6. Kartengeschichtliches Kolloquium zu Ehren von Ingrid Baumgärtner

6. Kartengeschichtliches Kolloquium zu Ehren von Ingrid Baumgärtner

Organisatoren
Martina Stercken, Professorin für Allgemeine Geschichte des Mittelalters und Vergleichende Landesgeschichte, Universität Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
16.06.2017 - 17.07.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Anna Hollenbach, Mittelalterliche Geschichte, Universität Kassel

Das bereits zum sechsten Mal tagende Kartengeschichtliche Kolloquium kehrte in diesem Jahr an seinen Ursprungsort Zürich zurück, an dem es 2011 zum ersten Mal stattfand, ehe sich danach Essen, Kassel und Paris abwechselten. Unter Leitung von Ingrid Baumgärtner, Ute Schneider und Martina Stercken ermöglichte das Kolloquium Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern, ihre Qualifikationsarbeiten im Bereich der Kartographiegeschichte vorzustellen, zu diskutieren und gemeinsam neue Zugänge zu finden. So betonte Gastgeberin Martina Stercken in ihrer Begrüßung den epochenübergreifenden und interdisziplinären Charakter, welcher eine Vielzahl an Fragestellungen sowie ein breit gefächertes Themenfeld eröffne. Ermöglicht wurde die diesjährige Veranstaltung durch die Unterstützung des Nationalen Forschungsschwerpunkts „Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen. Historische Perspektiven“ aus Mitteln des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, dem Zürcher Universitätsverein sowie der Charlotte André-Stiftung.

Das diesjährige Kolloquium hatte eine besondere Rahmung, denn es fand zur Ehren von Ingrid Baumgärtner statt. LENA THIEL und ANNE FOERSTER (Kassel) betonten zu Beginn Baumgärtners richtungsweisende Bedeutung für die Geschichte der vormodernen Kartographie, wie auch für ihre SchülerInnen, denen sie seit der 1994 erfolgten Übernahme ihrer Professur für Mittelalterliche Geschichte in Kassel eine Orientierung in der Epoche wie auch eine Verortung im Wissenschaftssystem ermögliche. Baumgärtners große methodische und inhaltliche Spannbreite im Umgang mit Texten und Bildern sei ebenso beeindruckend wie ihre thematisch weit ausgreifenden Forschungsschwerpunkte in der Karten-, Stadt-, Rechts- und Regionalgeschichte Europas und des Mittelmeerraumes. Nicht zuletzt machten ihre kulturgeschichtlichen Zugänge sie zu einer Expertin weit über die mittelalterliche Geschichte hinaus.

Danach stellte MARCUS JURK (Frankfurt) einen Auszug seines politikwissenschaftlichen Dissertationsprojektes über den Wandel von Orientierungsdispositiven in Karten des Mittelalters, der Neuzeit und der Postmoderne vor. Orientierung verstand er dabei als aktive, menschliche Tätigkeit, so dass er sich bei der Analyse der ausgewählten Karten auf die Bewegung im Raum konzentrierte. Besonderes Augenmerk richtete Jurk auf die Ebstorfer Weltkarte (um 1300), die Weltkarte des Martin Waldseemüller (1507), den Kettenplan von Florenz (um 1500/10) sowie eine Auswahl moderner, kybernetischer Karten. Ziel des Beitrages war es, Parallelen zwischen den Vorstellungswelten der Vormoderne und unserer heutigen Zeit aufzuzeigen, um zu verdeutlichen, dass die neuartigen Technologien im Blick auf vergangene Entwicklungen besser zu verstehen seien. Jurk geht davon aus, dass heutige, moderne Karten einen fundamentalen Umbruch darstellen, da sie einen dreidimensionalen Raum zeigen, in dem sich die Betrachter absolut bewegen können und der gleichzeitig absolute Orientierung simuliert. Die Frage nach Fortschritt oder Verlust von Raum als sensorisch erfahrbarer Kategorie in der Entwicklung der Karten wurde anschließend allerdings kontrovers diskutiert.

