Der Historiker vor seinen Quellen: Möglichkeiten und Grenzen der Quelleneditionen

Der Historiker vor seinen Quellen: Möglichkeiten und Grenzen der Quelleneditionen

Organisatoren
Mission Historique Française en Allemagne (MHFA, Göttingen); École nationale des Chartes (ÉNC, Paris); Institut de Recherche et d'Histoire des Textes (IRHT, Paris und Orléans); Centre d'Études Supérieures de la Civilisation Médiévale (CESCM, Poitiers); Monumenta Germaniae Historica (MGH, München)
Ort
Paris (09.04.2005) / München
Land
France
Vom - Bis
26.02.2005 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Philippe Depreux, Mission historique française en Allemagne

Im Rahmen der École de l'Érudition en Réseau 1 veranstaltete die Mission historique française en Allemagne in Zusammenarbeit mit der École nationale des Chartes (ÉNC, Paris), dem Institut de Recherche et d'Histoire des Textes (IRHT, Paris und Orléans), dem Centre d'Études Supérieures de la Civilisation Médiévale (CESCM, Poitiers) und den Monumenta Germaniae Historica (MGH, München) zwei Studientage für Doktoranden unter dem Titel: "Der Historiker vor seinen Quellen: Möglichkeiten und Grenzen der Quelleneditionen".
Das erste Treffen fand am Samstag, den 26. Februar 2005, in der Sorbonne (am Laboratoire de Médiévistique occidentale de Paris, LAMOP) unter dem Titel "Quellenedition und Historiographie: die Edition als Spiegel der historiographischen Fragestellung und ihre Auswirkung auf das Quellenverständnis" statt. Der Vormittag war unter dem Vorsitz von Prof. Werner Paravicini (Deutsches Historisches Institut Paris) dem folgendem Thema gewidmet: "Die Historiographie der Quelleneditionen und die Ausarbeitung von Quellen", der Nachmittag stand unter dem Vorsitz von Prof. François Dolbeau (École Pratique des Hautes Études, Paris) und galt dem Thema: "Methoden der Quelleneditionen und Fragen der Historiker". Das zweite Treffen fand am Samstag, den 9. April 2005, in München (am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität) statt, das Thema lautete: "Die Formen der Quellenedition und ihre Nutzung durch den Historiker, zwischen Tradition und Innovation: einige aktuelle Unternehmungen". Der Vormittag war unter dem Vorsitz von Prof. Rudolf Schieffer (MGH, München) den Fragen gewidmet, die der Definition einer historischen Quelle galten: "Quellen auswählen, präsentieren und hierarchisch gliedern", der Nachmittag stand unter dem Vorsitz von Prof. Éric Palazzo (CESCM, Poitiers) und es ging um die Frage: "Warum eine elektronische Quellenedition?" - eine Frage, die gleich eine andere aufwirft: "Das Erstellen einer elektronischen Quellenedition: wofür?".

Die Studientage waren einerseits der Darstellung der verschiedenen Unternehmungen zu Quelleneditionen gewidmet, auf die sich die aktuelle historische Forschung großen Teils gründet, und andererseits der Analyse der Wechselwirkung zwischen der Definition der verschiedenen Quellengattungen, den Formen der Quelleneditionen, die sich daraus ergeben, und der Auswertung letzterer durch den Historiker oder andere Wissenschaftler. Man stellte, in Bezug auf mittelalterliche und neuzeitliche Quellen, die Frage nach der Eigenheit der Edition literarischer, philosophischer oder diplomatischer Quellen und inwieweit diese Editionen den Anforderungen der Geschichtsschreibung entsprechen oder neue Problemstellungen aufwerfen. Das Treffen in Paris war einigen großen Quelleneditionen gewidmet, vom 19. Jahrhundert bis heute, und hatte das Ziel, ihre Beziehung (Beeinflussung und/oder Abhängigkeit) zur zeitgenössischen und heutigen Historiographie besser zu ermessen. Um den Blick nicht nur auf die Vergangenheit zu richten, wurden auch die heutige Typologie der Quellen und ihre Auswirkungen für die Auswertung geschichtlicher Dokumente in die Überlegungen einbezogen. Bei dem Treffen in München ging es mehr um die Darstellung der Quellen und deren Auswirkung auf die historische Forschung sowie um aktuelle Unternehmen elektronischer Quellenedition.

