Die Russische Revolution und ihre Wahrnehmung in Bayern, Deutschland und der Welt

Die Russische Revolution und ihre Wahrnehmung in Bayern, Deutschland und der Welt

Organisatoren
Frank Jacob, City University of New York;Kurt-Eisner-Verein für politische Bildung e.V.; der Rosa-Luxemburg-Stiftung Bayern
Ort
Würzburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.07.2017 - 11.07.2017
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Von
Frank Jacob, City University of New York

Während 2014 von Veranstaltungen rund um den Ersten Weltkrieg geprägt war, jähren sich derzeit die Ereignisse der Russischen Revolutionen des Jahres 1917 zum hundertsten Mal. Dabei werden oft die beiden Revolutionen selbst sowie deren Auswirkungen auf das kurze 20. Jahrhundert untersucht, um in teils oft nur repetitiven und wenig originellen Vorträgen die Bedeutung des sogenannten Epochenjahres herauszustellen. Die Würzburger Tagung, die von Frank Jacob (New York) in Zusammenarbeit mit dem Kurt-Eisner-Verein für politische Bildung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert worden war, widmete sich deshalb explizit anderen Fragestellungen, nämlich denen, die sich mit der Wahrnehmung der revolutionären Umwälzungen in Russland auseinandersetzten.

Den Anfang der Tagung bildete ein Panel, das sich mit der Rezeption der Russischen Revolutionen innerhalb der deutschen Linken beschäftigte. RICCARDO ALTIERI (Potsdam / Würzburg) analysierte die Positionen der beiden KPD-Gründungsmitglieder Rosi Wolfstein (1888-1987) und Paul Frölich (1884-1953), die zunächst denen glichen, die der russischen Oktoberrevolution kritisch gegenüberstanden, jedoch gleichfalls der Auffassung waren, dass nur die Weltrevolution die drohende Diktatur des Bolschewismus hätte abwenden können. ANDREAS MORGENSTERN (Schiltach) lieferte eine weitere Perspektive auf die Ereignisse, allerdings aus Sicht der Sozialistischen Monatshefte, in denen zwar die Februarrevolution begrüßt, die Ereignisse im Oktober jedoch abgelehnt worden waren. Die Bolschewiki wurden als „Schreckgespenst“ empfunden, die einer als „natürlich“ geltendenden deutsch-russischen Hegemonie in Europa im Wege standen. Im dritten Vortrag des Panels eruierte TOBIAS HIRSCHMÜLLER (Eichstätt) dann das Russlandbild im Vorwärts, wobei er die Ambivalenz der sozialdemokratischen Wahrnehmung des Zarenreiches, die nicht selten auch auf bürgerliche Stereotype zurückgriff, nachzeichnete. LUTZ HÄFNER (Bielefeld / Göttingen) schloss das erste Panel schließlich mit einer Betrachtung der sozialdemokratischen und sozialistischen Erfahrungsräume zwischen 1918 und 1923 ab. Wurde im März 1917 noch von einem „ex oriente lux“ gesprochen, dass die „Sonne des Sozialismus“ durch den „Nebel und Dunst von Kapitalismus und Ausbeutung der Arbeiterschaft strahlen lassen könne“, wich die Euphorie bald einer Instrumentalisierung durch die Parteien im politischen Kampf der Nachkriegszeit, die sich schließlich, aufgrund des Terrors und des Bürgerkrieges in Russland in eine Ablehnung verkehrte. Insgesamt wurde im ersten Panel deshalb gezeigt, dass die Wahrnehmung der russischen Ereignisse innerhalb der deutschen Linken als ambivalenter und sich wandelnder Prozess verstanden werden muss. Ähnlich der Wahrnehmung der Französischen Revolution, war es der Verlauf des revolutionären Zyklus, der die Gefühlswelten zwischen Erstaunen, Freude, Ekel und Ablehnung bestimmten. Ungeachtet dessen führten die Russischen Revolutionen jedoch auch zur Genese ganz eigener Stereotype, etwa dem des „jüdischen Bolschewisten“.

Diese Vermengung des Antibolschewismus mit dem Antisemitismus wurde im zweiten Panel eingehender eruiert. CARSTEN SCHAPKOW (Oklahoma) wies auf die zufälligen Kongruenzen zwischen Judentum und Revolution hin, die jedoch den meisten Vertretern selbst gar nicht bewusst waren bzw. nicht bewusst gelebt wurden (die meisten jüdischen Revolutionäre verstanden sich selbst nicht als Juden). Im Zuge der Konstruktion antisemitischer Verschwörungstheorien, die auf teilweise älterem Schrifttum basierten, wurde der neue Stereotyp des „jüdischen Bolschewisten“ konstruiert, wobei im Zuge desselben etwa Gustav Landauer (1870-1919) vorgeworfen wurde, an dieser Weltverschwörung aktiven Anteil zu haben. Dass derlei Konstruktionen auch aus dem katholischen Umfeld Bayerns stammen konnten, belegte CHRISTOPH VALENTIN (Münster), der die Haltung der Apostolischen Nuntiaturen in Deutschland und deren Wahrnehmung der Russischen Revolutionen eingehend untersuchte.

