200 Jahre Radsportgeschichte – Von Teufelslappen, Sprinterzügen und Nachführarbeit

200 Jahre Radsportgeschichte – Von Teufelslappen, Sprinterzügen und Nachführarbeit

Organisatoren
Institut für Sportgeschichte Baden-Württemberg e.V.; Stadtarchiv Mannheim-Institut für Stadtgeschichte; Landesarchiv Baden-Württemberg
Ort
Mannheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.06.2017 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Markus Friedrich, Landesarchiv Baden-Württemberg; Jasmin Breit, Stadtarchiv Mannheim-Institut für Stadtgeschichte; Lothar Wieser, Institut für Sportgeschichte Baden-Württemberg e.V.

Als vor 200 Jahren der badische Forstmeister und Erfinder Karl Freiherr von Drais (1785–1851) mit seinem „Laufrad“ von Mannheim aus auf der Allee Richtung Schwetzingen fuhr, konnte er die spätere Erfolgsgeschichte seiner Erfindung nicht ahnen. Bereits ab Mitte der 1860er-Jahre setzte sich das „Bicycle“ nicht nur als Freizeit- und Mobilitäts-, sondern auch als Sportgerät durch. Die Entwicklung des Radsports ist daher ein integraler Bestandteil der allgemeinen Fahrradgeschichte. Aus diesem Anlass organisierten das Institut für Sportgeschichte Baden-Württemberg e.V. (IfSG), das Stadtarchiv Mannheim-Institut für Stadtgeschichte (ISG) und das „Sportarchiv“ im Landesarchiv Baden-Württemberg (LABW) gemeinsam eine Tagung. In acht Vorträgen wurden die spezifisch sporthistorischen Aspekte der Fahrradgeschichte untersucht. Dabei wurden die inhaltlichen Berührungspunkte zu Nachbardisziplinen wie der Technik- und Stadtgeschichte deutlich. Die negativen Auswüchse v.a. des Spitzensports wurden aus juristischer, pädagogischer und journalistischer Sicht gleichermaßen thematisiert. Obwohl es mittlerweile eine Vielzahl an Publikationen zur Radgeschichte gibt, wird die Literatur zum Radsport in erster Linie von den Enthusiasten getragen. Mit der Tagung sollte einerseits der Radsport historisch-kritisch betrachtet und zudem der Versuch unternommen werden, sich speziell einer Sportart – jenseits des Fußballs – zu widmen. Schließlich diente sie dem allgemeinen Austausch der sporthistorisch Interessierten.

ULRICH NIESS (Mannheim) begrüßte die anwesenden Ehrengäste sowie die Teilnehmer der Tagung. ERICH HÄGELE (Maulbronn) dankte der Stadt Mannheim für die gute Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der gemeinsamen Veranstaltung. Mannheims Oberbürgermeister PETER KURZ (Mannheim) ging in seinem Grußwort auf die Bedeutung der Drais’schen Jungfernfahrt für die Geschichte der Quadratestadt ein. CLEMENS REHM (Stuttgart) erläuterte die Rolle des Landesarchivs als dem „zentralen Ort für die Überlieferung des Sports“ in Baden-Württemberg. HEINER EHMER (Mannheim) als Gastgeber im John Deere Forum erinnerte an die bahnbrechenden Mobilitätserfindungen der Mannheimer Maschinenfabrik Heinrich Lanz AG, die 1956 in der Deere & Company aufging.

THOMAS KOSCHE (Mannheim) betonte in seinem Einführungsreferat, dass die Fahrradgeschichte, insbesondere die Radsportgeschichte, primär Technikgeschichte sei, was er anhand der Konstruktion vom Drais´schen „Ur-rad“ bis zum „Safety“-Niederrad erläuterte. Die sportliche Radnutzung war Antrieb für viele technische Innovationen wie die Entwicklung der Speichen, leichterer Rohrrahmen, Kugellager oder luftgefüllter Reifen. Der Referent wies darauf hin, dass das Fahrrad das schnellste Individualverkehrsmittel seiner Zeit gewesen sei. Mehrere Nationen hätten diese Erfindung für sich reklamiert. Insbesondere die 1890er-Jahre brachten Kosche zufolge zahlreiche technische Neuerungen hervor. Besonders das Sicherheitsniederrad stellte eine technische Revolution dar, denn – anders als bei den Hochrädern – konnten die Füße des Fahrers damit wieder den Boden erreichen, was wiederum Voraussetzung für eine sportlichere Nutzung des Rades war. Bereits bei den ersten Wettbewerben dominierten extreme Fernfahrten wie Paris-Rouen mit dem Tretkurbelrad (1869), Brest-Paris-Brest (1891) oder Wien-Berlin (1893), die die Zuverlässigkeit und Ausdauer von Maschine und Mensch demonstrieren sollten.

