Nerven und Krieg. Psychische Mobilisierungs- und Leidenserfahrungen in Deutschland 1900-1933

Nerven und Krieg. Psychische Mobilisierungs- und Leidenserfahrungen in Deutschland 1900-1933

Organisatoren
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.10.2017 - 13.10.2017
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Von
Uta Kanis-Seyfried, Forschungsbereich Geschichte und Ethik der Medizin, ZfP Südwürttemberg/Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Ulm, Standort Ravensburg,

Der Erste Weltkrieg mit seinen modernen Waffensystemen verursachte außer einer nie dagewesenen Anzahl toter und körperlich versehrter Soldaten ein psychiatrisches Krankheitsbild, das zeitgenössische Ärzte und Militärbefehlshaber vor ganz neue Herausforderungen stellte. Die epidemisch sich unter den Truppen ausbreitende Kriegsneurose mit einer Vielzahl körperlicher Symptome war in die Nosologie der bekannten Geisteskrankheiten kaum einzuordnen. Letztendlich waren es die Nerven, die den Soldaten versagten. Die internationale Tagung zum Thema „Nerven und Krieg. Psychische Mobilisierungs- und Leidenserfahrungen in Deutschland 1900-1933“ in Berlin am 12./13. Oktober 2017 hatte sich des komplexen Forschungsfeldes angenommen. Die thematische Bandbreite der Vorträge wurde dem anvisierten Ziel des veranstaltenden Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin (Organisation Gundula Gahlen, Björn Hofmeister, Christoph Nübel, Deniza Petrova), die Wechselwirkungen zwischen Politik, Gesellschaft, Militär und Wissenschaft zu bestimmen, Kontinuitäten und Brüche aufzuzeigen sowie Deutungen und Praktiken im Nervendiskurs der jeweiligen sozialen Systeme auszuloten, mehr als gerecht.

Dass Überlegungen über die nervlichen Belastungen und Auswirkungen eines Krieges schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Politik, Militär, Wissenschaft und Öffentlichkeit angestellt worden sind, vermittelte GUNDULA GAHLEN (Berlin) in ihrer Einführung. Zentralen Stellenwert habe die Diskussion um Nervenstärke und Nervenschwäche jedoch erst durch die Erfahrung einer ganz realen kollektiven psychischen Erkrankung im Ersten Weltkrieg erlangt. Als Chiffre und Konstrukt verhandeln „Nerven“ systemimmanente Identitäten, Auffassungen und Relevanzen. Um ein möglichst breites thematisches Spektrum abzudecken, hatten die Organisatoren der Tagung einen soziokulturellen Kontext gewählt, der die theoretischen Grundlagen des zeitgenössischen Nervendiskurses und seine Folgen in der Praxis zwischen 1900 und 1933 nicht nur im Feld der Medizin ausleuchtete, sondern auch militärische und politische Entscheidungsträger, Filmemacher und Literaten einbezog. In sechs Panels zeichneten 20 Historiker aus Deutschland, Irland, Großbritannien und den USA ein facettenreiches und vielschichtiges Bild der Nervenproblematik vom Ersten Weltkrieg über die Weimarer Republik bis hin zum Nationalsozialismus.

Keynote speaker BERND ULRICH (Berlin) vermittelte in seinem Vortrag die Entwicklung des Ersten Weltkriegs vom „Krieg der Nerven“ zum „Krieg des Willens“. Am Beispiel von Helmuth von Moltke (dem Jüngeren), Generaloberst und Chef des Generalstabes/Oberste Heeresleitung, und General Erich Ludendorff skizzierte er das „psychopolitische Profil des nervösen wilhelminischen Kaiserreichs“. Wie viele Mannschaftssoldaten waren die obersten Kriegsherren den psychischen Leistungsanforderungen nicht gewachsen gewesen und in entscheidenden Phasen zusammengebrochen. Nervlichem Versagen mit eiserener Willenskraft zu begegnen, wurde zum Gebot der Nation. Mit der Schmach der Niederlage seien die Diskurse um Nervenkraft und Willensstärke in der Weimarer Zeit bzw. den ideologischen Konstruktionen des Nationalsozialismus weiter intensiviert worden. Nerven und Wille avancierten – positiv konnotiert – zum allgemeinen Gradmesser für Leistungsfähigkeit und Gesundheit.

