Fünfter Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Fünfter Workshop zur Jugendbewegungsforschung

Organisatoren
Frauke Schneemann, Georg-August Universität Göttingen; Anne-Christine Hamel, Universität Leipzig; Archiv der deutschen Jugendbewegung
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.04.2017 - 22.04.2017
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Von
Frauke Schneemann, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Bereits zum fünften Mal trafen sich vom 21. bis 22. April junge NachwuchsforscherInnen auf Burg Ludwigstein nahe Witzenhausen, um im Rahmen des „Workshops Jugendbewegungsforschung“ ihre laufenden und abgeschlossenen Projekte im interdisziplinären Rahmen zu präsentieren und zu diskutieren. Begleitet wurde der Workshop vom Gastreferenten KARL BRAUN (Marburg), der in seinem Eröffnungsvortrag über den österreichischen Geschichtsphilosophen, Soziologen und Kulturhistoriker Franz Borkenau referierte. Im Zentrum des Vortrags stand Borkenaus psychoanalytische Abhandlung „Autorität und Sexualmoral in der deutschen Jugendbewegung“, welche er 1936 unter dem Pseudonym Fritz Jungmann innerhalb der Schriftenreihe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung veröffentlichte. Nach Borkenau bestehe das zentrale Problem bezüglich Sexualität in der Jugendbewegung in der Unterdrückung der Geschlechtlichkeit, die zur Verstärkung der bereits vorhandenen sexuellen Frustration führe. In der Folge würden jene allgemeinen, meist heterosexuellen Spannungen kanalisiert und könnten sich unter anderem als homosexuelle Begierden äußern. Somit negiert Borkenau die Blühersche These, die Jugendbewegung sei als rein homosexuelles Phänomen zu begreifen. Letztendlich würden Romantisierung und Idealisierung geschlechtlicher Beziehungen innerhalb der Bewegung der realen Sexualnot der Jugend entgegenstreben.

RON HELLFRITZSCH (Greifswald) geht in seinem Dissertationsprojekt deutschen Besatzungsplänen sowie -praktiken des heutigen lettischen Gebietes Kurland zwischen 1916 und 1919 nach. Deutsche Besitzansprüche bezüglich jenes Gebietes leiteten sich weniger aus einer geostrategischen Argumentation heraus ab, als aus einem historisch legitimierten Konstrukt Kurlands als ehemaligem Zentrum des Deutschen Ritterordens. Zentral ist für Hellfritzsch die Frage, inwieweit jenes Besatzungsgebiet von kolonialen Vorstellungen geprägt war. Anhand der Gruppierung der Feldwandervögel zeigte er, dass vor allem kulturmissionarische Aspekte, in Abgrenzung zu Urbanisierung, Industrialisierung und Kapitalismus, eine bedeutsame Rolle spielten. Orientiert an lebensreformerischen Vorstellungen und am Vorbild der Obstbaukolonie „Eden“, sollten die größtenteils kleinbürgerlichen Siedler Garten- und Handwerkersiedlungen auf dem „urdeutschen Boden“ aufbauen. Im Verlauf des Krieges engagierten sich die Feldwandervögel zudem verstärkt in der Kriegerheimstättenbewegung und konnten sich durch Wohlwollen des Militärs somit räumlich weitestgehend frei bewegen und wirken. Der endgültigen Umsetzung der Siedlungsbewegungen wirkten jedoch die Gebietsansprüche der Bolschewiki und das Ende des Ersten Weltkrieges entgegen.