Als Experte zur Mannheimer Turn- und Sportgeschichte des 19. Jahrhunderts ging LOTHAR WIESER (Mannheim) der Frühzeit des Radsports in der Quadratestadt nach. Er konnte nachweisen, dass in Mannheim 1869 mit dem „Vélocipèdes-Club“ einer der ersten Vereine Deutschlands bestand. In den frühen 1880er-Jahren gründeten sich zwei rivalisierende Vereine, die mit Unterstützung der Stadtgemeinde eigene Rennbahnen anlegen konnten. Mannheim gehörte in dieser Zeit zu den Hochburgen des Radsports in Deutschland. Zu den Hauptaktivitäten der Vereine gehörten Radrennen auf Bahnen und Straßen, Tourenfahrten und Ausflüge, Korsofahren und Radpolo. Mit Oskar Berger beherbergte Mannheim in den 1880er-Jahren einen Weltmeister im Kunstradfahren. Bis zur Jahrhundertwende folgte eine Vielzahl weiterer Vereine, die jedoch überwiegend den Tourensport pflegten. Soziale Exklusivität und ein entsprechendes gesellschaftliches Vereinsleben seien für diese Vereine charakteristisch gewesen. In Mannheim erschien zeitweise das für Süddeutschland bedeutende Nachrichtenorgan der Allgemeinen Radfahrer-Union „Der Radtourist“. Mit sinkenden Radpreisen avancierte das Rad um die Jahrhundertwende zum Massenverkehrsmittel der Arbeiterschaft und fand als Sportgerät Verwendung in Vereinen der „Solidarität“. Mannheim war zu dieser Zeit Produktionsstandort gleich mehrerer Firmen, z.B. der Gebrüder Hess, der Drais-Werke und der „Sturm“-Fahrradwerke. In der Diskussion ging Wieser auf die zahlreichen Verbindungen zum aufkommenden Motorsport ein, in dem nun die „besseren Kreise“ ihre exklusive Spielwiese fanden.

JÜRGEN LOTTERER (Stuttgart) beschrieb die Rolle der (Rad-)Vereine als Teil der Stadtgesellschaft am Beispiel der Stadt Stuttgart. Auch dort seien die Vereine bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine „exklusive Veranstaltung von Kaufleuten“ gewesen und das Rad ein Symbol „zur Schau gestellter Fortschrittlichkeit“. Diese Vereine verknüpften sportliche und kulturelle Aspekte. Eine weitere Parallele zu Mannheim sei die enge Verbindung von Fahrrad- und Automobilkultur. Die Attraktivität des Fahrrads habe darauf beruht, dass es Modernität und Beschleunigung verkörpert habe. Jedoch dürfe man nicht vergessen, so der Referent, dass das Fahrrad sich zu einem der zentralen Verkehrsmittel gewandelt habe. Dieser Mobilitätszuwachs schuf einen öffentlichen Regelungsbedarf, der sich wiederum in der städtischen Aktenüberlieferung niederschlug – mit Verkehrsvorschriften, Registrierungspflicht, Produktions- und Handelsverordnungen, bis hin zu Ausnahmegenehmigungen während des Ersten Weltkrieges. Aus diesem Grund können Meldeakten, Fahrradausweise und sonstiges Schriftgut heute auch als Quellen zur Sport- und Mobilitätsgeschichte dienen. Das im Bürgertum „aus der Mode gekommene Rad“ fand mit sinkenden Preisen zunehmend auch in Arbeiterkreisen Verwendung, sei es als Verkehrsmittel, sei es als Sportgerät, z.B. im 1903 gegründeten Arbeiter-Radfahrerverein „Frisch Auf“. Noch in den 1920er-Jahren sei es möglich gewesen, Straßenradrennen neben dem Alltagsverkehr durchzuführen; das Fahrrad war Teil des öffentlichen Verkehrsraums. Eine Situation, die sich heute gerade in Stuttgart völlig geändert hat.