Im ersten Panel, fokussiert auf die „zeitgenössischen medizinischen Diskurse“, stellte SUSANNE UDE-KOELLER (Erlangen-Nürnberg) ihre Forschungen über den Psychiater Gustav Specht (1860-1940) und dessen 1913 publiziertes Werk „Krieg und Geistesstörung“ vor. Der Ordinarius für Psychiatrie und Direktor der Psychiatrischen Klinik in Erlangen hatte sich intensiv mit den negativen Folgeerscheinungen von Kriegen befasst. Da diese „sowohl die individuelle psychische Gesundheit als auch den Seelenhaushalt der Nation massiv beeinträchtigten“, hätten ihn vor allem „Fragen nach der Unterscheid- und Behandelbarkeit kriegsinduzierter Psychosen sowie die Möglichkeit ihrer Prävention durch rechtzeitiges Erkennen von Prädisposition“ interessiert. Spechts offenkundige Kriegsbegeisterung sei Anlass zu Überlegungen hinsichtlich wirksamer Vorbeugungsmaßnahmen gegen die Verbreitung von Geisteskrankheiten in Kriegszeiten gewesen. Drastische Behandlungsmethoden (Elektroschock, Zwangsexerzieren) habe er jedoch kritisch beurteilt.

DANIEL FREIS (Münster) positionierte den Krieg als „Katalysator für die Vorstellungen kollektiver Geisteskrankheit in der deutschsprachigen Psychiatrie und für die Entstehung neuer Konzepte kollektiver psychischer Erschütterungen und Erkrankungen“. Ausgehend vom Begriff der „Volksseele“, theoretischen Konzepten über kollektivpsychologische Dynamiken von Menschenmassen und dem Begriff der Suggestion in Bezug auf psychische Epidemien, religiöse und politische Bewegungen machte er die Entwicklung von der Individual- zur Massenpsychologie hin deutlich.

THOMAS BEDDIES (Berlin) legte den Ausgangspunkt seines Vortrags über „Die Revolution als psychopathologische Fundgrube“ auf den Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918. Die noch in der Weimarer Republik „ubiquitäre Gegenwart des Krieges“ sei durch Gesellschaftskonzepte gestützt worden, „die in der Ordnung des Krieges einen Ausweg aus der Krise und dem Chaos der Moderne erblickt“ und die zivile Gesellschaft in eine „Kultur des Wehrwillens und der Wehrhaftigkeit“ transferiert hätten; mit der erzwungenen militärischen Abrüstung sei ein organisatorischer und mentaler Aufrüstungsprozess der Gesellschaft einher gegangen. Nach der Niederlage sei dem Gefühl von „moralischer Schwäche, innerer Zerrissenheit und mangelndem Wehrwillen“ eine „moralische und propagandistische Vorbereitung“ und eine „gesellschaftliche Harmonisierung im Hinblick auf eine Wiedererstarkung“ der Nation entgegengesetzt worden.

Unter dem Schwerpunkt „ Die Nerven der militärischen Führung“, befasste sich ANNIKA MOMBAUER (London, U.K.) mit Generalstabschef Helmuth von Moltke (d. J.) und dem bekannten Vorwurf, dass dessen nervliches Versagen zu Beginn des Krieges und die Niederlage in der Marne-Schlacht Deutschland den Sieg gekostet habe. Wie Mombauer ausführte, habe Moltke nicht nur unter dem „Schock der Verantwortung“ gelitten, sondern auch unter der Beschränkung seiner Optionen und Aktionen durch das Einmischen des Kaisers in strategische Fragen. Letztendlich sei Moltke zwischen seinem Kriegswunsch und den limitierten Handlungsmöglichkeiten gefangen gewesen.