Abgeschlossen wurde der erste Tag schließlich zum einen von einem Vortrag von ANKE NAPP (Hamburg), die die Verarbeitung der Russischen Revolutionen in deutschen Bildbändern der Jahre 1929 und 1932 untersuchte — „Sowjetkultur droht“ und „Der Kampf der Sowjets gegen die Kirche Christi“ — und dabei zeigen konnte, dass spezifisch anti-sowjetische Texte in Kombination mit einer ausgefeilten Semiotik und Bildkonstruktion genutzt wurden, um anti-sowjetische Bildwelten zu transportieren. Zum anderen rundete die Buchpräsentation „Diktatur statt Sozialismus“ von JÖRN SCHÜTRUMPF (Berlin) den Abend ab, bei dem der Autor und Herausgeber neue und bisher unbekannte Perspektiven auf die Wahrnehmung der Russischen Revolution durch die deutsche Linke (1917/18) präsentieren konnte.

Regionale Perspektiven auf die Wahrnehmung der Ereignisse von 1917 lieferte am zweiten Tag der Konferenz zunächst CORNELIA NAUMANN (München), die sich der Rolle Sarah Sonja Lerchs während des Januarstreiks 1918 in München und ihrer den Bolschewismus ablehnenden Haltung widmete. Im Anschluss daran stellte SVEN BRAJER (Dresden) die sächsischen Ereignisse des Jahres 1918/19 vor und analysierte die linken Rezeptionen des Aufstiegs der Bolschewisten innerhalb des „Roten Königkreichs“ Sachsen. JULE EHMS (Bochum) und RICHARD STOENESCU (Potsdam) schlossen das Panel mit einer zusätzlichen Betrachtung der Wahrnehmung innerhalb des deutschen Syndikalismus und Unionismus ab, wobei hier besonders der Vorwurf von deren Vertreterinnen und Vertretern, dass die Revolution schon deshalb gescheitert wäre, weil sie nicht dazu in der Lage gewesen war, den Staat per se zu überwinden, herausgearbeitet werden konnte. Die Positionen des ersten Panels wurden hier also auch jenseits der persönlichen Rezeptionsebene bestätigt, so dass für Deutschland eine Entwicklung zwischen Februar 1917 und 1919 konstatiert werden kann, im Zuge derer sich hoffnungsvolle Eurphorie und Sympathie in Enttäuschung und politische Ablehnung verwandelten.

Panel 5 sollte schließlich Perspektiven jenseits der deutschen Grenzen vermitteln, weshalb ALEXANDER FRIEDMAN (Saarbrücken) zunächst die Rezeptionsgeschichte der Russischen Revolutionen im Großherzogtum Luxemburg vorstellte. Die Ereignisse in Russland trafen zunächst auf fruchtbaren Boden, da die Wirtschaft Luxemburgs zwischen 1919 und 1921 von vielen Streiks betroffen war und sich die radikalen politischen Elemente des linken Spektrums, die durch die das Geschehen seit der Februarrevolution Aufwind erfuhren, 1921 schließlich die KPL gründeten. Für die Geschichte der Partei waren die russischen Ereignisse seither von immenser Bedeutung, insbesondere bei der Deutung der eigenen Geschichte. IBOLYA MURBER (Budapest) stellte im Anschluss daran die Rolle der Russischen Revolutionen für die Lebensläufe des Austromarxisten Otto Bauer (1881-1938) sowie des ungarischen Kommunisten und Führers der dortigen Räterepublik, Béla Kun (1886-1938), dar, wobei sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der jeweiligen Wahrnehmung der russischen Ereignisse dezidiert herausarbeitete. Nachdem REINER TOSSTORFF (Mainz) im Anschluss daran die Haltung der spanischen Anarchisten und Syndikalisten, die grundsätzlich, wie die der deutschen Linken, zwischen begeisterter Unterstützung und libertärer Ablehnung schwankte, vorgestellt hatte, analysierte FRANK JACOB (New York) Emma Goldmans (1869-1940) Wahrnehmung der Russischen Revolutionen zwischen ihrer Abschiebung nach Russland im Jahre 1919 und 1925. Dabei durchlief die bekannte Anarchistin einen ähnlichen Prozess wie viele andere linke Intellektuelle auch, wurde jedoch zudem von der Tatsache geplagt, dass viele Vertreter des linken Spektrums in England und den USA, zu denen sie intensive Korrespondenzen unterhielt, nicht an den russischen Realitäten, die sie aus eigener Erfahrung berichten konnte, interessiert, sondern vielmehr immer noch in realitätsfernen Wunschvorstellungen und Utopien verhaftet waren.