SEBASTIAN PARZER (Obrigheim/Baden) hat bereits früher zur Radsportgeschichte Mannheims geforscht. Nun stellte er die Vereinsgeschichte des RRC Endspurt Mannheim vor. Dieser Verein wurde 1924 als Zusammenschluss mehrerer älterer Mannheimer Radsportvereine gegründet. Fahrer wie Rudi und Willi Altig, Bernd Rohr oder Klaus May sowie als Trainer Karl Ziegler machten den Verein nach dem Zweiten Weltkrieg international bekannt. Sie fuhren in den 1950er- und 1960er-Jahren zahlreiche nationale und internationale Erfolge ein. Auch ohne die ins Profilager gewechselten Gebrüder Altig siegten Mannheimer Straßenfahrer in den späten sechziger Jahren bei zahlreichen Rennen. Der Vereine schaffte es aber nicht, diese goldenen Zeiten bis in die Gegenwart fortzuführen.

Der folgende Vortrag von LUDWIG ZIMMERMANN (Weingarten) führte die Zuhörer in die Region Oberschwaben. Er widmete sich dem Fahrrad als dem Sportgerät der Arbeiterschaft. Zimmermann zeigte auf, wie die katholische Kirche mit der „Concordia“ ein Gegenangebot zur sozialistischen „Solidarität“ aufbaute. Er stellte die spezifischen Disziplinen der Arbeiterradler vor, z.B. den Saalsport oder die Wanderfahrten. Die „Roten Radler“ seien auch im Rahmen der Agitation für ihre Partei tätig geworden. Zimmermann präsentierte eine Fülle an Dokumenten und Sachzeugnissen, die eindrucksvoll belegten, welche Rolle die Vereinskultur, gerade auch im ländlichen Raum, für den lokalen Zusammenhalt spielte. Der konfessionelle Hintergrund der „Concordia“-Vereine sei jedoch heute – wie auch beim sozialistischen Arbeitersport – mittlerweile selbst den Vereinsmitgliedern häufig nicht mehr bewusst.

Beschäftigten sich diese Vorträge v.a. mit der Epoche der Amateurradfahrer („Herrenfahrer“), so widmeten sich die drei übrigen Vorträge dem modernen Profiradsport, v.a. dem Aspekt des Dopings.

DIETER RÖSSNER (Tübingen) nahm sich der juristischen Seite des Radsports an. Er gab einen Einblick in die teilweise korrupten Strukturen im Profi-Radsport, die planmäßiges Doping erst ermöglichen. Demnach gebe es jedoch nicht eindeutige Täter- und Opferzuordnungen, vielmehr seien Sportler und Betreuer „Partner im Verbrechen“. Eine Ausnahme stelle lediglich Doping im Kinder- und Jugendbereich dar. Rössners Erfahrung zufolge beginne die Dopingkarriere häufig mit dem Übertritt vom Amateur- ins Profilager. In diesem Zusammenhang wies er auf die zweifelhafte Rolle von Ärzten mit ihrer „aktiven“ Beratung hin. Zudem stellte der Referent fest, dass der Sport heute als „Insel der Natürlichkeit“ betrachtet werde und dort verboten ist, was im Alltag erlaubt sei. Theoretisch gelte im Sport Chancengleichheit, die jedoch durch verschiedene Arten des Dopings untergraben werde: Technik-Doping, Leistungssteigerung durch chemische Substanzen und E-Doping. Rössner thematisiert zudem den Fall des Fahrers Stefan Schumacher, den er selbst verteidigt hatte. Dieser war bei der Tour de France 2008 positiv auf das Blutdopingmittel CERA (EPO) getestet worden und stand 2013 wegen Betrugs am Chef des Teams Gerolsteiner, Hans-Michael Holczer, vor Gericht. Die Verteidigungsstrategie sah vor, klar zu machen, dass der Teamchef nicht nur von Doping im Team wusste, sondern es zudem begünstigte. Das Gericht äußerte in seiner Urteilsbegründung Zweifel an der Aussage, dass Holczer nichts gewusst habe und sprach Schumacher frei. Dieses Urteil wurde damit zum Präzedenzfall im Sport. In der anschließenden lebhaften Diskussion wurde die widersprüchliche Haltung der Gesellschaft problematisiert, die einerseits Leistung fordere, andererseits (fast) jeden Preis dafür zu zahlen bereit sei.

