. Die antifaschistischen Aktivitäten fanden interessanterweise im Rahmen der korporativen, gewerkschaftsähnlichen Zwangssyndikate des Francoregimes statt. Dank einer technokratischen Reform – den Syndikaten wurden im Jahr 1958 Tarifrechte eingeräumt – konnten sich in Gestalt von Arbeiterkommissionen interne, oppositionelle Basisaktivitäten entwickeln. Angesichts des Umstands, dass der faschistische Staat die eigenen organisatorischen Infrastrukturen für die Arbeiteropposition bereitstellte, reagierte das System zunächst eher passiv. Erst nach einigen Aufsehen erregenden Protestaktionen im Jahr 1967 wurden die Arbeiterkommissionen verboten. Doch mit dem weiteren Anstieg der Arbeitskämpfe bildete sich ab 1969 eine nationale Bewegung der Arbeiterkommissionen, die sich unter dem Einfluss der universitären Bildungsopposition zunehmend politisieren und später zu einer kommunistischen Richtungsgewerkschaft wandeln sollte.

Den zweiten Konferenztag leitete Rik Hemmerijckx (Brüssel) mit einem Referat über den Linksradikalismus in Belgien und dessen Verhältnis zu den Gewerkschaften ein. Die belgische und französische Arbeiterbewegung waren traditionell eng miteinander verbunden, was sich u. a. in länderübergreifenden Streikbewegungen niederschlug, doch im Unterschied zu Frankreich existierten unter den gewerkschaftlich organisierten Arbeiter kaum Affinitäten zu den Studenten. Hinsichtlich der Streikhäufigkeit verliefen die Jahre vor 1968 in Belgien im europäischen Maßstab ruhig. Dass 1969 plötzlich eine spontane Streikbewegung einsetzte, die bis 1973 andauerte, ist auf ein charakteristisches Ensemble aus ökonomischen Faktoren und subjektiven Bewusstseinslagen zurückzuführen: Die Phase eines konjunkturellen Hochs ging einher mit einer Intensivierung der betrieblichen Disziplinaranforderungen, die wiederum von vielen Beschäftigten nicht länger akzeptiert wurden. Vorwiegend berührt von den Ausständen waren die neu industrialisierten Regionen, in denen die traditionelle Arbeiterbewegung über wenig Einfluss verfügte. Die Initiativen in diese Richtung gingen daher auch nicht von den Gewerkschaften aus, sondern von betrieblichen Basisinitiativen, die sich in Form der so genannten „Streikkomitees“ neue Organisationsformen schufen. Dieser Stabilisierungsprozess hatte seinerseits radikalisierende Rückwirkungen auf die Politik der Gewerkschaften, die von dem Erfolg der bis dahin unbekannten Aktionsformen überrascht wurden. Unter der Mitwirkung engagierter Studenten, Theaterkollektiven und anderer linker Gruppierungen hatten die Arbeitskämpfe den Charakter populärer kultureller Events angenommen. Zu einer ersten Annäherung linker Studentengruppen, kam es anlässlich des Bergarbeiterstreiks im Jahr 1970, wobei maoistische Gruppierungen bis 1975 einen strikt antigewerkschaftlichen Kurs einschlugen, während trotzkistische Gruppen eine entristische Strategie verfolgten, die die Gewerkschaften mit einer rigorosen Ausschlusspolitik konterkarierten. Nachdem einige linksradikale, studentische Aktivisten in die Organisationen gelangten, war eine Radikalisierung der christlichen und sozialistischen Gewerkschaften mittelfristig nicht mehr zu verhindern. Spontane Arbeitsniederlegungen lösten vorübergehend die zentralen Tarifverhandlungen ab. Eine unabhängige, mit großem Erfolg operierende betriebliche Basisbewegung, in der die Studentenbewegung ein wichtiger Bestandteil war, beförderte in Belgien einen gewerkschaftlichen Demokratisierungsprozess.