Wie sehr neben einfachen Soldaten auch Offiziere unter den Erfahrungen der Materialschlachten gelitten haben, zeigte GUNDULA GAHLEN (Berlin). Während die schwachen Nerven und die daraus abgeleitete mangelnde Vitalität und Schlagkraft von Mannschaftssoldaten zunehmend den militärischen, ärztlichen, poltischen und öffentlichen Diskurs und das Behandlungsangebot bestimmten, wurden die Nervenprobleme der Offiziere nicht einmal im statistischen Sanitätsbericht über das deutsche Heer im Ersten Weltkrieg von 1934 thematisiert. Der Grund sei das damalige Leitbild eines Offiziers gewesen, „das ein nervliches Nicht-Durchhalten im Krieg nicht vorsah“. Dennoch sei die Armee ihrer Fürsorgepflicht nachgekommen und habe den Betroffenen lange Urlaube und Lazarettaufenthalte in eigenen Genesungsheimen zugebilligt. Durch die größeren Freiräume und Optionen für nervenkranke Offiziere konnte der Mythos vom idealtypischen Frontkämpfer der Realität zum Trotz in der Öffentlichkeit aufrechterhalten werden.

MARK JONES (Dublin, Irland) hatte sich mit der Rolle von Gerüchten und ihrer Beziehung zu Gewalt zu Beginn der Revolution 1918/19 thematisch auseinandergesetzt. In seinem Vortrag verwies er auf die Aufwertung von Gerüchten in der Revolutionsphase, da die Bevölkerung der offiziellen Berichterstattung keinen Glauben mehr schenkte. Gezielt gestreute Falschmeldungen und Gerüchte hätten die streikenden Arbeiter zu Gewalttätern, gegen die mit allen Mitteln vorgegangen werden durfte, stilisiert.

„Das nervöse Doppelgesicht des Krieges und die Wende zur ‚Willenskultur‘“ ließ JOACHIM RADKAU (Bielefeld) in seinem öffentlichen Abendvortrag Revue passieren. Ausgehend vom Begriff der Neurasthenie als Folge allgemeiner Beschleunigung im Zuge der Industrialisierung entwickelte Radkau die Hypothese eines „sensiblen, weichen, friedenssüchtigen“ Deutschland, das viel weniger „militant und stramm" gewesen sei als angenommen. Medizinisch anerkanntes Heilmittel der seit dem 19. Jahrhundert in allen Bevölkerungsschichten diagnostizierten Nervenschwäche und damit assoziierten Verweichlichung und Degeneration war „Ruhe und Entspannung“. Die verbreitete Erkrankung selbst führte Radkau auf „Leistungsdruck und sexuelle Frustration“ der frühen Industriegesellschaft zurück. Ein Trend von der passiven Behandlungsstrategie hin zu aktiven Maßnahmen zur Kräftigung der Willensstärke habe sich bereits 1910, beim Internationalen Kongress der Psychotherapie in Nürnberg bemerkbar gemacht.

Der zweite Tag der Konferenz war den Panels „Die Nerven der Soldaten“, „Die Nerven an der Heimatfront“ und „Nervendiskurse, Mobilisierungspraktiken und politische Rechte nach dem ersten Weltkrieg“ gewidmet. PHILIPP RAUH (Erlangen-Nürnberg) setzte sich mit den militärischen Therapiemethoden und deren Umsetzung in die Praxis auseinander. Wie andere Forscher auch, markierte er den Kongress des „Deutschen Vereins für Psychiatrie“ „Gesellschaft deutscher Nervenärzte“ in München 1916 als Höhepunkt des fachlichen Diskurses. Um dem Zusammenbruch ganzer Truppen entgegenzuwirken, wurden Therapieoptionen diskutiert, die die Leistungsfähigkeit der Soldaten in möglichst kurzer Zeit wieder herstellen sollten. Hermann Oppenheims Erklärungsmodell der traumatischen Neurose (basierend auf der zeitgenössischen Unfallforschung, wonach eine massive physische Krafteinwirkung auf den menschlichen Körper psychische Probleme generierte) wurde verworfen und stattdessen die Vorstellung einer psychogenen Kriegsneurose etabliert. Diese sollte mittels schmerzhafter (Elektroschocks, Zwangsexerzieren) bzw. suggestiver Methoden (Hypnose) geheilt werden. Wie Rauh feststellte, hatten die Methoden weniger breite Anwendung erfahren als erwartet.