Der Beitrag von JOST SCHMID (Zürich) widmete sich Monstern und legendären Schauplätzen auf dem St. Galler Globus, einem von vier noch existierenden Großgloben des 16. Jahrhunderts. Die kombinierte Erd- und Himmelsdarstellung steht in der kurzen Tradition kosmographischer Globen, bei denen sich das Himmelskartenbild und das Erdkartenbild auf derselben konvexen Kugeloberfläche befinden. Schmid zeigte auf, wie gedruckte Vorlagen als Texte und vor allem als Bildquellen die Gestaltung eines Großteils der Oberflächen am St. Galler Globus und seinem Gestell beeinflussten. Die Verlagerung der Monster an den Rand der bekannten Welt entspräche dabei tradierten Gewohnheiten. Schmid verdeutlichte, dass das Monströse auf einem Konzept des lebensfeindlichen Raums basiere, wie es etwa der Zusammenhang zwischen extremen Klimazonen und extremen Aussehen und Verhalten zeige. Er formulierte die These, dass die auf dem Globus vorhandene Skala hinsichtlich der Monster und ihrer Verteilung auf der Erde eine gewisse Messbarkeit suggeriere. Im Anschluss an Schmids Beitrag hatten die TeilnehmerInnen des Kolloquiums die Möglichkeit, den höchst beeindruckenden St. Galler Globus im Schweizerischen Nationalmuseum Zürich zu besichtigen und mehr über die Biografie des Objekts zu erfahren.

Den zweiten Tag des Kolloquiums eröffnete CHRISTOPH MAUNTEL (Tübingen) mit einem Vortrag zu seinem Habilitationsprojekt über das Ordnungsmodell der Erdteile und ihre Bedeutung für das Mittelalter. Die Idee, die Erde in Teile zu gliedern, entstammt bereits der Antike und wurde im Frühmittelalter in den Kanon des geographischen Wissens übernommen. Im Gegensatz zu antiken Autoren sprechen die lateinisch-christlichen Quellen Asien, insbesondere aufgrund der Lage Jerusalems und des Paradieses, noch vor Europa und Afrika den ersten Rang unter den Erdteilen zu. Vom 7. Jahrhundert an fand das Konzept der Erdteile seine graphische Umsetzung in den sogenannten TO-Karten, die vielfach in mittelalterlichen Handschriften überliefert sind. So wurde das TO-Schema selbst bereits in Texten des 5. Jahrhunderts abstrakt beschrieben, ohne dass Zeichnungen aus dieser Zeit überliefert wären. Diese finden sich erstmals in Isidor von Sevillas Schrift „De natura rerum“. Mauntel betonte abschließend die Bedeutung der Erdteile als Ordnungskategorien, die für das Individuum Verortung und Inbezugsetzung ermöglichten.

Die Rolle von Text und Bild bei der Speicherung und Vermittlung geographischen Wissens untersuchte CORNELIA DREER (Kassel). Dabei stellte sie die Beschreibung der Welt im „Polychronicon“ Ranulph Higdens aus der Mitte des 14. Jahrhunderts den Karten gegenüber, die in 17 der mehr als 100 Codices der Chronik überliefert sind. Die Karten, die in der Aufteilung übereinstimmen, nehmen verschiedene Ausformungen an. Die Unterschiede in Auswahl und Darstellung geographischer Informationen in Text und Bild sind laut Dreer aus der Praxis des Memorierens heraus entstanden, die den Umgang mit Wissen im Kontext der Chronik bestimmt hat. Entgegen modernen Gewohnheiten kam dem Text die Aufgabe zu, detaillierte Angaben zu liefern, während die Karten Struktur und Komplexität des vorhandenen Wissens im Überblick andeuteten. Das Gedächtnis fungierte dabei als mentaler Speicher, aus welchem heraus die Karten gezeichnet wurden. Die Karten des „Polychronicon“ liefern somit visuelle Stichworte und sind kennzeichnend für die zeitgenössische Praxis von Verarbeitung, Erweiterung und Rezeption von Wissen.