In seinem Vortrag über die Arbeiterselbstverwaltung in Frankreich wies Frank Georgi (Paris) einen beliebten Mythos in das Reich der Legenden: die angeblich manifesten antigewerkschaftlichen Motive der spektakulären Streiks von 1968, die zwar spontan ausbrachen, nichtsdestotrotz aber zumeist von den Gewerkschaften ausgingen und die hauptsächlich von militanten Gewerkschaftsmitgliedern der kommunistisch orientierten Confédération Génerale du Travail (CGT) organisiert waren. Kritik an den materiellen Forderungen der Streikenden artikulierte die linkskatholische Gewerkschaft Confédération Française Démocratique du Travail (CFDT), in der seit Mitte der 1960er-Jahre über konstruktive Alternativen nachgedacht wurde. Die Idee der „Autogestion“, so der neu kreierte Begriff für eine alte, wenn auch verloren gegangene Form des antizipierten Sozialismus, war allerdings bis auf die nahezu vergessenen Entwürfe anarchistischer und frühsozialistischer Klassiker (z.B. Proudhon) seinerzeit gänzlich unbekannt. Praktische Erfahrungen mit der betrieblichen Selbstverwaltung und Arbeiterkontrolle gab es, mit Ausnahme der Gewährleistung von Streiknotdiensten, kaum. Obwohl etwa zu diesem Zeitpunkt eine rege Diskussion einsetzte, gilt 1968 weder als ein Initialdatum für die nachfolgenden Selbstverwaltungsprojekte, noch war der Gedanke an sich unter den Industriearbeitern sonderlich populär. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es zwischen 1968 und 1973, der eigentlichen Blütezeit der Selbstverwaltungsprojekte in Frankreich, nur zu wenigen Streiks für die Durchsetzung der Arbeiterkontrolle kam. Wie das berühmte Beispiel der Uhrenfabrik LIP in Besancon (1973) demonstriert, geschahen die Betriebsübernahmen und die anschließende Weiterführung der Produktion in Eigenregie zumeist als Kriseninterventionsmaßnahmen bzw. als Akte der Selbstverteidigung jener Belegschaften, die über einen längeren Zeitraum keine Bezahlungen erhalten hatten und die eigentlich auf der Suche nach einem neuen Management bzw. nach Investoren zur Fortzusetzung der „normalen“ Betriebsabläufe waren. Um dem Dilemma einer mangelnden politischen Durchsetzungsfähigkeit zu entgehen, rief die CFDT ihre Mitglieder zum Eintritt in die Sozialistische Partei auf. Der Versuch, den Kurs der Partei im Sinne eines konstruktiven Sozialismusverständnisses zu verändern, misslang allerdings gründlich.

Ebenso wie in Frankreich war auch in Italien die Annäherung von Studenten und Arbeitern ein kennzeichnendes Merkmal von 1968. Marica Tolomelli (Bologna) ging auf die Besonderheiten der 68er-Bewegung in Italien ein, wo ebenfalls rührige Kontakte zwischen den Studenten, Teilen der Arbeiter sowie partiell auch zu den Gewerkschaften existierten. Dennoch blieb die im März 1968 begonnene Interaktion der Studenten mit den Arbeitern ein kurzes Intermezzo, das den Sommer des folgenden Jahres nicht überdauerte. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich bereits der Verfall der studentischen Bewegung als selbstständiger Akteur ab. Das Scheitern der Studentenbewegung ist keineswegs auf die kontraproduktive Wirkung abstrakter Theoriedebatten zurückzuführen. Dafür war vor allem die spezifische Interaktionsdynamik zwischen der Studentenbewegung und den (Massen-)Arbeitern verantwortlich. Der bereits in den 1930e- Jahren ausformulierte Operaismus, der innerhalb der neuen Linken neben den antiautoritären Postulaten der Frankfurter Schule rezipiert und mittels empirischer Analysen („Arbeiteruntersuchungen“) in die Praxis umgesetzt wurde, stieß bei den Industriearbeitern durchaus auf Resonanz. Von den antiautoritären Vorstellungen der Kritischen Theorie unterschied sich der Operaismus vor allem dadurch, dass er an der Arbeiterklasse als dem revolutionären Subjekt festhielt. Zu gemeinsamen Aktionen zwischen Studenten und Arbeitern kam es erstmals anlässlich einer Demonstration am 7. März 1968; ein Ereignis, das eine Phase eines widersprüchlichen Verhältnisses zwischen den beiden gesellschaftlichen Akteuren einleitete. Während die Studenten eine katalytische Wirkung innerhalb der erst kürzlich urbanisierten, aus dem ländlichen Süden herbeigeströmten, mehrheitlich unqualifizierten („Massen“-)Arbeiter ausübten, standen die endemischen Facharbeiter dieser Bewegung eher skeptisch gegenüber. In Anbetracht einer gespaltenen Arbeiterklasse gerieten die Gewerkschaften in eine Vertretungskrise. Entscheidend für den Bedeutungsverlust der Studentenbewegung war jedoch der Umstand, dass deren Mobilisierung gewöhnlich über hochschulpolitische Fragen erfolgte, in Verbindung mit dem Arbeiterprotest ansonsten aber dem Zyklus der industriellen Konflikte unterworfen blieb. Überdies wirkte die zunehmende Fraktionierung der studentischen Politik kontraproduktiv. Vom Frühjahr bis Herbst 1969 war eine Radikalisierung der Arbeitskämpfe zu beobachten, in denen autonome Basiskomitees die Studentengruppen als maßgebliche Initiatoren ablösten. Mit dieser Entwicklung ging ein Radikalisierungsprozess einher, in dem die Arbeiter eigene antiautoritäre Organisationsvorstellungen gegen die fordistisch formierte „Fabrikgesellschaft“ entwickelten und sich damit quasi von ihren intellektuellen Impulsgebern emanzipierten.