GERHARD TREUTLEIN (Heidelberg) stellte in seinem Vortrag die Bedeutung von Präventionsmaßnahmen im Anti-Doping-Kampf heraus. Er kritisierte die übliche Darstellung, wonach stets „andere“ dopen. Er nannte hierbei den Umgang mit der Dopingvergangenheit in der DDR und der Bundesrepublik. Als langjähriger Experte auf diesem Feld resümierte Treutlein, dass Doping und Selbstmedikation ständige Begleiterscheinung im „Kameradenland“ des Profi-Radsports seien – beiderseits der Mauer. Die Situation sei leider häufig gekennzeichnet durch Leugnen und Wegschauen der Verantwortlichen sowie einer ungebrochenen Kontinuität von Doping-belasteten Sportlern und Funktionären und dies nicht nur im Radsport. Insofern sei zu beobachten, dass der Radsport aktuell als „Schmuddelkind“ fungiere, hinter dem sich andere Sportarten versteckten.

Wie eng Aufstieg und tiefer Fall im Sport zusammenhängen können, erläuterte EVI SIMEONI (Frankfurt) am Duell der beiden Ausnahmesportler Jan Ullrich und Lance Armstrong. Sie sah in diesem Duell gleichzeitig den gerechtesten als auch ungerechtesten Zweikampf der Radsportgeschichte. Simeonis Ansicht nach war Ullrich das größere Talent und Armstrong habe dies gewusst. So sei dieses Duell noch mehr angeheizt worden. Sie zeigte „unvergessliche Momente“ des Duells der beiden auf: Armstrong als „Asket und Diktator“ gegen die „Heldengestalt“ Ullrich, gleichermaßen aber auch „Gemütsmensch und phlegmatisch“. Die Radsportgeschichte kennt eine Fülle an Legenden und Mythen, an deren Entstehung häufig der Sportjournalismus großen Anteil hatte. Ullrichs Tour de France Sieg 1997, der erste deutsche Gesamtsieg bei der Tour, war ein Medienereignis. In dessen Folge erhielt der Radsport einen enormen Popularitätsschub, der sich freilich mit den folgenden Skandalen (Festina Affäre 1998, Dopingskandal Fuentes 2007 und Dopingaffäre Team Telekom 2007) ins Gegenteil verkehrte.

Moderiert wurde die Veranstaltung mit vielen Radsportlerzitaten garniert von Ulrich Niess (Mannheim) und Markus Friedrich (Stuttgart). Thema der Schlussdiskussion war unter anderem die Frage, welche Institutionen als warnende Stimmen fungieren könnten. Eine besondere Rolle komme einer kritischen Sportgeschichtsgeschichtsschreibung zu, die nicht nur auf „Sieg und Niederlage“ blicke, sondern vielmehr die strukturellen Bedingungen untersuche, unter denen Sport ‚gemacht‘ werde. Einen Beitrag hierzu, da waren sich die Teilnehmer einig, habe nicht zuletzt die eigene Veranstaltung zu 200 Jahren Radsportgeschichte geleistet. Dabei seien noch viele Felder offen: So habe die internationale Dimension zu den großen Radsportnationen, wie Italien, Spanien oder Belgien noch gefehlt. So fiel auch ein geplanter Vortrag zur Deutsch-Französischen Radsportgeschichte kurzfristig aus. Und nicht zuletzt hätten auch die ‚Randsportarten‘ des Radsports, wie Kunstradfahren oder Radpolo, eigene Vorträge verdient. Ein Tagungsband wird die Veranstaltung dokumentieren. Dieser wird dann um weitere Vorträge ergänzt werden. Er soll zum Jahresende erscheinen.

Konferenzübersicht:

Grußworte

Thomas Kosche (Technoseum Mannheim) „Technikgeschichte des (Renn-)Fahrrades“

Lothar Wieser (IfSG/Mannheim) „Ra(n)dnotizen aus Mannheim“

Jürgen Lotterer (Stadtarchiv Stuttgart) „Radsport in der Großstadt"

Sebastian Parzer (Obrigheim/Baden) „Titel, Rekorde und Begeisterung - Der "RRC Endspurt Mannheim"

Ludwig Zimmermann (Weingarten) „Concordia contra Solidarität – die Radlerkultur im schwäbischen Oberland“

Diskussion / Moderation: Ulrich Nieß (Mannheim)

Dieter Rössner (Tübingen) „Die Entstehung des Anti-Doping-Gesetzes – Erläutert am Fall Schumacher“

Gerhard Treutlein (PH Heidelberg) „Doping und Radsport“

Evi Simeoni (FAZ) "Ikarus fuhr Fahrrad - das Duell zwischen Jan Ullrich und Lance Armstrong"

Diskussion / Moderation: Markus Friedrich (Stuttgart)


Redaktion
Veröffentlicht am