In ihrem Vortrag zum Umgang mit Kriegsdienstverweigerern war REBECCA AYAKO BENNETTE (Middlebury, U.K.) einem weitgehenden Forschungsdesiderat nachgegangen. Auch Bennette konnte den Befund bestätigen, dass weitaus weniger Soldaten unmenschlichen Therapien ausgesetzt waren als bisher angenommen. Stattdessen scheint der überwiegende Teil der Kranken auf Verständnis der Ärzte für ihre Situation gestoßen zu sein. Selbst der Tübinger Psychiater Robert Gaupp habe, entgegen seines in der Öffentlichkeit zur Schau gestellten harten Kurses gegen Kriegsneurotiker, in der Praxis echtes Mitgefühl gezeigt.

CHRISTOPH NÜBEL (Potsdam) setzte sich mit der Bedeutung von Nerven im öffentlichen und privaten Raum auseinander. Während im öffentlichen Diskurs medizinische Tatsachen zum Medium von Gesellschaftsanalysen erhoben worden und „Nerven“ moralisch aufgeladen als Maßstab für Kriegstauglichkeit galten, sei der Ton im Privaten (z. B. in Feldpostbriefe/Tagebücher) sachlicher geblieben. In Selbstzeugnissen von Soldaten sei das Thema Nerven nur wenig angesprochen worden.

Wie es um die Nerven der zivilen Bevölkerung in der Heimat bestellt war, erläuterte SILKE FEHLEMANN (Düsseldorf). Lebensmittelnot, Kälte, Überarbeitung und massive Trauererfahrungen durch den Kriegstod von Familienangehörigen oder Freunden seien ebenso zermürbende Erfahrungen gewesen, wie die pathologische Unruhe durch das „Warten“ auf Nachrichten. Der permanente Wechsel zwischen psychischer Anspannung, kurzfristiger Erleichterung nach dem Erhalt einer positiven Nachricht und anschließend sich erneut aufbauender Anspannung, bereitete auch dem Militär zunehmend Sorge. Den „jammernden Frauen“ in der Heimat wurde ein demoralisierender Einfluss zugesprochen, der sich negativ auf das Durchhaltevermögen der Männer im Krieg auswirkte. Im Unterschied zu den Kriegsneurosen der Soldaten, sei die Nervenschwäche der Frauen im neurologisch-psychiatrischen Umfeld kaum thematisiert worden. Auch die Frauen selbst hätten in ihren Selbstzeugnissen vornehmlich auf das „schwere“, „gebrochene“ oder „schmerzende“ Herz verwiesen.

Massentrauer als zentrale Kriegserfahrung in Osnabrück war SEBASTIAN F. BONDZI (Osnabrück) Thema. Im Rahmen einer quantitativen Analyse hatte er zunächst das Sterbegeschehen in den militärischen Operationsgebieten und dessen Impact auf den Stadtraum vermessen. Auf der Grundlage schriftlicher Zeugnisse (Kondolenzschreiben, Pamphlete etc.) reflektierte er unter Hinzuziehung weiterer emotionaler Aspekte wie Sorge und Furcht „Massensterben“ und „Massentrauer“ als folgenreiche emotional geleitete Wirklichkeitskonstruktionen.

In seinem Vortrag über den „Zusammenhang von Selbstbild, politischem Stil und Kriegserinnerung des 1918 gegründeten Wehrverbandes „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“ hatte sich DENNIS WERBERG (Potsdam) mit einer Organisation befasst, die sich als zivile Heimat ehemaliger Kriegsteilnehmer verstand und sich an den untergegangenen Idealen des vernichteten Kaiserreichs orientierte. Durch diese Positionierung hatte sich der Verband in direkte Opposition zum politischen System der Weimarer Republik begeben. Seine zunehmende Radikalisierung erfolgte mit dem Erstarken des Nationalsozialismus, was allerdings die Auflösung des Bundes 1935 nicht verhinderte.

Die politische Kultur der Rechten und ihre Herrschaftsutopien nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war DANIELA GASTEIGERS (München) Untersuchungsgegenstand. Ausgehend von den Begriffspaar Nerven und Herz veranschaulichte sie das Konzept der idealen Führerpersönlichkeit, wie es die politisch Rechten propagierten. Die Forderung nach einem (nerven-) starken Führer der das zerrissene, unter der Niederlage leidende Deutschland diktatorisch vereinen und anschließend mit Herz und Güte regieren sollte, setzte Gasteiger in Beziehung zu den ambivalenten Nervendiskursen um so die „komplexe Struktur emotionaler politischer Regimes der Zwischenkriegszeit zu erfassen.“

Die Bedeutung von Kriegstraumata und psychischer Versehrtheit in nationalsozialistischen ideologischen Diskursen und politischer Praxis war das Thema von NILS LÖFFELBEIN (Frankfurt). Er veranschaulichte, wie das nationalsozialistische Regime den „schädlichen Einfluss des Weimarer Wohlfahrtsstaates“ als Ursache von massenhaften Rentenbegehren psychisch versehrter Veteranen aufbaute. Die Sorge, erneut einen Krieg zu verlieren, habe zu propagandistischen Maßnahmen geführt, um die Durchhaltebereitschaft und Willenskraft der Nation zu stärken.