Der dritte Konferenztag fokussierte den Arbeiterwiderstand in der DDR und in Polen. Wie Michael Hofmann (Jena) ausführte, sollte die Protestbewegung in der DDR weder als eine neue Bewegung der Arbeiter, noch als eine Strömung intellektueller Dissidenten definiert werden. Unter den ca. 1200 Personen, die 1968 im Zusammenhang mit dem russischen Einmarsch in die CSR verhaftet wurden, befanden sich etwa 70 bis 75 Prozent Arbeiter, die sich jedoch keineswegs als „Klasse für sich“ begriffen. Etwa 10 Prozent waren Bauern und nur 1,7 Prozent Intellektuelle. Der Rest setzte sich aus nonkonformistischen Jugendlichen zusammen. Aufgrund der besonderen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen besaßen die Arbeiter in der DDR eine starke betriebliche Verhandlungsmacht, die sich beispielsweise gegen Betriebszusammenlegungen oder Standortwechsel richtete. Außerhalb der betrieblichen Sphäre verhielten sich Arbeiter nach Möglichkeit politisch abstinent. Während sich also in der Betriebsöffentlichkeit divergierende Interessenlagen artikulierten, privatisierten die Arbeiter zunehmend in der ideologiefreien „Festung Alltag“. Dabei unterteilten sich die proletarischen Milieus in zwei unterschiedliche Segmente: zum einen in das der traditionellen, hauptsächlich sicherheitsorientierten Arbeiter und zum anderen in die der traditionslosen, konsumorientierten Arbeiter.

Im Anschluss daran präsentierte Bernd Gehrke (Potsdam) eine instruktive gesellschaftshistorische Längsschnittanalyse der DDR, insbesondere ihrer Dissidenten-Bewegungen. Indikatoren für die These, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit bedeutsame Milieukerne der Arbeiterschaft in der DDR erhalten blieben, sind die Mitgliederzahlen in der KPD bzw. der SED sowie in den Gewerkschaftsorganisationen in der Konstituierungsphase der DDR. Die Unruhen von 1953 bezeichnet Gehrke als eine „sozialdemokratische Revolution“, deren periphere Schichten im Zuge der staatlichen Repressionswelle zerschlagen wurden. Die noch vorhandenen unabhängigen Linksmilieus mit Vorkriegsbezügen (Anarchosyndikalisten, Linkssozialisten, linke- und „rechte“ Kommunisten) schaltete der rigoros vorgehende Überwachungs- und Verfolgungsapparat bis auf einen atomisierten Rest bis zum Mauerbau aus. Der Mauerbau setzte 1961 insofern eine Zäsur, als in wirtschaftlicher Hinsicht die Nachkriegsverhältnisse beendet waren und eine DDR-spezifische „Modernität“ nunmehr den Alltag bestimmte. Zudem war die Abschottung von einer weiteren Repressionswelle begleitet, die zu einer bis in die späten 1970er-Jahre nachwirkenden Verängstigung der Bevölkerung führte. Seit den frühen 1960er-Jahren war auch die DDR-Gesellschaft mit dem Phänomen eines jugendlichen devianten Verhaltens konfrontiert. Bei diesem Protest handelte es sich vorwiegend um Arbeiterjugendliche, die sich ebenso der offiziellen Politik der durch die SED vorbestimmten Lebensführung wie auch dem Anpassungsverhalten ihrer Eltern verweigerten. Dass der Herrschaftsanspruch der Parteiführung seit 1953 auch auf betrieblicher Ebene nicht mehr herausgefordert wurde, belegt die Streikentwicklung: die Zahl der betrieblichen Konflikte ging von 138 im Jahr 1963 auf 15 im Jahr 1968 zurück. 1968 kann somit als das Jahr bezeichnet werden, in dem der Kampf um die Betriebsöffentlichkeit endgültig verloren ging. In ereignisgeschichtlicher Hinsicht verlief das Datum in der DDR zwar unspektakulär, dennoch war es nach Auffassung von Gehrke ein Ausgangspunkt für künftige oppositionelle Tätigkeiten. Da das staatliche, nach tayloristischen Vorgaben organisierte Wirtschaftssystem an gravierenden Überdehnungserscheinungen krankte und sich andererseits der Nachfrageüberhang auf dem „Arbeitsmarkt“ perpetuierte, ließen sich autonome Handlungsspielräume von den „Werktätigen“ stärker nutzen. Individueller Eigensinn äußerte sich unter anderem in häufigem Arbeitsplatzwechsel und zunehmenden Stillstandszeiten in der Produktion. Ablehnende Einstellungen und Verhaltensweisen legten vor allem jene Arbeiterjugendliche an den Tag, die nach einer an den vorgegebenen gesellschaftspolitischen Idealen ausgerichteten Schulausbildung den Eintritt in die betriebliche Arbeitswirklichkeit als einen „Praxisschock“ erlebten. Diese Disparität von Alltagsleben und betrieblicher Realität trug in Verbindung mit Ereignissen um den Prager Frühling zu einer wachsenden Politikverdrossenheit bei.