Abgeschlossen wurde die Tagung vom sechsten Panel, das sich mit historiographischen, didaktischen und musealen Perspektiven auf die Russischen Revolutionen befasste. VINCENT STREICHHAHN (Halle) untersuchte dabei die „Kontroverse Lenin-Luxemburg“ im Spiegel der Forschungen in der Bundesrepublik und der DDR seit dem Ende des Russischen Bürgerkrieges und konnte Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Diskurses anschaulich darstellen. Im Anschluss daran analysierte ANDREA BRAIT (Innsbruck) Narrative des Revolutionsgeschehens in deutschen und österreichischen „Geschichtslehrwerken“ und konnte zeigen, dass die Vermittlung der Ereignisse von 1917 selten so erfolgt, wie es dem Lehrstoff angemessen wäre. Die konzeptionelle Umsetzung bleibt oft hinter den Möglichkeiten zurück und ist dabei in vielen Fällen durchaus von fachlichen Mängeln geprägt, weshalb noch mehr Sensibilisierungsarbeit für die Bedeutung des historischen Faktors der Russischen Revolutionen erfolgen muss. Im Zuge dessen kommt dem Museum als außerschulischem Lernort besondere Bedeutung zu und KRISTIANE JANEKE (Berlin) stellte zwei Ausstellungen des Landesmuseums Zürich (24.2.2017-25.6.2017) und des Deutschen Historischen Museums Berlin (20.10.2017-15.04.2018) und deren Konzepte vor, um zu zeigen, wie die Russischen Revolutionen heute im Museum behandelt werden.

Insgesamt betrachtet kann anhand der verschiedenen Vorträge an beiden Tagen der Konferenz konstatiert werden, dass — gerade linke — Perspektiven auf die Russische Revolution sehr ambivalent ausfallen und die Ereignisse des Jahres 1917 zu durchaus heftigen Diskussionen und Kontroversen geführt haben, die sich bis heute, gerade im Hinblick auf die Auswirkungen derselben auf das kurze 20. Jahrhundert, das Zeitalter der Extreme, fortsetzen. Das Jahr 2017 wird hoffentlich die Diskussionen um 1917 neu entfachen, wobei nicht nur die Revolutionen per se, sondern auch ihre Pervertierungen in einer diktatorischen Herrschaft des Bolschewismus, die gerade vom linken politischen Spektrum kritisiert wurde, im Zentrum der Untersuchungen, und das aus möglichst globaler Perspektive, stehen sollten.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Frank Jacob (New York)

Panel 1: Die Russische Revolution und die Wahrnehmung der deutschen Linken

Riccardo Altieri (Würzburg / Potsdam): Luxemburg oder Lenin: Die unterschiedlichen Positionen Rosi Wolfsteins und Paul Frölichs zur Revolution in Russland

Andreas Morgenstern (Schiltach): Die Bolschewiki als Bremsklotz – die eurasischen Großraumwünsche der Sozialistischen Monatshefte (AT)

Tobias Hirschmüller (Eichstätt): Von der Abrechnung zur Annäherung. Die Auswirkungen der Revolutionen von 1917 auf das Russlandbild der deutschen Sozialdemokratie

Lutz Häfner (Bielefeld / Göttingen): Demokratie, Diktatur oder «Dekretinismus»? Russische revolutionäre Erfahrungsräume und ihre Erwartungshorizonte in sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Deutschlands, 1918 bis 1923

Panel 2: «Die Revolution und die Juden»

Carsten Schapkow (Norman, Oklahoma): Die Russische Revolution 1917: Ein Wendepunkt aus jüdischer Perspektive

Christoph Valentin (Münster): «Hauptsächlich das Werk von Juden»: Die Wahrnehmung der Russischen Revolution und der Sowjetunion durch die Apostolischen Nuntiaturen in Deutschland

Panel 3: Darstellung der Revolution in den Künsten

Anke Napp (Universität Hamburg): Massenmensch und Maschinenmensch: Die Angst vor der Sowjetkultur in deutschen Bildbändern von 1931-1934

Panel 4: Regionale und Soziale Perspektiven

Cornelia Naumann (München): «Eine russische Steppenfurie» Sarah Sonja Lerchs Agitation während der Januarstreiks 1918

Sven Brajer (Dresden): Reflektionen der «Oktoberrevolution» 1917 im ‚Roten Königreich‘ Sachsen

Jule Ehms (Bochum) / Richard Stoenescu (Pirna): Die Russische Revolution in der Rezeption des deutschen Syndikalismus und Unionismus

Panel 5: TransNationale Perspektiven

Alexander Friedman (Saarbrücken): Die Rezeption der russischen Oktoberrevolution im Großherzogtum Luxemburg

Ibolya Murber (Budapest): Österreich und Ungarn in revolutionärer Sogwirkung Russlands 1918-1919

Reiner Tosstorff (Mainz): Spaniens Anarchisten und Syndikalisten angesichts der russischen Revolution. Zwischen begeisterter Unterstützung und libertärer Ablehnung

Frank Jacob (New York): Emma Goldman und die Russische Revolution

Panel 6: Historiographische und museale Wahrnehmung

Vincent Streichhahn (Halle): Lenin und Luxemburg im Streit – Was bleibt?

Andrea Brait (Innsbruck): Umbrüche im Russischen Reich 1917: Narrative in österreichischen und deutschen Geschichtslehrwerken

Kristiane Janeke (Berlin): 1917. Revolution … Zwei Sonderausstellungen im Schweizerischen Nationalmuseum und im Deutschen Historischen Museum, Berlin


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