Einige Vorträge verbanden den ersten und den zweiten Studientag, indem sie ähnlichen Fragestellungen nachgingen. Besonders die Beiträge von Irmgard Fees (Universität Marburg), die die Regesta imperii vorstellte, und von Michael Menzel (Humboldt-Universität Berlin), der über die "Constitutiones et acta publica imperatorum et regnum: Ludwig der Bayer († 1347) und Karl IV. († 1378)" sprach. In beiden Fällen handelt es sich um alte Unternehmen, die sich mit der Notwendigkeit konfrontiert sehen, den Traditionen treu zu bleiben, und gleichzeitig den neuen Fragestellungen der historischen Forschung gerecht zu werden. Was die Diplomatik betrifft, so sind die Urteile, wie Mark Mersiowsky (MGH, München) bei seiner Darstellung der Geschichte der Diplomata-Editionen zeigen konnte, selten wirklich definitiv. Er unterschied drei wichtige Phasen: die Epoche von Mabillon und der großen Kontroversen der Diplomatiker untereinander (bella diplomatica), die Epoche von Sickel, dem Meister der Wiener Diplomatik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und die aktuellen Tendenzen der diplomatischen Edition. Die Fundamente der diplomatischen Kritik wurden ausgehend von Diplomen des frühen und hohen Mittelalters gelegt. Was die letzten Jahrhunderte des Mittelalters betrifft, so kann keine umfassende - und vor allem keine quellenkritische - Publikation aller Dokumente angestrebt werden. Für diese Zeit sind die Regesten die einzig mögliche Form, den gesamten Bestand der Quellen zu überschauen. Auch in Bezug auf die Edition der Chartulare, muß der Diplomatiker neue Kriterien der Edition finden, weil es sich ab dem 13. Jahrhundert nicht mehr um Dokumente handelt, die man als "Kunstwerke" bezeichnen kann (wie es im 11. und 12. Jahrhundert in der Regel der Fall war); dies unterstrichen Paul Bertrand (IRHT, Orléans) und Laurent Morelle (École Pratique des Hautes Études, Paris) in ihrem Vortrag über "l'art et la manière d'éditer les cartulaires". Wie Arnold Heuser (Universität Bonn) in seinem Beitrag "Die Acta Pacis Westphalicae. Geschichte, Stand und Perspektiven" zeigen konnte, kann die Quellenedition dazu führen, daß eine Auswahl getroffen werden muß. Auch die Sprache ist ein wichtiges Kriterium, um einen Text zu charakterisieren, und manchmal wichtig, um seine Bedeutung zu bestimmen; dies führte Françoise Vielliard (ÉNC, Paris) in ihrem Vortrag zum Thema "La prise en compte de la langue dans l'édition et l'exploitation des textes médiévaux" aus (obwohl die Bedeutung der vernakularsprachlichen Chartulare seit dem 19. Jahrhundert von Persönlichkeiten wie Victor Hugo erkannt wurde, kann man eindeutig einen gewissen Verzug bei der Auswertung dieser Dokumente gegenüber den lateinischen Urkunden feststellen). Editieren und Geschichte schreiben sind zwei zum Teil verschiedene, aber ganz und gar komplementäre Aufgaben - auch (und vielleicht vor allem) was die Zeitgeschichte betrifft, dies wurde - ausgehend vom deutschen Fall - von Udo Wengst (Institut für Zeitgeschichte, München) in seinem Vortrag "Die Edition zeitgeschichtlicher Quellen" dargestellt. Durch die immer größere Verbreitung zeitgeschichtlicher Dokumente wird die pädagogische Arbeit des Historikers immer unersetzlicher!