JASON CROUTHAMEL (Allendale, USA) wandte sich in seinem Vortrag der Frage der Positionen zu, die linke und rechte politische Gruppen in Deutschland hinsichtlich der traumatisierten Kriegsteilnehmer vertreten hatten. Während die Verfechter sozialdemokratischer Ansichten, das mentale Trauma als Krankheitsfaktor anerkannt hätten, seien Kriegsneurotiker von rechten und nationalsozialistischen Gruppierungen als unmoralische Außenseiter gebrandmarkt worden. Als ein Ergebnis seiner Auswertung von Briefen traumatisierter Veteranen an Wohlfahrts- und Regierungsbeamte hielt Crouthamel fest, dass medizinische, politische oder sozioökonomische Paradigmen darin kaum Eingang gefunden hatten. Im Mittelpunkt habe vielmehr die subjektive Vorstellung von der eigenen Person als Opfer brutaler Kriegseinwirkungen gestanden.

OLGA LANTUKHOVA (München) gab einen Einblick in die literarischen Narrative der 1920/30er Jahre und der hierin verarbeiteten Kriegsbegeisterung bzw. Nervenschwäche. Die autobiografischen Texte deutschsprachiger Zeitzeugen (u.a. Ernst Jünger, Karl Kraus) stellten, so Lantukhova, Kampfbereitschaft als Nervenstärke und Kriegsverneinung als pathologische Nervenschwäche in den Fokus. Im Unterschied dazu zeigten Werke, die nicht im deutschsprachigen Raum entstanden sind, scharfe Kritik an der Vorstellung von Abhärtung und Charakterbildung durch Kampferfahrung.

JULIA BARBARA KÖHNE (Berlin) verdeutlichte an Beispielen des Stummfilms „Nerven“ von Robert Reinert aus dem Jahr 1919 wie das zeitgenössische Diskurswissen aus der Kriegshysterie- und Neurasthenieforschung, aber auch Theoreme wie das Unbewusste, Wahnsinn, Psychose, Delirium und (Tag-)Traum Eingang in die filmisch-szenische Darstellung gefunden haben. Der Film kennzeichne „die Gesellschaft der Weimarer Republik als eine von traumatischen Verletzungen, Nervenschocks, horriblen Heimsuchungen und zwischenmenschlichen Dysfunktionen geprägte.“ Köhne konzentrierte sich anhand filmischer Zitate auf den Problemstrang Masse und Massenpsychologie und den damit assoziierten Konzepten.

In seinem abschließenden Resümee betonte BJÖRN HOFMEISTER (Berlin) die politische Dimension der Tagung zu „Nerven und Krieg“ und verwies auf die „Mobilisierung und Rationalisierung von Nerven als wesentliche Bestandteile der nationalsozialistischen Kriegsmobilisierung nach 1933“. In den Vorträgen waren Nerven- und Willenspropaganda, die Rolle der Psychologie und Neurologie bei der Kriegsmobilisierung sowie die Moralisierung und Politisierung von Konzepten der Nervenstärke bzw. Nervenschwäche zwischen 1900 bis 1933 ausgelotet worden. Dass Aspekte wie Kolonialismus, Pazifismus, Emotionsgeschichte oder der Wissenstransfer zwischen Militär und Psychiatrie im Rahmen dieser Tagung nicht zur Sprache gekommen waren, zeigt, dass das Thema „Nerven und Krieg“ noch längst nicht ausgeschöpft ist.