Marcin Zaremba (Warschau) beleuchtete in seinem Vortrag die gesellschaftspolitischen Bedingungen, die zu den im Dezember 1970 in den Industriestädten an der Ostseeküste ausgebrochenen Unruhen führten. Zur Niederschlagung des von den Belegschaften der großen Werftbetriebe ausgehenden Arbeiteraufstandes, bei dem 45 Personen getötet und über 1100 verletzt wurden, musste das Regime mehr als 25000 Soldaten und über 1250 gepanzerte Fahrzeuge aufbringen. Als primären Auslöser führt Zaremba die sozialwissenschaftliche Kategorie der „relativen Deprivation“ an, die das kognitiv bemerkte Auseinanderdriften von den allgemein als berechtigt erachteten Konsumansprüchen und deren Nichterfüllung ausdrückt. Dies betraf die qualifizierten und damit etwas besser gestellten Fachkräfte ebenso wie die minder qualifizierten Arbeiter.

Dass die Kontroversen um 1968 für jene, die in dieses Jahr involviert waren und die politischen Ereignisse bewusst miterlebten und mitgestalteten längst nicht beendet sind, bewies der abschließende kommentierende Beitrag durch Dirk H. Müller (Leipzig/Berlin), der davor warnte, den Mythos der Bewegung zu einem Bewertungsmaßstab zu erheben. Der Rückgriff auf die Chiffre „68“ macht seiner Meinung nach die Schwierigkeiten deutlich, die es bereitet, Zeiträume mit hohen gesellschaftlich verdichteten Aktivitäten begrifflich zu bestimmen. Dabei seien Zweifel angebracht, inwiefern eine hinreichende Definition überhaupt gefunden werden kann. Ob das aktuell von der Forschung bevorzugte Generationsmodell als methodische Kategorie dienen kann, ist ebenfalls fraglich, zumal die Altersstruktur der damaligen Akteure durchaus heterogen war.

Die Tagung bot einen umfassenden Überblick über einzelne 68er-Bewegungschronologien und zeithistorische Längsschnitte durch die jeweils vorgestellten Länder. Zwangsläufig kam dabei einiges zu kurz oder fehlte völlig. So gab es aufgrund der europäischen Beschränkung leider keine Referate zu den USA und Japan. Schwerer wiegt das fehlende, verbindende Element eines gemeinsamen methodischen Bezugsrahmens. Infolgedessen blieb der historische Vergleich unscharf, zumal auch die jeweiligen Erkenntnisinteressen nicht deutlich genug hervortraten. Evident war lediglich, dass die „alten“ und „neuen“ sozialen Bewegungen sich nicht unbedingt durchdrangen oder gar inspirierten, sondern häufig unabhängig voneinander auftraten.

Negativ ist aus unserer Sicht außerdem zu vermerken, dass es im Verlauf der Tagung nur rudimentär gelang die vorhandenen reichen Wissensbestände der anwesenden Tagungsteilnehmerinnen in die Diskussion der Referate einzubeziehen. Eine Reihe von Referaten, obgleich weit über die geplante Zeit ausgedehnt, wurde auch durch die Tagungsleitung nicht unterbrochen, was in gewisser Weise einer Absage an Kommunikation gleich kommt.

Alle referierten Beiträge sind unter der folgenden Adresse http://www.forum-politische-bildung.de/vanst2005/tgr_prgr/dokumentation.html als Audiodateien abrufbar.

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