Manche Beiträge lenkten die Aufmerksamkeit mehr auf die Analyse des Dokuments und auf die Art und Weise der Überlieferung. Eine solche Analyse ist unentbehrlich, um einen Text so zu editieren, dass er wirklich verständlich wird; dies unterstrich Dominique Poirel (IRHT, Paris) in seinem Vortrag zur "Édition des textes philosophiques et théologiques, des clercs médiévaux à l'historien contemporain" und illustrierte die Komplexität der Rekonstruierung einiger handschriftlicher Überlieferungen. Cécile Treffort (CESCM, Poitiers) stellte "Les éditions épigraphiques" vor; nachdem sie zunächst einen Unterschied zwischen den editorischen Traditionen diesseits und jenseits des Rheins festgestellt hatte, schlug sie vor, die Bedeutung des Materials in der typologischen Definition der Inschrift niedriger zu veranschlagen, aber der Funktion der Inschrift mehr Bedeutung beizumessen. Das Treffen vom 9. April schloß mit der Vorstellung von drei laufenden Unternehmen elektronischer Editionen. Helmut Reimitz (Institut für Mittelalterforschung, Wien) präsentierte sein Forschungsprogramm zur fränkischen Identität in den historiographischen narrativen Quellen des frühen Mittelalters: "Kompendien und Kompilationen: zum Umgang mit historiographischen Texten und ihrer Überlieferung am Beispiel von ‚Drei Büchern fränkischer Geschichte aus der Karolingerzeit'"; Gerhard Schmitz (MGH, München) sprach über die Fortentwicklung eines Editionsprojektes zu kanonischen Quellen: "Die Neuedition der falschen Kapitularien des Benedictus Levita"; Olivier Guyotjeannin (ÉNC, Paris) stellte im Rahmen seines Vortrags "Les éditions diplomatiques actuelles (traditionnelles et électroniques)" die Edition des Cartulaire Blanc der Abtei von St. Denis vor, welche er mit Studierenden der École des Chartes vorbereitet.

Es wurde deutlich, in welchem Ausmaß die Entwicklung der Quellenedition von der Art und Weise abhängen kann, in der die Historiker an die Quellen herangehen, die sie publizieren. Es ist auch nicht die gleiche Situation, wenn es um ein discrimen veri ac falsi noch rechtsgültiger Dokumente geht, wie es in der Zeit der bella diplomatica der Fall war, oder um rein wissenschaftliche Untersuchungen. Die historischen Quellen sind keine Rohdaten, sondern konstruierte Dokumente, sogar wenn es sich um Texteditionen handelt und nicht um beispielsweise das Erstellen von archäologischen Plänen oder von Statistiken. Der Begriff selbst der Ars edendi weist im übrigen auf eine gewisse Subjektivität des Herausgebers hin. Unabhängig von der Suche nach dem Archetypus, die darauf abzielt, den Urtext zu erstellen, sollte man auch den Kopien und Überarbeitungen die größte Aufmerksamkeit widmen und sich die Frage nach ihrem Nutzen, ihrem tatsächlichen Gebrauch und nach ihrer Verbreitung stellen. Man muß sich auch und vor allem fragen, inwieweit die neuen Editionen es erlauben, die historische Schriftquelle nicht nur als Text sondern auch als Dokument zu erfassen. Diese Treffen für Doktoranden, seien sie nun direkt mit editorischen Problemen konfrontiert oder nicht, ermöglichten es den Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen ihre Erfahrungen auszutauschen und dabei besser zu verstehen, was den Reiz und den Wert der ohne Zweifel komplementären historiographischen Schulen französischer und deutscher Sprache ausmacht.

Anmerkung:
1http://www.irht.cnrs.fr/formation/eer.htm


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Französisch, Deutsch
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