ANDREA WORM (Graz) stellte mit dem 1521 gedruckten Plan der Reichsstadt Augsburg ein monumentales Zeugnis städtischen Selbstbewusstseins vor, dem als frühestem Nachfolger des ungleich bekannteren Venedig-Plans von Jacopo Barbari von 1500 besonderes Interesse zukommt. Es handelt sich beim Plan Jörg Selds um einen aus mehreren Blättern zusammengesetzten Holzschnitt, der Augsburg aus imaginär erhöhter Perspektive zeigt. Die von Mauern geschützte Stadt ist dabei in die umgebende Kulturlandschaft eingebettet, das Straßennetz und die Struktur der Stadt sind für den Betrachter deutlich ablesbar. Worm unterzog den bislang meist als realienkundliche Quelle für das Aussehen Augsburgs im 16. Jahrhundert herangezogenen Plan einer eingehenden formalen Analyse. Diese erwies, in welch hohen Maß der Plan nicht nur das Ergebnis exakter Vermessung, sondern Resultat sorgfältig abgewogener künstlerischer Eingriffe ist, die den Zweck verfolgen, die Stadt als ein wohlgeordnetes Gemeinwesen zu veranschaulichen. Der Plan zeigt somit eine Verbindung von wissenschaftlicher Rationalität und künstlerischer Darstellungsform auf. Die bislang kaum beachteten Inschriften und Wappen, die zentrale Elemente des Plans bilden, sprechen, so Worm, zudem dafür, dass der Plan in Karl V. einen recht konkreten Adressaten hatte und implizit den Zweck verfolgte, dem gerade erst gewählten Kaiser die Stadt besonders nahe zu legen.

Die Produktion, Funktion und Rezeption jesuitischer Kartographie stand im Fokus des Beitrages von IRINA PAWLOWSKY (Tübingen). Als Beispiel dienten ihr hierfür drei gedruckte Karten von jesuitischen Missionaren des oberen Amazonasgebietes, der sog. Maynas-Mission, aus dem 18. Jahrhundert. Pawlowsky verdeutlichte, dass die Jesuiten mit Hilfe dieser Karten ihre Missionsräume konstruierten. Im Zentrum stand die Annahme, dass die Karten nicht losgelöst von dem Missionsverständnis der Jesuiten, ihrer europäischen Perspektive, ihrer jesuitischen Identität oder ihrer Position innerhalb politischer und wissenschaftlicher Diskurse betrachtet werden können. Am Beispiel der Karte von Samuel Fritz (1707) zeigte sie die kartographische Repräsentation von Mission als religiösem wie politischem Raum auf und veranschaulichte, in welcher Weise die Missionsterritorien durch ikonographische Elemente definiert wurden. Inwieweit solche Kartierungen auch den jesuitischen Verwaltungsraum konstruieren und damit sowohl eine Vorstellung von globaler Herrschaft als auch ein religiös begründetes, administratives Selbstbild vermitteln, stellte Pawlowsky am Beispiel der Karte von Carlos Brentano (1751) heraus. Abschließend verwies sie am Beispiel der Arbeiten von Franz Xaver Veigl (1785) darauf, dass Karten selbst nach Ende der Existenz des Ordens noch als Repräsentationsmedium dienten und das Wiederauftreten der Mission vorbereiten sollten.

KYRA PALBERG (Essen) unterzog Karten zum Arbeitsmarktgeschehen als Teil von Informationsgrafiken einer kritischen Analyse und verdeutlichte, inwieweit diese unterschiedliches Wissen und Vorstellungen über arbeitende und nicht-arbeitende Subjekte vermitteln. Anhand ausgewählter Beispiele erläuterte sie, dass das Weglassen als Technik der Komplexitätsreduktion nicht als passiver Vorgang der Vereinfachung gewertet werden kann, sondern ihm bereits eine Interpretation vorausgeht, die im kartographischen Ergebnis nicht nur Welt- und Wertvorstellungen veranschaulicht, sondern diese auch konstituiert. Der Gebrauch von Karten im Zusammenhang mit Körpermetaphoriken fokussiert, wie Palberg eindrücklich verdeutlichte, die Dimension der politischen und wirtschaftlichen Steuerung von Arbeitslosigkeit. Über die Kombination von Statistik und Kartographie wird Arbeitslosigkeit gleichermaßen individuell und übersummativ entworfen. Palberg beschrieb Karten und Statistiken als Medien, die über die Funktion des Vergleichs konstituiert werden. Die Imagination von zumeist westdeutschen Rezipientinnen und Rezipienten generiert dabei eine Konkurrenzsituation, die nicht nur eine Interpretation eines kapitalistischen Wirtschaftssystems darstellt, sondern auch konstitutiv für das Verständnis von Regionen, Staaten und Grenzen sowie deren Beziehung zueinander wirkt.