Konferenzübersicht:

Gundula Gahlen (Freie Universität Berlin): Nerven und Krieg. Psychische Mobilisierungs- und Leidenserfahrungen in Deutschland 1900-1933: Einführung
Bernd Ulrich (Berlin). Keynote: Krieg der Nerven – Krieg des Willens

Panel 1: Medizinische Diskurse zu Nerven und Krieg; Panelleitung: Birgit Aschmann (Humboldt-Universität zu Berlin)

Susanne Ude-Koeller (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg): Gustav Spechts „Krieg und Geistesstörung“ 1913

David Freis (Universität Münster): Psyche, Krieg und Kollektiv. Von der Massensuggestion zur Völkerpsychopathologie 1900-1933

Thomas Beddies (Institut für Geschichte der Medizin und der Ethik in der Medizin der Charité, Berlin): Die Revolution als „psychopathologische Fundgrube“. Nerven und Nervenheilkunde nach dem Ersten Weltkrieg

Panel 2: Die Nerven in der militärischen Führung; Panelleitung: Oliver Janz (Freie Universität Berlin)

Annika Mombauer (Open University London): Die Nerven Helmuth von Moltkes

Gundula Gahlen (Freie Universität Berlin): Die Nerven der Offiziere als militärisches Problem. Militärische Diskurse und Handlungsstrategien 1914-1918

Mark Jones (University College Dublin, Irland): Nerves and the Officers‘ Plot during the German Revolution of 1918-19. The Case from Western Germany

_Öffentlicher Abendvortrag -
Moderation: Christoph Nübel (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam)

Joachim Radkau (Universität Bielefeld): Die Wende zur ‚Willenskultur‘ in der Nerventherapie und das nervöse Doppelgesicht des Krieges

Panel 3: Die Nerven der Soldaten; Panelleitung: Bernd Ulrich (Berlin)

Philipp Rauh (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg): Die militärpsychiatrischen Therapiemethoden im Ersten Weltkrieg. Diskurs und Praxis

Rebecca Ayako Bennette (Middlebury College, USA): Diagnosing Dissent: Hysteria, Conscientious Objection, and German Wartime Psychiatry, 1914 to 1918

Christoph Nübel (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam): Raumpsychologie und soldatische Kriegserfahrung im Ersten Weltkrieg

Panel 4: Die Nerven an der Heimatfront; Panelleitung: Jason Crouthamel (Grand Valley State University Michigan, USA)

Silke Fehlemann (Universität Düsseldorf: Die Nerven der „Daheimgebliebenen“

Sebastian F. Bondzio (Universität Osnabrück): Massentrauer? Das Sterben von Soldaten im Krieg, Verlusterfahrungen und seine gesellschaftlichen Nachwirkungen

Panel 5: Nervendiskurse, Mobilisierungspraktiken und politische Lernprozesse der politischen Rechten nach dem Ersten Weltkrieg; Panelleitung: Björn Hofmeister (Freie Universität Berlin)

Dennis Werberg (Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr): Die Nerven der Stahlhelm-Männer. Weltkriegserinnerung und Selbstverständnis des Stahlhelm-Bundes der Frontsoldaten

Daniela Gasteiger (Ludwig-Maximilians-Universität München): Nerven und Herz. Diskurse um politische Herrschaft und politisches Handeln auf der politischen Rechten zwischen den Weltkriegen

Nils Löffelbein (Universität Frankfurt am Main): „Rentenjäger – Simulanten“ – Kriegstraumata und psychische Versehrtheit in Ideologie und Propaganda des Nationalsozialismus

Panel 6: Die Bedeutung von „Nerven“ in Sinnstiftungsnarrativen und medialen Deutungsmustern; Panelleitung: Uwe Puschner (Freie Universität Berlin)

Jason Crouthamel (Grand Valley State University Michigan, USA): Contested Memories and Traumatic Neurosis in Weimar and Nazi Germany

Olga Lantukhova (Ludwig-Maximilians-Universität München): Kriegsbegeisterung als Normalität und Pazifismus als Nervenschwäche. Auseinandersetzungen mit psychischen Auswirkungen des Krieges in den literarischen Darstellungen des Ersten Weltkriegs

Julia Barbara Köhne (Humboldt-Universität zu Berlin): Spiegelungen interdisziplinären Diskurswissens in Robert Reinerts Nerven (1919)

Björn Hofmeister (Freie Universität Berlin): Nerven und Krieg: Methodische Überlegungen und Schlusskommentar


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