VIOLA KOHLBERGER (München) hat sich zum Ziel gesetzt, Anfänge der katholischen Jugendarbeit in Deutschland nach 1945 aufzuarbeiten und deren Entwicklung bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 zu analysieren. Als Untersuchungsgegenstand dient hierbei der Bund Deutscher Katholischer Jugend (BDKJ) innerhalb des Wirkungskreises Augsburg. Der regionalgeschichtliche Blick bietet sich hinsichtlich der bayrischen Diözesen-Organisation der katholischen Jugendarbeit an, zumal keine übergeordneten Strukturen auf Landesebene bestanden. Als möglichen strukturellen Ansatz schlägt Kohlberger die Unterteilung der BDKJ-Organisationen in die Stammjugend (Katholische Landjugend, Katholische Jungmännergemeinschaft, Katholische Frauenjugendgemeinschaft) und Gliedgemeinschaften (Christliche Arbeiterjugend, Pfadfinder, Studierende Jugend, Sportjugend, Vertriebenenjugend) vor. Sowohl die Nachzeichnung organisatorischer Entwicklungen, als auch die Schwerpunktsetzung in der jeweiligen Programmatik der Verbände sollen bei der Analyse berücksichtigt werden. Wünschenswert bleibt vor allem die Einbettung der katholischen Jugendarbeit im Bistum Augsburg in gesamtgesellschaftliche Entwicklungen der Bundesrepublik – mit der Amerikanisierung des Freizeitverhaltens der Jugend und den sich allmählich wandelnden Geschlechterrollen seien nur einige Aspekte genannt, die Kontroversen innerhalb der damaligen Jugendarbeit der 1950er Jahre hervorriefen und interessante Anstöße für das Dissertationsprojekt liefern könnten.

Formen des jugendlichen Protests untersucht SANDRA FUNCK (Göttingen) in ihrer Masterarbeit über die Göttinger Schülerbewegung der 1960er-Jahre. Die zunehmende Politisierung Jugendlicher sowie intensivierte Maßnahmen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) zur Rekrutierung von Nachwuchs bildeten die Grundlage für die Entstehung des Unabhängigen Sozialistischen Schülerbundes (USSB) und des Aktionszentrums unabhängiger sozialistischer Schüler (AUSS) in Frankfurt. Die Kernfrage des Projektes beleuchtet, inwieweit die Schülerbewegung als selbständige Interessengemeinschaft aufgefasst werden kann, oder eine vom SDS gesteuerte Nachwuchsgesellschaft darstellt. Mittels eines praxeologischen Ansatzes analysiert Funck diverse Protestformen der Schülerbewegung : zum einen das Diskutieren bzw. Theorisieren der, aus Sicht der Schüler, akuten gesellschaftlichen Problematiken, zum anderen die sogenannten sit-ins, go-ins und „teach-ins“. Letztere Protestformen fanden ihren Ursprung in der amerikanischen civil rights-Bewegung und entwickelten sich durch Adaption zu einer transkontinentalen Protestpraktik. In Deutschland fand jene Form des friedlichen Widerstands auch innerhalb der Schülerschaft Anklang. Im Zuge einer Fahrpreiserhöhung bestreikten Schüler verschiedenster Schulformen das öffentliche Nahverkehrsnetz Bremens und auch die Göttinger Schüler veranstalteten ein sit-in am Weender Tor, einem der verkehrsreichsten Knotenpunkte Göttingens. Da sowohl die Studentenbewegung, als auch die Schülerbewegung keine homogene Gruppierung mit einheitlicher Programmatik darstellte, gestaltet sich die Herausarbeitung von Interdependenzen als schwierig. Ein wichtiges Ziel des Projektes, so Funck, sei es jedoch der Schülerbewegung in Abgrenzung zu anderen Gruppierungen der Neuen Linken ein stärkeres Gewicht zu verleihen.

SIMON NUßBRUCHS (Würzburg) Dissertationsprojekt eröffnet verschiedene Zugänge zum bündischen Gruppenlied nach 1945. Hierbei bedient sich Nußbruch diverser musikwissenschaftlicher Methoden. Neben der Betrachtung der Lieder als kompositorische Werke, und der diskursanalytischen Betrachtung von bündischen Zeitschriften wie dem Eisbrecher, bildet die musikethnologische Feldforschung einen Schwerpunkt des Projektes. So stellen Tonaufnahmen von diversen Lagern, besonders den Meißnerlagern, einen Quellenbestand dar, der die musikalischen Stücke in einen direkten Vortragskontext einbettet und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede im Umgang mit dem bündischen Liedgut sichtbar werden lässt. Anhand der Musikbeispiele in ihrem jeweiligen zeitlichen Vortragsrahmen „Was ließen jene, die vor uns waren“ (1962), „Wenn der Abend naht“ (1982), „Santiano“ (2008) und „Leinen los“ (2012) verdeutlicht Nußbruch die vielfältigen Aufführungsmöglichkeiten und auch Deutungen, die jene musikalischen Stücke durch ihren Gebrauch bekommen. Das Bespiel „Leinen los“, welches von der norddeutschen Band „Santiano“ umgetextet wurde, zeigt vor allem die Kommerzialisierung volkstümlichen Liedguts als aktuellste Entwicklung. Für die Nachkriegszeit konstatiert Nußbruch zusammenfassend eine musikalische Kontinuität, merkt jedoch an, dass die Wahrnehmung des bündischen Liedguts sich veränderte.