Abschließend untersuchte HELEN WAGNER (Essen) am Beispiel des Ruhrgebietes, inwieweit Karten für die Selbst- und Außendarstellung eines Raums als zusammenhängender Region von besonderer Bedeutung sind. Durch den mit der Kohlekrise Ende der 1950er-Jahre einsetzenden Strukturwandel war das Ruhrgebiet einem so tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Wandel ausgesetzt, dass in Frage stand, ob die Region überhaupt noch existiere und in Zukunft als solche bezeichnet werden könne. Wagner betonte, dass aufgrund fehlender naturräumlicher, politischer oder administrativer Grenzen nur die wirtschaftliche Prägung der Kohle- und Stahlindustrie blieb, um das Ruhrgebiet als erinnerungskulturellen Raum wahrzunehmen und zu konstruieren. Anhand zweier Beispiel konnte sie aufzeigen, wie sehr die Kartierung des Raums durch vorgelagerte Ziele und Zwecke bestimmt wird. Als Beispiel für eine top-down gerichtete Konstruktion diente ihr die „Route der Industriekultur“, welche einen neuen Typ von Kulturlandschaften entwirft und zugleich elementarisiert, indem einzelne Orte und Objekte ausgewählt und fokussiert werden. Für einen bottom-up intendierten Ansatz stellte sie das Projekt „Zeit-Räume Ruhr“ vor, in welchem die Bevölkerung kollektiv durch eigene Einträge die Erinnerungsorte festlegt. Die Beispiele verdeutlichten, dass verschiedene Ziele unterschiedliche Medien der Kartierung erfordern, deren Spezifika wiederum auf die durch die Karten erstellten Raumkonstruktionen zurückwirken.

Die Diskussionen in und zu den einzelnen Beiträgen veranschaulichten erstens die vielfältigen Dimensionen von Karten als Dispositive und Sinnstrukturen, die letztlich auch in ihrer Materialität zu greifen sind, zweitens die enorme Fülle an Wissensaspekten, die Karten jeder Epoche vermitteln können, und drittens die unterschiedlichen Bedeutungsebenen von Raum, die zum Gegenstand gemacht werden können. Die interdisziplinären und epochenübergreifenden Vorträge zeigten deutliche Synergieeffekte und betonten einmal mehr die zentrale Bedeutung des Kolloquiums für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Ein nächstes Treffen ist für Sommer 2018 in Kassel geplant.

Konferenzübersicht:

Einführung: Martina Stercken (Zürich)
Lena Thiel / Anne Foerster(Kassel): Orientierung in Mittelalter und Wissenschaft. Zum Geburtstag von Ingrid Baumgärtner

Sektion 1
Moderation: Martina Stercken

Marcus Jurk (Frankfurt): Über den Wandel von Orientierungsdispositiven – Weltbeziehung in Karten des Mittelalters, der Neuzeit und der Postmoderne
Jost Schmid (Zürich): Monster und legendäre Schauplätze. Mittelalterliche Ikonographie am St. Galler Globus (ca. 1576)

Sektion 2
Moderation: Ingrid Baumgärtner

Christoph Mauntel (Tübingen): Die Erde und ihre Teile. Kontinente und Himmelsrichtungen als Kategorien lateinisch-christlicher Welterfassung
Cornelia Dreer (Kassel): Geographie in Higdens Weltchronik – Themen, Vermittlung, Funktion

Sektion 3
Moderation: Bettina Schöller

Andrea Worm (Graz): Stadt, Land, Kaiser. Augsburg auf dem Plan von Jörg Seld (1521)
Irina Pawlowsky (Tübingen): Missionsräume am Amazonas. Produktion, Funktion und Rezeption jesuitischer Kartographie im 17. und 18. Jahrhundert

Sektion 4
Moderation: Ute Schneider

Kyra Palberg (Essen): Karten der Arbeitslosigkeit. Zeit- und Raumkonstruktionen in Berichterstattungen zum Arbeitsmarktgeschehen
Helen Wagner (Essen), „Landschaft der Rostalgie“. Zur Kartierung des Ruhrgebiets als erinnerungskulturellem Raum


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