Auch FELIX RUPPERT (Marburg) widmet seine Bachelorarbeit der musikalischen Seite der bündischen Jugendbewegung. Er untersucht den Einfluss der Jugendbewegung auf die Burg Waldeck-Festivals im Zeitraum 1964 bis 1968 sowie die Wirkung der Festivals selbst auf die deutsche Liedermacherszene. Die Besitzrechte für das Gelände der Burgruine Waldeck sind zwischen dem Jugendbund Nerother Wandervogel und der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW) aufgeteilt. Aus Letzterer ging wiederum ein studentischer Arbeitskreis hervor, welcher die Idee zu einer musischen Bauhütte aufgriff. Zu den Initiatoren des Festivals gehörten somit Angehörige der autonomen bündischen Jungenschaften: Diethart Kerbs, Jürgen Kahle, Rolf Gekeler und Peter Rohland strebten einen internationalen, interkulturellen musikalischen Austausch an und wollten der deutschen Liederszene, die von romantisierenden Schlagern geprägt war, neue Entwicklungen entgegensetzen. Mit steigender Popularität des Festivals, dessen Besucherzahlen in die Tausende wuchsen, wurde zunehmend auch die ideologische Ausrichtung und der Zweck des Musizierens selbst thematisiert. Während Kerbs beispielsweise vom Gemeinschaftslied abkehren und eine künstlerische Liedform etablieren wollte, fand letztendlich insgesamt eine starke linke Politisierung des Festivals statt. Das neue deutsche Lied sollte gesellschaftskritische Themen aufgreifen und zur Diskussion anregen. Durch die Interventionen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) eskalierte 1968 die Situation auf dem Festival. Ruppert resümiert, dass somit insgesamt eine Abkehr vom bündischen Liedgut erfolgte, welches zwar kaum Einflüsse auf das neue deutsche Lied ausübte, dessen Entstehung jedoch mitprägte. Schließlich blieb immer noch die Tradition des Sammelns und Aufbewahrens bündischer Lieder erhalten.

Die chronologische Verlagerung der Forschungsschwerpunkte der Vorträge auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelt begrüßenswerte Entwicklungen in der Jugendbewegungsforschung wider. Auch durch die diesjährige Archivtagung im Oktober, welche sich mit Fragen der Selbsthistorisierung jugendbewegter Akteure und Gruppierungen nach 1945 befasst, werden Forschungsdesiderate für diesen Zeitraum angegangen. In der Abschlussdiskussion wurde herausgestellt, dass eine Betonung der thematischen Erweiterung des Workshops sinnvoll wäre. Hiermit sind nicht nur Vorträge über methodische und theoretische Aspekte der Jugendbewegungsforschung gemeint, sondern auch der stärkere Einbezug verwandter Forschungsthemen, wie etwa der Lebensreform- oder der Vegetarismusbewegung. Hierdurch erhoffen sich die TeilnehmerInnen des Workshops eine beständige Erweiterung des Forschungsnetzwerkes. Gelegenheit zur weiteren Diskussion wird der nächste Workshop der Jugendbewegungsforschung bieten, der vom 20. bis 22. April 2018 auf der Burg Ludwigstein stattfinden wird.

Konferenzübersicht:

Karl Braun (Marburg): Autorität und Sexualmoral in der freien bürgerlichen Jugendbewegung. Fritz Jungmann (d.i. Franz Borkenau) zieht im 4. Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft kritische Bilanz

Ron Hellfritzsch (Greifswald): „Wir haben hier oben eine Aufgabe zu erfüllen“. Die Feld- Wandervögel im Kurland 1916-1919

Viola Kohlberger (München): Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) im Bistum Augsburg 1945-1963

Sandra Funck (Göttingen): Jugendproteste in der Provinz. Die Göttinger Schülerbewegung in den 1960er Jahren

Simon Nußbruch (Würzburg): Zugänge zum bündischen Gruppenlied nach 1945

Felix Ruppert (Marburg): Burg Waldeck Festival. Von der Jugendbewegung zum neuen deutschen Lied


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